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Glanz&Elend
Literatur und Zeitkritik


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Auf der Suche nach dem Schwung des Lebens

Slavoj Žižek fragt: »Was ist ein Ereignis?«

Von Peter V. Brinkemper




 

Die Fülle der heute global aus allen Richtungen und allen Wissensgebieten auf uns einprasselnden Nachrichten über reale Geschehnisse und kulturelle Events überfordert unsere Aufmerksamkeit und Einordnungsfähigkeit ins Alltagsleben. Wir befinden uns mitten im Big-Data-Gebirge, im Kampf der Ent- und Re-Kontextualisierung eines Lebens, das sich der eigenen Narration immer wieder beraubt sieht und dringend nach ihr verlangt. Wie mag es gelingen, den Life-Schwung wieder zu erlangen? Mit der Frage »Was ist ein Ereignis?« konzentriert sich Slavoj Žižek phantasievoll und erhellend auf den chaotischen Vorgangs- und Wirkungscharakter von Begebenheiten. Auf ihren aktuellen oder historischen Impuls als Eindruck, Struktur, Ergänzung, Widerpart, Zwischenfall und Störung im jeweiligen narrativen und erlebnisförmigen Dispositiv menschlicher Subjekte, die in ihrem biographischen und historischen Zeiterleben mit dem »Aufprall« und »Einschlag« des neuen Vorgangs in ihre Situation und mit der Übersetzung der noch undurchschauten Bedeutung zurechtkommen müssen.

Dabei ist die Frage nach der Kategorie und dem Kriterium der Plausibilität und der Priorität für Žižek von besonderem Belang. Mit der Wahl des Wortes »Ereignis« setzt sich der Autor von der Statik  standardisierter News und digitalisierter Informationen ab. Ihm geht es um Real Life, Turbulenz und Dynamik, um psychologisches Gespür für Phantasie und Irrtumsanfälligkeit, aber auch um denkerische Reflexion und Skepsis.

Ein »Ereignis« sei eine scheinbar schlichte und doch effektive Markierung, um Meldungen über Geschehnisse zu kennzeichnen und bestimmten Vorkommnissen unter ihnen subjektive oder sogar objektive Relevanz und Bedeutsamkeit zu verleihen. Allerdings sei das Wort »Ereignis« in seinem Gebrauch ein »amphibischer Begriff«. Damit beginnt Žižeks unterhaltsame Bastelstunde, die akademisch anmutende Ausführungen fast vermeidet – durch eine kurzweilige Vermischung der Beispiele, Ebenen und Begrifflichkeiten, die so selbst zu einem ereignishaften Panorama werden. Naturkatastrophen, Liebesaffären, ein Agatha-Christie-Mord im vorbeifahrenden Zug und die Komposition von Beethovens letzter Klaviersonate, die politischen Proteste auf dem Tahrir-Platz und die Entstehung des Film Noir – Žižek wundert sich bei dieser breiten Themenpalette darüber, wie ein realer, natürlicher Vorgang, eine politische Bewegung oder ein künstlerisches Werk oder eine gesamte Gattung zur Existenz und ins Dasein gelangen und wie sie den Erlebenden oder Nachdenkenden in seinem Hier und Jetzt beschäftigen und beeinflussen: Das Ereignis erscheint als ein überraschendes, außerordentliches oder auch wunderbares Phänomen, laut Žižek als ein »Effekt, der seine Gründe zu übersteigen scheint«. Žižek kreist die Logik und Alogik des Ereignisses aus einer Doppelperspektive ein: »transzendental« als erkenntnistheoretisch-philosophische Reflexion auf das jeweilige Subjekt und sein Verhalten zum Sein (u.a. nach Heidegger) und »ontologisch«-einzelwissenschaftlich mit Blick auf den Verlauf der Dinge selbst (mit den aktuellen Hintergrundannahmen der kosmologisch erweiterten Quantentheorie, der Hirnforschung und Evolutionstheorie (nach dem Muster von Stephen Hawking).
 

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In einem ersten Anlauf genießt Žižek die angestiftete Verwirrung. Er fordert den Leser auf, darüber nachzudenken, dass ein wirkungsvolles Ereignis sogleich eine Veränderung des Bisherigen mit sich bringt, und zwar entweder in der »Weise, wie die Realität uns erscheint« oder aber in einer »Transformation der Realität selbst«.  Žižek geht es darum, sich nicht an einzelnen Beispielen festzurennen, sondern allgemein die Überraschung, das Happening, den Auftritt des Neuen, den Charakter der eher leisen und behutsamen Novella (und nicht der plakativen Breaking News) in voller Breite und in einem gleitenden Verfahren vergleichend-analytisch »zu streifen« und der fast schon kinematographischen Bewegungs- und Vergänglichkeits-Dynamik der Ereignisse als gleichwohl wichtigen Impulsen »nahezukommen«. Im ersten der Exkurse wird das Verhältnis von Ereignis und Veränderung/Neujustierung des Rahmens der Weltwahrnehmung oder der realen Weltbewegung erörtert. Auch diese Überlegung ist nicht statisch, sondern dynamisch gemeint, das Ereignis gibt dem Rahmen einen Stupser oder erschüttert und sprengt ihn sogar. Žižek schont uns dabei keineswegs mit seinen weit gestreuten, hoch oder niedrig situierten Beispielen, er springt von Station zu Station: von der Simulation der angeblich noch intakten Vichy-Regierung, die nach der Invasion der Alliierten 1944 nach Sigmaringen in Süddeutschland verlegt wurde, über Donald Rumsfelds hölzern-dummdreiste Definition des Unbekannten (»bekanntes Bekannte und bekanntes Unbekanntes«) 2002, also kurz vor dem illegitimen Einmarsch in den Irak, über den fiktiv-realen Bühnenflirt der jungen Protagonisten in Janes Austens »Mansfield Park«, und der irrealen Beziehung Kelvins mit der phantasmatischen Wiedergängerin seiner verstorbenen Frau Harey in der Raumstation über dem superintelligenten, aber für Menschen erkenntnismäßig unzugänglichen Ozean von »Solaris« (Lem, Tarkowski) sowie der apokalyptischen Hochzeitsfest-Stimmungs-Verwirrung von Lars von Triers »Melancholia«, in der zu Wagners hypnotischen »Tristan«-Vorspielen ein wirklicher tödlicher Irrläuferplanet mit der Erde zu kollidieren droht und damit die depressive Stimmung der Braut zur einzig angemessenen Haltung angesichts der unabwendbaren Katastrophe macht. Žižek verdeutlicht, inwiefern Ereignis und Rahmen zueinander heterogen bleiben oder (kommerziell) versöhnlich aufeinander abgestimmt werden: so in Abrams (nicht Spielbergs) Sci-Fi-Thriller und Teenager-Liebesgeschichte »Super 8«, oder in Terence Malicks »The Tree of Life«, als Rückzug einer Familie, nicht nur angesichts der Hiobsbotschaft vom Tod ihres Sohnes, in eine kosmisch-religiöse »Pseudospiritualität«. In Neil Jordans »The Crying Game« und David Cronenbergs »M. Butterfly« schlägt das Liebesglück in Liebesirrtum um oder vereint sich mit ihm gar, wenn auf dem Höhe- und Wendepunkt die Liebe eines Mannes zu der jeweiligen Frau sich als Liebe zu einem als Frau verkleideten Mann erweist. Insgesamt wird für Žižek deutlich, wie komplex und differenziert die Verbindung und Trennung von Realem, Imaginärem und dem Symbolischem als Dimensionierung von Ereignis und Rahmung zwischen subjektiver, sozialer und objektiver Erwartung und Erfüllung, Hoffnung und Enttäuschung, Hingabe und Widerstand ausfallen kann.
 

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Im zweiten Kapitel »Felix Culpa« entgleitet Žižek stellenweise das Niveau, wenn er die Frage des vermeintlichen Erst- und Uranfangs von Ereignissen mit den Rechtfertigungs-Arabesken des genuin Bösen verbindet. Das Böse erscheint in Žižeks deftiger psychoanalytischer Theatergeste als Perversion des Guten und als ursprünglichere Quelle und Anlass der Erlösung, unter Bezug auf Platon, Tertullian, Wagners »Parsifal« und Kierkegaard. Der Autor lässt seine Exkurse unter anderem in der kalauernden Misogynie eines australischen muslimischen Geistlichen gipfeln, der 2006 modern auftretende Frauen mit einer fauligen Metapher als »unverhülltes Fleisch« und Katzenfutter bezeichnete, das Männer zu »hilflosen« Vergewaltigern mache. Die genüssliche Art, den Sündenfall (wie den Urknall und die Austauschbeziehungen zwischen Teilchenexistenz, geliehener Energie und Übergang aus dem Nichts) als (psycho-) religiöses Phantasma von allen Seiten zu beschnuppern, steht hier im Widerspruch zu der distanzierten intellektuellen Behauptung, das solche Ur-, Grenz- und Extrem-Ereignisse nur »rückwirkende Illusion« seien. Diese Ansicht würde aber dafür sprechen, dass weder das Böse noch das Gute als Urpole zu betrachten sind, sondern dass einzig die Wechselwirkung ein logisches Primat hat.
 

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Cleverer verfährt Žižek in Kapitel Drei, wenn er die aktuelle Neuroforschung, massiv vom Militär unterstützt, kritisch als einen »naturalisierten Buddhismus« charakterisiert, deren Experimente nur scheinbar auf der Jagd nach einer Erleuchtung sind, in Wahrheit aber von einer Ich-losen Struktur und der Entleerbarkeit und Manipulierbarkeit des Bewusstseins ausgehen (allerdings mit dem Ziel der belieben Um- und Neuprogrammierung). Der Autor schlägt hier zwei Fliegen mit einer Klappe: Modewissenschaft und Modereligion konvergieren in psychologischem Quietismus und sozialtechnologischer Kontrolle. Dagegen plädiert Žižek nicht nur psychoanalytisch sondern auch philosophisch-ethisch für die Stärkung eines für sein Erleben und Tun verantwortlichen Subjekts. Nur in dieser Art von aktivierender Wechselwirkung sei auch ein Ereignis eben ein solches, eine Bezugsgröße für ein real wahrnehmendes und reaktionsfähiges Individuum und ein Anstoß für die biographische Veränderung seines bisherigen Erlebnis- und Handlungskreises.
 

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Orthodoxer mutet das vierte Kapitel an, wenn es Platon, Descartes und Hegel als die drei Hauptphilosophen eines nicht zuendegedachten Ereignisses firmieren: Žižek weiß, dass er mit ihnen fast apokryph gewordene Denker und Feindbilder der Marxisten, Liberalen, Existentialisten, Empiristen, Hirnforscher, Sprachphilosophen, Dekonstruktivisten wie Schießbudenfiguren aufstellt. Alle drei Philosophen seien immer noch ein Ereignis und Ärgernis in Form eines in die Jetztzeit hineinragenden unaufgearbeiteten rationalistischen Wahnsinns, der Wahn der sokratisch-dämonischen Ideen-Liebe (wobei die Ideen letztlich keine Jenseitsgebilde sondern nur Strukturierungen der Realität sein), das radikale cartesische Cogito im Dunkel des Weltzweifels und als authentische Zurückgezogenheit des intuitiv-existentiellen Denkens auf sich selbst, sowie Hegels absoluter Idealismus als letztlich ereignishafte Gesamtbewegung des Subjekts und seines dialektischen Denkens im konkreten Prozess des geschichtlichen Werdens, hinter den es auch für die modellhaft abstrahierende dialektische Dynamik kein Zurück gebe, wenn sie nicht in mechanischen Dogmatismus zurückfallen wolle.
 

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Im fünften Kapitel widmet sich Žižek zwischen wilden und zahmen Filmen, Themen und Formen: Moses’ vorsichtige Politik gegenüber dem brennenden Dornbusch, die pubertäre Found-Footage-Katastrophenkomödie »Project X«, Catherine Breillats didaktisches Sex-Liebes-Entzugs-Lehrstück »Romance XXX«, Hitchcock und Haiku einmal mehr der struppigen und von Täuschungen durchzogenen Lacanschen Trias des Realen, Symbolischen und Imaginären und der delikaten Balance von real aufscheinendem Objekt, strukturbildenden, regelsetzenden, narrativen Aussagen und der distanzierten Ereignis-Wahrnehmung und Interpretation.
 

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Das Ungeschehen- und Rückgängigmachen von Ereignissen in Kapitel Sechs enthält mannigfaltigen sozial-politischem Sprengstoff: Während zuvor bereits der poröse, dynamische und zeitgebundene Charakter von Ereignissen deutlich wurde, geht es nun darum, wie massiv auch epochal prägende Geschehnisse in ihrer Grundlage und Bedeutung zurückgedreht oder annulliert werden können. Rossinis Entpolitisierung von »heißen« Opern-Libretti durch Verlegung der Handlung in vorrevolutionäre Tage aufgrund der Zensur der nachnapoleonischen Restauration; die Unterstellung niederträchtiger Motive bei Interaktionen im öffentlichen oder im unbeobachteten Raum (am Beispiel von Alltagssituationen, bei Brecht: »Die Ausnahme und die Regel« und in einem verzerrten Rechtsprechungsfall in China), die Billigung von Folter (sogenannten erweiterten Verhörmethoden) als psychologisch differenzierter Hollywood-Mainstream (Kathryn Bigelows »Zero Dark Thirty«), politischer Mord als Applaus-Objekt in einer öffentlichen Talkshow in Indonesien (vgl. Joshua Oppenheimers und Christine Cynns Dokumentarfilm »The Act of Killing« 2012), die Demontage der europäischen Demokratie im EU-Mitgliedsland Ungarn unter Orbán.

Fazit: Die Einschätzung der Ereignishaftigkeit von Ereignissen ist eine heikle Angelegenheit, sie ist an deren Inhalt und Struktur, an den weiteren und engeren Kontext und die jeweilige korrespondierende Situation und Kondition der eventuell betroffenen Subjekte gebunden, an ihre Anschlussbereitschaft, Wahrnehmungsfähigkeit und Tatkraft, an die Zurückhaltung oder das beherzte Eingreifen, an das glückliche Gelingen oder den tragischen Irrtum im Verstehen, Reagieren und Erinnern unabhängiger, zeitsensibler und dialektisch denkender Subjekte, in der Liebe, in der Politik und im gewaltfreien Leben und Sterben. Die derzeitige krisenhaft verfahrene Situation des Spätkapitalismus vereitele die Dynamik subtil weiterführender Ereignisse, sie fördere den Kreislauf einer horizontlosen Gegenwart und betreibe die Regression und Annullierung bestimmter übergreifender Ereignisqualitäten, die gestern noch zeitlose Geltung zu haben schienen. Žižeks Buch stellt eine Fundgrube der polychronologischen und polypolitischen Anschauung dar, die sich nicht auf die üblichen Schienenwege und Einbahnstraßen automatischer Revolutionen, die keine sind, festlegen lässt. Nur die durchgeschmuggelten Ereignisse sprengen das heutige System im Kopf und in der Wirklichkeit auf.



Artikel online seit 03.01.15
 

Slavoj Žižek
Was ist ein Ereignis?

Aus dem Englischen von Karen Genschow
S. Fischer
€ 16,99 | € (A) 17,50 | SFR 24,50
978-3-10-002224-0
Leseprobe

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