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1968 - Ein Mythos wird dekonstruiert

Philippika. Anklage. Selbstbezichtigung. Kalkulierte Provokation?
Gregor Keuschnig kommentiert Götz Alys Abrechnung mit der 68iger-Generation


Götz Alys "Unser Kampf 1968" (im Schmutztitel: "Unser Kampf 1968 – ein irritierter Blick zurück") kommt vor allem auf den ersten Seiten mit schier atemlosen Furor daher. Da ist von luxorierenden Jugendexistenzen die Rede, die bis ins hohe Alter ihre Mythen pflegen. Oder vom Parasitenstolz einer Generation, die ihre revolutionsselige Sturm- und Drangzeit als Geschichte einer besseren Heilsarmee verklärt und sich noch heute rühmt, seinerzeit Sozialhilfe erschlichen zu haben. Che und Meinhof als Maskottchen eines Sentimentalstalinismus.

Am Anfang zerpflückt Aly mit polemisch-scharfen Wortkaskaden das mythische Geraune jener Altachtundsechziger, zu denen er sich selber zählt (und woran er keinen Zweifel lässt), die sich heute ein Ferienhaus in der Toskana gönnen, mit der ihnen eigenen, selbstgerechten Hochnäsigkeit (allerdings grundlos) auf die DDR-Intelligenz hinunterschauen, die sie selber 1990 "abgewickelt" haben, um – endlich! – in den Genuss der seit langem ersehnten Pöstchen zu kommen: Die verspielten Wohlstandsrevoluzzer hatten ihre Umsturzphantasien nie zur Tat werden lassen. Jetzt profitierten sie vom Umsturz der Anderen. Die untergegangene DDR konfrontierte die Achtundsechziger – nicht zuletzt mit ihren marxologischen Formulierungen - an vergangene Zeiten, die sie für sich schon längst überwunden hatten. Die Westlinken waren angeekelt von diesem déjà-vu ihrer eigenen Unzulänglichkeiten. Die Ostdeutschen hielten den Spiegel parat, in dem sie [die Westlinken], falls sie nicht einfach wegsahen, vor allem eines erkennen mussten: den totalitären Charakter ihrer früheren Weltanschauung.

Aly mittendrin
Der Autor hat wenig Schmeichelndes für die altgewordenen Salonlinken übrig, die ihre politisch-gesellschaftlichen Gesinnungshavarien als Kollateralschäden eines revolutionären Rebellentums idyllisieren und Terrorgruppen wie die RAF oder besonders unsympathische Einzelpersonen wie Andreas Baader heute als Sündenböcke benutzen, mit deren Hilfe von den eigenen Schandworten und –taten abgelenkt wird (bei dieser Gelegenheit erfahren wir, dass Aly einmal eintausend Mark "gewaschen" hat).

Das hat natürlich mit dem pomadigen und unhistorischen 68er-Bashing eines Kai Diekmann nichts zu tun. Aly verurteilt die insurgenten Umtriebe an sich nicht – deutlich schildert er die drohenden Erstarrungen des restaurativen Geistes der Adenauer und Erhard-Zeit und erkennt sehr wohl die Notwendigkeit politischen und gesellschaftlichen Umdenkens. Was jedoch vehement bestritten wird, ist die epochale Veränderung, die im Nachhinein – und nicht ohne Zutun der Protagonisten (und der Gegner – man sieht das exemplarisch an Diekmann) – den Achtundsechzigern zugeschrieben wird.

Diese Dekonstruktion wird auf drei Ebenen simultan vorgenommen: Erstens wird aufgezeigt, welche gesellschaftlichen und politischen Veränderungen seit der Grossen Koalition 1966 und erst recht mit der sozial-liberalen Koalition 1969 angestossen wurden (wobei der Fokus nicht auf die seinerzeit so vehement bekämpften "Notstandsgesetze" gerichtet bleibt). Desweiteren zeigt Aly die autoritären und antidemokratischen Strukturen innerhalb der revolutionären Gruppen (hauptsächlich deren Wortführer) auf und deren Immunität totalitärer Umtriebe (und Ideologien) gegenüber und zum dritten beschreibt er seine damaligen persönlichen Aktionen und analysiert diese lakonisch und unsentimental. 

Immer wieder flechtet Aly seine Handlungen, Motivationen, Denkrichtungen – und die damit einhergehenden Desillusionierungen ein (als er dann zweifacher Vater war, hiess es lapidar, Revolution könne man nicht mit Kindern machen). In dem Kapitel über den fahrlässig-verklärenden Maokult der Linken stellt er sich die Frage, die diese Generation – der Legende nach - ihren Eltern gestellt hatte: Warum habt ihr das nicht gewusst? Und da Aly Zeitzeuge ist, stellt er fest: Man konnte es wissen – problemlos. Und dabei rehabilitiert er bei dieser Gelegenheit den Politikwissenschaftler Jürgen Domes (der am Otto-Suhr-Institut der FU Berlin lehrte – der Uni, an der auch Aly studierte), der schon sehr früh die Schrecken der Kulturrevolution benannte, als die Mehrzahl diese noch als emanzipatorischen Akt feierten (und Domes als Reaktionär denunzierten).  

Gartenlaube für gehobene Stände
Aly seziert die Rhetorik von Dutschke et. al., referiert über die Zirkelschlüsse der "Rätedemokraten", stürzt sich mit lustvoller Destruktion auf das seinerzeit so sakrosankte "Kursbuch" welches er als eine Art Gartenlaube für die gehobenen Stände der Neuen Linken apostrophiert, zitiert (zugegeben) blöde Gedichte von Peter Schneider und F. C. Delius, geisselt Enzensbergers Kommunismus- und Maohymnen, prangert die Worthülsen der SDSler an, jongliert mit deren rhetorischen Kampfbegriffen und beschreibt die Karriere und Transformationen der Mao-KPDler seit Ende der 70er Jahre.

Das alles ist gekonnt, pointiert und wird durchaus auch argumentativ vorgetragen. Und weil Aly (unter anderem) Zugriff zu den Bundesarchiven des Innen- und Justizministeriums, des Kanzleramts und auch des Bundesamts für Verfassungsschutz bekommen hat und hier aus dem Vollen schöpfen kann, gibt es auch einige neue Erkenntnisse, insbesondere was interne Schreiben in den Regierungsbehörden angeht.

Rudi Dutschke, Passbildautomat

So zeigt der sogenannte "Staritz-Bericht" über ein konspirativen Treffen an zwei Tagen im Juni 1967, an dem ein sogenannter "Machtergreifungsplan" von Dutschke, Semler, Peter Schneider, Bernd Rabehl (der heute ein Freund der NPD ist), Wolfgang Lefèvre und einigen anderen entworfen wurde, eine gewisse Kreativität. Man strebte mit West-Berlin (dem Zentrum der "Bewegung") tatsächlich eine Sezession in Form eines Freistaates  nach dem Muster Hongkongs an (ein "Stadtsowjet" sollte implementiert werden). Ferner plante man, in einem Zeitraum von fünf bis zehn Jahren eine Massenbewegung zu formieren, die das bestehende System der Bundesrepublik sukzessive unterwandern sollte. Der Plan dokumentiert exemplarisch die latent totalitäre und antidemokratische Haltung der sich als Elite verstehenden Revolutionäre. 

Die Mythen der heutigen Meinungsführer
Zum heutigen "taz"-Leitartikler Christian Semler vermerkt Aly nicht nur dessen Elogen auf Mao und Pol Pot (bis weit in die 70er Jahre hinein), sondern auch seinen Artikel von 1974 anlässlich des Rücktritts von Willy Brandt mit der Schlagzeile "Brandt gescheitert – das Gespann der Volksfeinde wird ausgewechselt". Thomas Schmid, seinerzeit auch ein Vordenker der Rebellen und heute Chefredakteur der "Welt" (einem Springer-Blatt), ist für Aly ein Spätbekehrter und Erbschleicher. Und für Enzensberger gelte immer noch das Habermas-Zitat aus dem Jahre 1968, als dieser ihn portraitierte als "zugereisten Harlekin am Hof der Scheinrevolutionäre, der, weil er so lange unglaubwürdige Metaphern aus dem Sprachgebrauch der zwanziger Jahre für seinerzeit folgenlose Poeme entrichten musste, nun flugs zum Dichter der Revolution sich aufschwingt – aber immer noch in der Attitüde des Unverantwortlichen, der sich um die praktischen Folgen seiner auslösenden Reize nicht kümmert." Und auch die inzwischen zu Ikonen stilisierten geistigen Ziehväter der Rebellion – allen voran Herbert Marcuse, dem er in der Verachtung der pluralistischen Moderne explizit Parallelen zu Heideggers Denken unterstellt  – kommen nicht gut weg.    

Alys Polemiken wider diejenigen, die heute den aufgeklärten Meinungsführer abgeben, haben etwas Erfrischendes. Und auch manches heute noch lieb gewonnene Freund-/Feindbild wird attackiert. Etwa das vom "bösen" Kanzler Kiesinger, seines Zeichens NSDAP-Mitglied und daher gern genommen. Philipp Gassert zitierend zeigt er allerdings, dass Kiesinger sehr wohl ein reales Interesse und rudimentäres Verständnis für die Revoluzzer hegte und sich mit dem SDS treffen sollte (freilich unter der Bedingung der Gewaltlosigkeit, was dann flugs dafür herhalten musste, dass es nicht zur Begegnung kam). Kiesingers Empathie für die Aufständler war grösser als beispielsweise die der (scheinbar so liberalen) SPD-Koalitionäre Willy Brandt und Helmut Schmidt, die eher auf der Seite (des späteren Bundespräsidenten) Karl Carstens und des baden-württembergischen Ministerpräsidenten Filbinger standen und eine harte, durchgreifende Hand forderten. Insgesamt war das politische Establishment weder auf die Vehemenz noch dem Zeitpunkt noch auf die Methoden der Achtundsechziger gefasst. Entsprechend fahrig fielen auch die Reaktionen aus.

Die Achtundsechziger rannten offene Türen ein
Alys These: Die Politik und die Staatsorgane waren spätestens ab der Zeit der grossen Koalition besser (und weiter) als die Achtundsechziger – und deren Geschichtsapologeten bis zum heutigen Tage – dies wahrhaben wollten. Die Rebellierenden bezeichneten den Staat…als post-, wahlweise als präfaschistisch oder vage als (tendenziell) faschistoid. Aly verortet jedoch das nazistische Restgift weniger in den Staatsorganen bzw. -repräsentanten als in der Mehrheitsgesellschaft. Das Volk pflegte den keifigen Ton und das gespannte Verhältnis zur Idee der Freiheit. Hierüber, so die These, erheben sich nonchalant die Rebellierenden und züchten lieber ihre Feindbilder, statt sich den Realitäten zu stellen.

Das Aufkommen der Revolte sei durch das Verschweigen der Nazivergangenheit  begünstigt worden? Das Gegenteil ist richtig. Aly zählt –zig Gerichtsverfahren auf, die Mitte/Ende der 60er Jahre aufgenommen wurden und die nationalsozialistischen Verbrechen sukzessive thematisierten. Der Studentenprotest irrte auch deshalb ins Besinnungslose ab, weil in der Öffentlichkeit und von Staats wegen in den Schulen immer intensiver über den Mord an den Juden geredet und informiert wurde. Aly geht sogar so weit zu behaupten, dass die Aufarbeitung der NS-Verbrechen durch die akademische und politische Elite dazu geführt hat, dass die "neue Linke" diese deshalb nicht zur Kenntnis nehmen wollte.
Das Problembewusstsein für durchgreifende Reformen im Hochschulwesen sei durch die Achtundsechziger geschaffen worden? Seit der Grossen Koalition stieg die Studentenanzahl an – und auch die Arbeiterkinder konnten studieren. Sexuelle Befreiung der Frau? Aly entlarvt das Macho-Gehabe der männlichen, libidinös durchsetzten Protagonisten, die ihre Promiskuität als revolutionär ausgaben (Bumsphallera) und weist den wahren Ruhm dem Erfinder der Anti-Baby-Pille zu.

Furios seziert Aly den ethischen Rigorismus der Revolutionäre, die einseitige Fokussierung auf den Vietnamkrieg mit der Folge der Ausblendung so vieler anderer Stellvertreterkriege. Damit einher diagnostiziert er (das ist nicht unbedingt originell) einen virulenten Antiamerikanismus (letztlich gespeist aus unerwiderter Amerikaliebe), den er als gegenaufklärerischen Ersatzprotest begreift und der in der "Gleichung" "USA – SA – SS" eskaliert, und – später dann durch die Fokussierung auf die palästinensische Befreiungsorganisationen wie die PLO -  auch noch einen linken Antisemitismus, den er (die DDR durchaus einbeziehend) als Form der Schuldübertragung auf die Opfer der deutschen Rassen- und Vernichtungspolitik interpretiert. Und das, obwohl er auch Zitate des SDS bringt, die zwischen antizionistischer und antijüdischer Haltung differenzieren wollen.
Dass die Protestler einerseits die USA als faschistischen und imperialistischen Staat bezeichneten, andererseits jedoch die amerikanische Kultur weiter "angesagt" blieb, ist keine besonders ingeniöse Feststellung. Und reichlich übertrieben scheint es, wenn er bei Antje Vollmer aufgrund einer Kritik an Marcel Reich-Ranicki Mitte der 90er Jahre die Residuen des Antisemitismus der Achtundsechziger nachweisen will (Vollmer mag er wirklich nicht, was dann ein wenig den Blick trübt).

Der schwere Stand der Widerständler
Als Kontrast werden etliche intellektuelle Widerständler gegen die Rigoristen angeführt: Neben den leidlich bekannten Persönlichkeiten wie Habermas, der früh von der Militanz abgestossen war, Horkheimer (der den Antiamerikanismus als "Pro-Totalitarismus" empfand) und  Erwin K. Scheuch, der eine "böse historische Kontinuität der Vergewaltigung des Mitmenschen aus Gesinnung" beobachtete, zitiert Aly auch weniger prominente Intellektuelle, wie (besonders ausführlich) Richard Löwenthal, der u. a. durch den teilweise latenten Antisemitismus schockiert war und aus seinen biografischen Erlebnissen heraus unangenehm berührt war, Ernst Fraenkel und den Philosophen Wilhelm Weischedel.

Eine angebliche "Errungenschaft" der Achtundsechziger nach der anderen wird entlarvt, relativiert und – meistens – als mythische Überhöhung präsentiert. Aly polemisiert und argumentiert gegen das Märchen der Aufklärungsrhetorik im Bezug auf die NS-Vergangenheit. Die sich so politisch gebenden Revolutionäre waren in Wirklichkeit blind nicht nur der Vergangenheit gegenüber, weil sie beispielsweise den Nationalsozialismus zum Faschismus verdünnten und die sozialrevolutionäre Dynamik des Nationalsozialismus nicht wahrnehmen wollten, sondern auch taub, was die Möglichkeiten und Chancen in  der aktuellen Politik der sozial-liberalen Koalition betraf. Ihr Kampf spielte sich in den Puddingbergen des Schlaraffenlandes ab. Die Mehrheit war aus gut-bürgerlichem Elternhaus (wie seinerzeit durchgeführte Umfragen zeigen). Von den damals rund 280.000 Studenten waren in den besten Zeiten ca. 2.500 im SDS organisiert. Aus eigener Anschauung beschreibt Aly bereits 1969 die beginnende Institutionalisierung der "Revolution" und der Revoluzzer – entweder band man sich in bestehende Strukturen ein oder implementierte eine Hierarchie inklusive Bürokratie.

Der kalkuliert-provokante Vergleich
Und all diese Einwände, Zurechtrückungen und Klärungen sind ja erhellend, interessant und durchaus – im ein oder anderen Fall –  decouvrierend. Und das Aly sich selber mit in die Irrtumszone begibt, mehrfach wir sagt, statt ein einfaches "die" ehrt ihn. Es ist auch nicht der Punkt, geirrt zu haben. Es ist die noch heute betriebene Verklärung des Irrtums, die Aly umtreibt. Gegen viele, auch einem breiten Publikum bekannte Persönlichkeiten (neben den bereits angesprochenen "Meinungsführern"), stichelt er. Etwa Fritz J. Raddatz (damals stellvertretender Leiter des Rowohlt-Verlages, der ausdrücklich "wichtigeres" zu übersetzen und zu verlegen hatte als Raul Hilbergs "Die Vernichtung der europäischen Juden", welches heute als Standardwerk gilt) oder Sebastian Haffner, der einige revolutionäre Büchlein über Gebühr lobte. Und trotzdem hätte sein Buch nicht diese Wirkung gehabt, wenn nicht der Vergleich gekommen wäre. Ein Vergleich, der stillschweigende Vereinbarungen untergräbt und ad absurdum führt. Ein Vergleich, der ins Mark trifft und die Meinungsführer wie waidwunde Platzhirsche wild um sich schlagen lässt.

Im letzten Drittel, den Leser gut vorbereitend und entsprechend in Stimmung versetzt (auch mit einer Kapitelüberschrift wie Kraft durch Freude, Lust durch Aktion; den Buchtitel nicht zu vergessen!), holt Aly zur ultimativen Gegenüberstellung aus (und er scheut sich nicht, Hannah Arendts "Elemente und Ursprünge totalitärer Herrschaft" als Kronzeugin anzurufen). Kurz gesagt: Die deutschen Achtundsechziger [knüpften] an den Aktionismus ihrer Dreiunddreissiger-Väter an. Die Dreiunddreissiger sind für Aly diejenigen, die im nationalsozialistischen Studentenbund ab Ende der 20er Jahre die NS-Ideologie eines Baldur von Schirach nicht nur mittrugen, sondern in das Land tragen sollten. Sie sind die Eltern der Achtundsechziger; es sind – so Aly – die zwischen 1910 und 1922 geborenen.

Zwar heisst es am Anfang, dass der Blick auf die Schnittmenge…nicht auf die Gleichsetzung von Rot und Braun [ziele] (die Kritiker Alys lassen diesen Einschub gerne weg), aber es geht ihm sehr wohl darum, die Ähnlichkeiten der Mobilisierungstechnik, des politischen Utopismus und des antibürgerlichen Impetus herauszuarbeiten. Seitenlang zitiert Aly zu diesem Zweck aus Schirachs Propaganda, um schon in der Sprache Verwandtschaften, ja Übereinstimmungen festzustellen. Hier wie dort sprach man von der "Bewegung", hier wie dort ist die Feindfigur der Spiesser. Und auch wenn die "LTI"-Attitüde ein bisschen grosspurig daherkommt - die Parallelen sind natürlich sichtbar. Auch was die (gemeinsamen) Feindbilder angeht, z. B. die "Scheiss-Liberalen". Auch die Achtundsechziger denunzierten die vorsichtigen, differenziert argumentierenden Pragmatiker als "zerstreute Kompromissmenschen". Und sicherlich hat Aly recht, wenn er den Revolutionären eine Geschichtsvergessenheit oder, besser noch, Ignoranz unterstellt. Denn, so eine gelungene Sentenz, wo der Irrsinn regiert, sind Differenzierungen überflüssig. (Und so richtig hat sich das ja immer noch nicht geändert.)

Aber Aly schiesst in toto über das Ziel hinaus. Wenn er die Forderungen nach einer umfassenden Hochschulreform durch den nationalsozialistischen Studentenbund mit den Forderungen der Studentenrevoluzzer von Achtundsechzig gleichsetzt (wobei er die Differenzen sehr wohl erwähnt) oder die Parole "Einen Finger kann man brechen - fünf Finger sind eine Faust" analog zu Unsere Ehre heisst Treue setzt und somit den SS-Wahlspruch nur leicht paraphrasiert – in diesen Momenten ist Aly von seinen eigenen Thesen offensichtlich derart überwältigt, dass er in blosse Rabulistik abgleitet. Und wenn er gar konstatiert, dem nationalrevolutionären Schwung sei es, wie den Achtundsechzigern, darum gegangen, die  "Erbärmlichkeit alter ergrauter, erfahrener Männer" zu überwinden und diese (nazistische) Formulierung im rustikalen "Trau keinem über dreissig" übernommen sieht, so irrt er eindeutig, denn dieser Spruch wird Jack Weinberg zugeschrieben, der ihn bereits Mitte der 60er Jahre in Berkeley/USA prägte (so Wolfgang Kraushaar Achtundsechzig – Eine Bilanz; Aly zitiert übrigens aus etlichen anderen Kraushaar-Büchern).

So stellt sich die Frage: Warum ausgerechnet dieser Vergleich? Warum nicht eine Konfrontation zu den kommunistischen Strassenkämpfern der Weimarer Republik oder – später - den Stalinisten und Maoisten dieser Welt? Warum diese dann doch fast billige, dem Autor nicht angemessene, Provokation? Dient sie letztlich nur, um in der Fülle der Epitaphe auf die Achtundsechziger Gehör zu finden?
Werden nicht längst Parallelen zwischen "rechten" und "linken" Extremisten in der Politikwissenschaft behandelt? "Vor der deutschen Zipfelmütze hat sich noch nie jemand gefürchtet, wohl aber vor dem Furor teutonicus, der deutschen Wildheit und Besessenheit, unserer Radikalität und Unfähigkeit zum Kompromiss" - so wird Wilhelm Hennis zitiert, der dies bereits 1968 feststellte. Rennt da jemand nicht offene Türen ein?
Oder sind Alys generationspsychologische Deutungen letztlich nur wieder Fortführungen dessen, was er selber geisselt? Diese fehlende menschliche Wärme, die er den Eltern der Achtundechziger attestiert – unter Berücksichtung der Tatsache, dass ihr Wertesystem nach 1945 zusammengebrochen war – ist nicht diese fehlende menschliche Wärme, die dann auf die Kinder übersprang auch heute federführend (im wörtlichen Sinne) bei dieser Abrechnung? War das der psychotherapeutische Ratschlag, den Aly angenommen hat, um seinen Selbsthass zu "überwinden" (auch das so eine Floskel aus der Zeit)?

Die Achtundsechziger waren keine homogene Gruppe
Am Ende weiss Aly: Die Achtundsechzigerrevolte nahm ihren heillosen - sic! - Verlauf, weil in der alten Bundesrepublik der ideelle Kern fehlte, den eine freie Gesellschaft braucht. Die kohäsiven Kräfte erwiesen sich als zu schwach, und die aufbegehrenden Neurerer wurden – vorübergehend – zum seitenverkehrten, totalitären Abklatsch des Alten. Die "Zwischengeneration", die "Fünfundvierziger" (Hans-Ulrich Wehler), die Aly (auch das schon wieder eine kleine Provokation) die Generation Kohl nennt, diejenigen, die ihre Ausbildung und ihren beruflichen Aufstieg…unter extrem schwierigen Bedingungen im zerstörten, demoralisierten Deutschland begonnen hatten, waren letztlich diejenigen, die die Revolte der Achtundsechziger, der neuen Wohlstandskinder, von Natur aus mit grosser Skepsis betrachteten und 1968 zu den angehenden Leistungseliten gehörten. Ihr Weg war ein anderer – ein Weg, den ihnen dann später die Achtundsechziger im "Marsch durch die Institutionen" nachmachten. 

Aly will aber zuviel. Indem er die "Bewegung" als deutsches Phänomen isoliert betrachtet und die simultanen Entwicklungen beispielsweise in Frankreich – und vor allem die Ursprünge in den USA - kleinredet oder gar verschweigt (in Frankreich flüchtete de Gaulle immerhin für einige Tage aus Paris ob der Unruhen), betreibt er noch einmal das Geschäft derer, die er so vehement angreift: Er postuliert eine Singularität, obwohl es eigentlich um eine internationale Szene handelte (freilich mit historisch bedingten unterschiedlichen Voraussetzungen). Aber auch die Franzosen rangen mit ihren Vätern; der Algerienkrieg war gerade zu Ende und die Kollaboration mit den Nationalsozialisten war noch weitgehend tabuisiert.

Die Achtundsechziger erscheinen bei Aly im Rückblick als fast homogene Einheit, was sie nie waren. Und auch die gesellschaftspsychologischen Deutungen sind manchmal arg holzschnittartig. Das liegt hauptsächlich daran, dass aufgrund der dann doch persönlichen Erinnerungen, die im Buch immer wieder einfliessen, ein halbwegs neutraler Blick nicht immer gewahrt bleibt. Seriöse Forschungen zeigen auf, dass es selbst in der Hochzeit der Achtundsechziger nur rund 10.000 "Aktivisten" gab. Da wird ein wenig nachlässig mit den unterschiedlichen Generationsbegriffen jongliert und Generationslagerung und Generationseinheit gelegentlich vermischt, zumal er den Generationenabstand mit zwölf Jahren reichlich kurz bemisst. 

Die unterschätzte sozial-liberale Koalition und die verpassten Möglichkeiten
Damit keine Missverständnisse aufkommen: Mit den politischen und gesellschaftspolitischen Bewertungen Alys kann man durchaus übereinstimmen. Vermutlich hat er sogar recht, Arno Widman zitierend, dass die Revoltierenden die Liberalisierung des Landes nicht beförderten, sondern verzögerten. Und wenn er am Schluss sagt, dass nicht die Studentenbewegung…die Wende zur - notwendigen! - Reformpolitik [einleitete], sondern die 1969 gebildete sozial-liberale Regierung Brandt/Scheel, so ist dies im Grossen und Ganzen zweifellos richtig (wobei zu betonen ist, dass Brandt/Scheel nicht wegen, sondern trotz der Achtundsechziger, die damals bis tief in das sozialdemokratische Milieu hinein verschreckten, reüssierten). Statt am gesellschaftlichen Aufbruch mindestens der Anfangsjahre der sozial-liberalen Koalition mitzuarbeiten, zersplitterten sich die Achtundsechziger ins wohlige Wohnzimmer oder drifteten in den blindwütigen Terrorismus ab. Mit einiger Verspätung kamen dann die Grünen ab Ende der 70er Jahre zum Vorschein – dieses Phänomen blendet Aly merkwürdigerweise aus.  

Ob die Achtundsechziger die alte deutsche Angst vor den Unwägbarkeiten der Freiheit fortführten oder gar eine Flucht aus der komplexen Welt in Form eines Rückzugs in Landkommunen, Ordensburgen und verschworenen Guerillagruppen betrieben? Überhöht Aly da nicht in seiner Erregung die Achtundsechziger sozusagen durch die Hintertür? Schliesslich ist eine Dämonisierung ab einer gewissen Dimension auch Ausdruck einer Wertschätzung. Gregor Keuschnig

Alle kursiv gedruckten Passagen sind Zitate aus dem besprochenen Buch. Wenn dabei Begriffe oder Sätze in Anführungszeichen gesetzt sind, so sind dies selbst wieder Zitate von Götz Aly, die er wiedergibt.

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Götz Aly
Unser Kampf 1968
S. Fischer Verlag
256 Seiten, gebunden
Preis € (D) 19,90
ISBN 978-3-10-000421-5

Weitere Titel zum Thema:

Wolfgang Kraushaar
Achtundsechzig
Eine Bilanz
Ullstein Verlag
336 Seiten,
€ 19,90

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