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Sisyphos-Nachfolger
Erstaunlich, wie Xaver
Bayers Geschichten nachklingen. Tage später ist plötzlich eine Formulierung
wieder da. Oder ein Bild. Beispielsweise der Ich-Erzähler, der in Paris
verhaftet und von den Polizisten aufs Revier begleitet wird und dabei plötzlich
mit der Vorstellung kokettiert, man könne denken, ich selbst sei der
Kommissar anstatt des Verhafteten ("Noch einmal für Jean-Louis Trintignant").
Er beginnt plötzlich den französischen Schauspieler zu imitieren: Ich setze
bewusst meine Schritte so resolut, dass es für einen in der Situation
Uneingeweihten so wirken könnte, als wäre ich es, der die Flics, meine
Untergebenen, hinüber zum Kommissariat führt, so als handelte es sich darum, in
den nächsten Minuten, drüben, in meinem Büro, die Aufklärung eines Falls in
Angriff zu nehmen… Nur Sekunden dauert diese Verwandlung, die
augenscheinlich niemand mitbekommt.
Es liegt etwas in der
Luft In fast allen zweiundzwanzig Geschichten scheint etwas in der Luft zu liegen, eine dunkle, rätselhafte, nicht näher konkretisierbare aber ständig als Möglichkeit anwesende Bedrohung. Der Leser wird ohne jegliche Einführung in ein Setting geworfen, in das er sich zunächst einmal zurechtfinden muss (was allerdings problemlos gelingt). Die Protagonisten scheinen wie Delirierende des Daseins. Manche (manche?) sind unbarmherzig militant auf eine bestimmte Aufgabe gerichtet, die nicht selten physisch Besitz von ihnen ergriffen hat. Sie sind dabei häufig von Emotionen und damit auch von Empathie befreit oder Verdrängen diese zumindest; manchmal erscheinen sie wie die Eloi in Wells' "Zeitmaschine" oder bewegen sich einer "1984"-Welt Orwellscher Prägung oder wirken ihrer Absurdität ausgeliefert wie zeitgenössische Sisyphos-Nachfolger. Manche Erzählungen sind in der Alltäglichkeit verortet, wie "Carime ruft nach ihrer Katze", in der eine Frau in grosser Sorge ihre Katze sucht, Strassen und Wege abgeht und die Dimension des Abschieds eines Freundes - angedeutet wird, dass es ein Abschied für längere Zeit sein soll - praktisch nicht mitbekommt. Andere wiederum sind reine Abstraktionen, etwa der angedeutete Amoklauf eines Schriftstellers in der Erzählung "Engagierte Literatur". Der Amoklauf wird detailliert durchgespielt, aber eigentlich nur erwogen, um danach eine Art Manifest posthum zu veröffentlichen: Ich werde getan haben, was ich werde getan haben werde müssen. Oder besser gesagt: Ich werde getan haben, was ich nicht nicht getan gedurft haben werde. Das ähnelt einem Kind, das sich selbst töten will, um seine Umwelt damit zu bestrafen. Ein andermal ist gleich eine elfköpfige Expeditionsgesellschaft zu einem Wasserfall unterwegs. Sie durchqueren eine dschungelähnliche Landschaft. Im Laufe der Expedition verlieren sie einen Teilnehmer nach dem anderen. Manchmal warten sie eine halbe Stunde, ob der Verschollene doch noch den Weg zu ihnen finden, manchmal plumpsen die Teilnehmer einfach in den Fluss, weil sie schwierige Streckenpassage nicht schaffen. Für die Teilnehmer (und auch den Erzähler) scheint dies nicht besonders aussergewöhnlich zu sein; Rettungsaktionen für die Verschollenen werden nicht erwogen. Am Ende bleiben nur der Erzähler und seine Frau übrig, die nun eine Wand hochklettern. Und dann eine Art Endkampf: Wir ahnten beide, dass keiner von uns einen Gedanken daran verschwendete, was aus dem anderen werden würde, und setzten unseren Weg, der in entgegengesetzte Richtung führte, fort. Aus dem "Wir" wird "Ich"; nur einer bleibt übrig. Plötzlich wälzte sich mit der nun immer rascher voranschreitenden Dämmerung auch etwas anderes, Grosses, Unruhiges über den Wald und den Fluss, und das erste Mal auf dem ganzen Weg, hatte ich das Gefühl nicht allein zu sein… Und wie fast immer gibt es ein offenes Ende: …ich hielt aus eigenem Willen inne und drehte ganz langsam meinen Kopf, um endlich zu sehen, um endlich zu sehen, um endlich zu sehen. Und der Leser ist wieder heraus aus der Geschichte; wenige Seiten nur mit starker, strenger Verdichtung mit kaum einem Wort zuviel. Alles Weitere wird an den Leser delegiert. Und das ist meist eine fruchtbare Delegation; eine auf beklemmende Art bewusstseinserweiternde, ja erfrischende. Manchmal breitet Bayer Sekundenmomente zu einer längeren Reflexion aus, ein andermal wiederum besteht eine Geschichte nur aus einem atemlosen, assoziativen Satz. Die Erzählung "Die Abschiedsworte des Bauchredners" zeigt allerdings auch, dass Bayer gelegentlich zur Überinstrumentalisierung neigt. Ein Bauchredner, der in einem Zirkus auftritt, erzählt von der politischen Entwicklung einer weit in der Zukunft liegenden Welt. Es gibt einen Brückenplaneten, der als Übergangsort vorgesehen ist, auf dem man aber jetzt schon seit vierzig Jahren lebt. Eine Weltpolizei beauftragt private Sicherheitsdienste, um für Recht und Ordnung zu sorgen. Unliebsame Zeitgenossen werden auf Exilplaneten abgeschoben. Auch Piratennetzwerke als letzte oppositionelle Rückzugsräume funktionieren nicht mehr, der Zirkus kann nur durch Mundpropaganda Zuschauer gewinnen. Arg effekthascherisch heisst es: Wir ernährten uns vom Applaus und den uns zugeworfenen Leichenteilen…. Es wächst der Druck, ein Tagespensum von bis zu hundert Witzen oder lustigen Situationen abzuliefern. Eine nicht näher bezeichnete Organisation mit dem Namen Positive-Thinking-Movement (eingebettet in eine Infotainment-Zentrale) bestimmt Art und Form von Berichtstattung und Unterhaltung. Am Ende gibt es eine krude Endzeitvision, ein Verschwinden in die totale Finsternis eines alles verschlingenden Universums. Ein bisschen aufgekratzt wirkt auch die Parabel "Wie man seine Box zum Verschwinden bringt". Der Untertitel "Eine Versuchsanordnung" zeigt, worauf Bayer hinaus will. Ein Proband ist gezwungen, sein Leben neben einer Box zu verbringen, in die er nicht hineinblicken darf oder kann. Der Inhalt der Box bleibt unbekannt. Er kann diese Box nun verehren oder ignorieren. Er kann sie zum Kultgegenstand machen oder zerstören wollen. Hier wird Bayer fast essayistisch, aber leider auch aphoristisch: Nehmen wir dem Probanden, der die Box anbetet, eigentlich sein Tun und Lassen eher ab als dem, der von sich behauptet, der Inhalt der Box sei ihm völlig gleichgültig? Mit welchem Recht? Dieser wirkt vielleicht im Alltagsleben glücklicher als jener. Oder umgekehrt. Und am Ende heisst es dann: Der Drang nach Erkenntnis ist, wenn wir von Schlüssigkeit sprechen dürfen, also ein unerfüllbarer. Das hatte man schon anderswo mal ähnlich gelesen.
Ohne zwanghafte
Pointenhuberei Bayers Erzählungen, die ein bisschen an die "Mikado"-Miniaturen von Botho Strauß erinnern, sind dann am stärksten, wenn sie den unterschwelligen Sound des Nicht-Eindeutigen, des Bedrohlichen nicht nur behaupten oder erklären sondern erzeugen und dem Leser die billige Tröstung, es handele sich nur um einen Traum oder eine Phantasmagorie, verbieten oder mindestens versperren. Freilich ist das oft genug eine Gratwanderung, weil der Eindruck einer zwanghaften Originalität der Geschichten vermieden werden muss, damit diese nicht als komisch, skurril oder gar possierlich mit leichter Hand verharmlost bzw. abgetan werden können. Der Spagat glückt meistens, weil Bayers Erzählungen novellenartig fast immer einen "Point-of-No-Return" begründen, wobei der Moment des "Wendepunkts" häufig erst nach dem Ende der Erzählung eintritt (bzw. abgeschlossen wird) und dem Leser nur der Prozess dorthin erzählt wird. Dadurch sind sie (glücklicherweise) auch frei von zwanghaft herbeikonstruierten Pointen und durch das oft abrupte, mysteriöse und vieldeutige Ende entsteht der Nachhall, der einen Fortgang zu imaginieren beginnt, weil ihn diese Welt, in die er eingetaucht ist, nicht mehr so schnell loslässt. "Die durchsichtigen Hände" ist ein im besten Sinne merk-würdiges Buch. Gregor Keuschnig Die kursiv gedruckten Passagen sind Zitate aus dem besprochenen Buch. Über Xaver Bayers Bücher »Heute könnte ein glücklicher Tag sein« und »Die Alaskastraße«: hier
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