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Die negative Dialektik des Pop

Diedrich Diederichsen untersucht mit »Eigenblutdoping« die Selbstverwertung von Künstlern

Von Bernd Blaschke

Das neue Buch »Eigenblutdoping« von Diedrich Diederichsen bietet, wie wir es von Deutschlands Pop-Pythia gewohnt sind, erneut eine staunenswerte Fülle an eindringlichen Reflexionen zum gesellschaftlichen Stand von Musik, bildender Kunst und Literatur. Sein Leitthema ist diesmal der Zusammenhang von Künstlerperson, Leben und Werk, von inszeniertem Lifestyle, von intimer und öffentlicher Person bei Künstlern und Nichtkünstlern. Als Motto und Leitmotiv dieser keinen dialektischen Hakenschlag auslassenden kunstsoziologischen Überlegungen könnte ein Diktum aus Theodor W. Adornos Vorrede zur »Negativen Dialektik« dienen: »Seitdem der Autor den eigenen geistigen Impulsen vertraute, empfand er es als seine Aufgabe, mit der Kraft des Subjekts den Trug konstitutiver Subjektivität zu durchbrechen«. So macht sich der dribbelstarke Denker der Dissidenz in diesen für den Hamburger Kunstverein 2006 und 2007 als Vorlesungsreihe konzipierten Kapiteln auf die Suche nach den künstlerisch vorgeprägten Subjektmodellen seit den 1960er-Jahren.

Seine Grundthese diagnostiziert, dass die einstmals emanzipatorisch intendierten Praktiken libertärer Projekte ästhetischer und sexueller Devianz nolens volens zum Motor des postfordistischen Kapitalismus mutiert seien. Dessen unbarmherzige Auswirkungen beruhten auf der Wirkweise derselben Prinzipien von Innovation und permanenter Abweichung, die den Kern avantgardistischen Künstlertums ausmachen. Diese Verschlingung von subversiven und affirmativen Potentialen inszenierter Abweichungen wird in dem kunstphilosophischen Großessay als genealogische Erzählung von Subjekt- und Star-Modellen der 1960er- bis 2000er-Jahre rekonstruiert. Der virtuose Nachvollzug - negativ, mithin unaufgelöst - dialektischer Verbindungen von Affirmation und Widerstand, die er in nahezu jedem Gebilde der Popkultur antrifft, macht den kritischen Poptheoretiker zum Erben von Adorno als Großmeister im Aufspüren ambivalenter ästhetischer und ideologischer Positionen in Kunstwerken.

Der suggestive Titel »Eigenblutdoping« meint die »Vermarktung der eigenen Lebendigkeit« - die überpointiert auch auf den Begriff des »Authentizitätspornos« gebracht werden - in denen neuerdings mehr und mehr Menschen im Nightlife, als Künstler oder im Privat-Fernsehen ihre ästhetisch und marktförmig zurechtkonstruierten Identitäten verkaufen. Was ehemals als abweichende und exhibitionistische Inszenierung individuelle Selbststilisierung oder gar Selbstbefreiung war, wurde seit den 1980ern als Funktionsmodell des Spätkapitalismus vereinnahmt. Die Crux heutiger Politisierung und Selbstverwirklichung liege nun darin, dass mit einfacher Flexibilität oder dem Anderswerden-Wollen des Individuums keine Opposition mehr stattfinde gegen den neoliberalen Mainstream. Denn »die Verhältnisse, denen man entkommen möchte, maskieren sich selbst als dynamisch, als x+1.«

Zwei alternative Reaktionsmöglichkeiten ergeben sich nunmehr: entweder der konservative Versuch, die zunehmend verloren gehende Stabilität und Normalität zu rekonstruieren. Dafür stehe der gegenwärtige Boom von Bürgerlichkeits-Revivals. Oder die Suche nach einer neuen Formel der Devianz im Lebensvollzug und der Kulturproduktion, die von Diederichsen auf die Formel »x+y+1 oder x+2« abstrahiert wird. Die in ihren politischen Implikationen durchaus gegensätzlichen Begriffe der 'Multitude' und der 'Generation' sieht der Geschichtsphilosoph des Pops als neue Bemühungen ums Große Ganze, die seit der Jahrtausendwende die Mikropolitiken von Einzel-Themen abgelöst haben, welche die 1980er- und 1990er-Jahre charakterisierten.

Jegliche Politisierung sieht Diederichsen dabei aus zwei identitätsstiftenden Grundsituationen entspringen: einerseits im Anders-werden-Wollen und andererseits im Sich-Selbst-verteidigen-Müssen von Minderheiten. Doch werden diese beiden Grundoperationen der Politisierung durch die marktförmige Kommodifizierungen von Identitäten ihrer Subversivität beraubt. Im Kapitel »Helden und Verwandlung« werden die alten und neuen Modelle bewundernswerter und exzentrischer Subjekttransformationen analysiert. Besonders die Popkultur lieferte hierfür Rollenmodelle mit ihren Musik-Idolen zwischen den männlich-authentisch fixierten Identitäten der Rockstars und den weiblich oder 'queer' konnotierten Transformations-Stilisierungen von Pop bis Punk. Gegen das simple Authentizitätsgebot des Rock entwickelt der Poptheoretiker einen positiven, performativen Begriff des 'Posers', der es verstehe, die Widersprüche zwischen Intimität und Rollenspiel produktiv auszutragen. Ein anderes Kapitel widmet sich dem für Popintellektuelle nahezu unvermeidlichen Bob Dylan. Der wurde durch die Inszenierungen seiner Wandlungen und durch die stetige Selbstreflexionen seiner Star-Rolle in Film, Musik, Performances zum herausragenden Paradigma, an dem sich Ausbruchsversuche und Aporien künstlerischen Dissidententums und künstlerischer Subjektentwürfe aufzeigen lassen.

Der erste Teil des Buches erklärt den Loop - als eine nahezu entwicklungslose Kreislaufbewegung - zum die Gegenwart bestimmenden Bewegungsmodell. Dabei schließe diese neue Trope für Bewegungen, die aus dem Untergang geschichtsphilosophischer Narrative hervorging, diverse Möglichkeiten zwischen tumber Regression und raffinierter Selbstreflexion ein. Als Ausweg aus dem Loop begreift Diederichsen das 'politisch Werden' - also die Erkenntnis, dass es Andere gibt, die eine andere Perspektive haben. »Unbedingt wissen wollen, wie man selbst funktioniert, ist tendenziell rechts, unbedingt wissen wollen, was der andre sieht, tendenziell links.« Das neue Modell der Politik sei die 'Bewegung' als ein überindividueller, freiwilliger Zusammenschluss, der weder den strengen Gehorsam einer Parteimitgliedschaft impliziere noch das solipsistische Aufbegehren eines Michael Kohlhaas.

Im Gegensatz zur Absage an Linearität und Entwicklung, die den Loop kennzeichnet, unternimmt der Mittelteil des Buches eine doch stärker entwicklungslogisch und geschichtsphilosophisch orientierte Rekonstruktion von Orten und Bewegungen durch die 1960er-, 1970er- und 1980er-Jahre. Die 1960er-Jahre stehen für Diederichsen in der produktiven Spannung zwischen New York (das für die Gegenkultur stehe), San Francisco (Underground) und Los Angeles (als Hauptstadt der Kulturindustrie). Die 1970er-Jahre sieht der Pophistoriker im Zeichen eines glamourösen Erhabenen. Glamour und Camp bezeichnen Kunsterfahrungen mit personenförmigen Werken, das heißt mit der Tendenz zum Starkult oder zum Lebenskunstwerk. Diese beiden Kategorien werden von Diederichsen als ästhetische Grundbegriffe neben das Schöne und das Erhabene gestellt: »Das Gegenüber der Glamour-Erfahrung droht mit der Autorität realer Präsenz, dem aktiven Einspruch gegen verfügende Rezeption, um sich dann doch wieder zur Verfügung zu stellen.« Glamour sei raffiniert, aber nicht selbstreflexiv, adressiere zwar auch den Verstand, aber doch noch mehr die anderen Vermögen. Zudem sei Glamour weder aufklärerisch noch einfach Opium fürs Volk. Denn die provokative Verweigerungshaltung der Glamour-Stars, ihre Genervtheit und ihr demonstratives Benennen der ökonomischen Rahmen weisen auf Versuche des Ausstiegs aus der Zwangsperformance; also aus dem Zwang, sein Selbst zum Kunstwerk zu machen. Aus dem gesamtgesellschaftlicher Stilisierungszwang, der für Diederichsen immer stärker auch ganz normale Arbeitswelten (jenseits der Kunst) kennzeichnet.

Punk wie junge wilde Malerei stehen seit den späten Siebzigern für die Sehnsucht nach Klartext und maximalen Intensitäten. Sie bedienen sich dazu der simpelsten, eigentlich längst 'totgespielten' Formen, was der Chronist als die Sehnsucht nach einem Nullmedium und nach einer Flucht aus den immer komplexer gewordenen Medienreflexionen deutet. Dabei ging es dieser scheinbaren Naivität um mehr als bloß reaktionären Antiformalismus; nämlich um die Befreiung der Töne von den Noten, um Energie und den Austritt aus der Musikgeschichte.

Für die gegenwärtigen Kunstdebatten konstatiert das Buch eine Konjunktur von Utopien. Diederichsen führt diese Sehnsucht auf die Gesamtkunstwerks-Modelle des 19. Jahrhunderts zurück und seziert neben den thematischen Utopien vor allem die von ihm als 'strukturelle Utopie' des Künstlertums bezeichnete Verklärung der autonomen Lebensweise der Kunstmacher. Denn dieser Drang zur Selbstverwirklichung weise fraglos zahlreiche Parallelen zur obsessiven, idiosynkratischen Kreativität des Unternehmertums auf.

Der Popprofessor plädiert im übrigen gegen den Trend zur völligen Auflösung der Kunst in Prozesskünste und Performativitäten oder ihre Überführung in soziologische und psychologische Theorien von Produktion und Rezeption. Dazu verteidigt er den Werkbegriff. Werke seien als kleinste, doch allemal entscheidende Einheiten der Kunst unabdingbar. Es geht ihm beim Insistieren auf den Werkbegriff nicht um Kunstontologie, sondern um widerständige Gegenstände, die sich der produktions- oder rezeptionsästhetischen Verabsolutierung grenzenloser Subjektivität entgegensetzen: »Die harten Fakten, die die künstlerische und rezeptive Subjektivierung beschränken, sind in der Tat der Code, die Medien und der Markt.«

Heutige Kunst kämpfe im übrigen (mindestens) einen doppelten Kampf: gegen die technische Überlegenheit der Kommunikations- und Werbekultur sowie gegen die politische und theoretische Gleichgültigkeit des Kunstmarktes, dem jegliche Legitimationsdiskurse schnuppe seien. Das angestrebte kunstpraktische Ziel sind für den immer schon parteiischen und engagierten Kunstsoziologen individuelle Verfahren, die einem riesigen Außen ohne Zentrum einen Ort geben können sowie Formfindungen, die dem 'Gegenstand' nur ästhetisch gerecht werden können, wenn sie nicht verhehlen, dass sie dem adressierten politisch-sozialen Thema zugleich fremd bleiben müssen. Dabei seien unsere unübersichtlichen Zeiten für Praktiker wie Theoretiker der Kunst durchaus keine einfachen. Denn die universelle Ambivalenz von Gegenständen, Erfahrungen, und Intensitäten stelle den Kulturdiagnostiker vor schwierigste Herausforderungen, die es noch nicht gab, als Ideologiekritik und Psychoanalyse noch an Zielen und Motiven orientiert forschen konnten. Einzelne Motive - etwa das des Kindes, einer Nackten oder eines Nazis - wurden seither zu Projektionskomplexen, mit Hilfe derer narzisstische, geschichtsvergessene Subjekte, die keine mehr sind, sondern nur noch als 'Affektkörper' reagieren, 'in narzisstischen Selbstvergewisserungs-Narrationen baden'.

Die gegenwärtige Szene sieht Diederichsen gewiss nicht zu unrecht gekennzeichnet durch neue Mischungen von Dokumentarismus und Voyeurismus in Performances, die von Big Brother bis zu Events der Hochkunst reichen. Zudem verbreite sich eine neue Einbeziehungen des Publikums, das nun mitkochen oder mitspielen soll. Solcherart wurde attraktive Lebendigkeit zum Hauptmaterial der Künste der letzten 50 Jahre: Sex, Körper und Sport indiziert der Kulturhistoriker als Formen 'pseudo-kontingenter Lebendigkeitsproduktion'. Dabei entspreche die vermeintlich fortschrittlich befreiende Partizipation der Kunstkonsumenten dem aktuellen kulturellen Paradigma des Kapitalismus. Die zwangsvernetzten Soft-Skill-Spezialisten der Service- und Freizeit-Arbeitswelt seien schon im lebensweltlichen Alltag »einem Terror der surrogat-demokratischen Partizipation ausgesetzt.« Der Schluss dieses großen, geschichtsphilosophisch grundierten, kunstsoziologischen Essays ist - wieder ganz in der Manier Adornos - düster. Doch fordert er von der Kunst, ihren Produzenten und Rezipienten Widerstand gegen die ubiquitären Mitmach-Spektakel: »Es ist illusorisch, von Kunst oder anderen kulturellen Praktiken zu verlangen, dies zu durchbrechen, und doch wäre alles andere zu bescheuert.« Die ausgegebene Parole lautet mithin: sich abarbeiten am Fetischismus der Lebendigkeit.

Das Buch als weit ausholender Großessay will viel und behandelt in immer neuen Perspektiven und Zugriffsweisen am Beispiel verschiedenster Künstler Aspekte der Kunstsoziologie, der Hermeneutik und Geschichtsphilosophie, der Medienästhetik, der Produktions- wie Rezeptionsästhetik von Pop-Phänomenen und auch klassischeren Werken. Manchmal droht dabei der Überblick und die Gesamtstoßrichtung etwas verlorenzugehen, auch wenn jede Einzelbeobachtung an Werken und Künstlern und jede Theoretisierungsbewegung in großer Klarheit des Arguments und der Sprache dargeboten werden. Wer die prekären und intrikaten Interdependenzen von Künsten und Kunstmarkt, die Verschlingungen von subversiven und affirmativen Bewegungen der Künste verstehen will, findet bei Diederichsen scharfsinnige Beobachtungen und Reflexionen auf höchstem Niveau. Dieses Buch besticht nicht nur durch seine mit allen philosophischen Wassern aus Frankreichs und Frankfurts kritischen Quellen gesalbte kunstsoziologische Urteilskraft; es bietet zudem eine kurze, durchaus subjektive Geschichte politischer und populärer Kunst der letzten 40 Jahre.

Dieser Artikel erschien zuerst bei Literaturkritik.de
 

Diedrich Diederichsen
Eigenblutdoping
Selbstverwertung, Künstlerromatik, Partizipation.
Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2008.
280 Seiten, 9,95 EUR.
ISBN 9783462039979

 

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