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Foto: Uwe Dettmar / SV
»Selbstverständlich ist eine Gesellschaft unanständig, in der jemand mehr Wohnraum besitzen als bewohnen kann und Behausungen also leer stehen, damit beim Finanzamt Verluste angegeben werden können, in deren Schatten anderswo, im Warmen, Feuchten und Unsichtbaren, große Gewinne gedeihen.« Dietmar Dath

Die Menschheit herstellen

Jürgen Nielsen-Sikora zu Dietmar Daths politischem Manifest »Maschinenwinter«

Marxens knöchrige Kapitalismuskritik? Luxemburgs politische Reminiszenz an römische Gladiatoren? Oder gar Lafontaines Kardiologenromantik? Allesamt passé, Geschichte! Denn da ist Dietmar Dath, dessen Streitschrift „Maschinenwinter“ der Suppenküche des Sozialismus frisches Fleisch beimischt. Und das ist gesalzen: „Selbstverständlich ist eine Gesellschaft schweinisch, die einerseits für ihre Spitzensportler Laufschuhe mit eingebauten Dämpfungscomputern bereitstellt, andererseits aber alten Frauen mit Glasknochen die Zuzahlung zum sicheren Rollstuhl verweigert und einen Pflegenotstand erträgt, für den sich tollwütige Affenhorden schämen müssten.“ Doch geht es Dath nicht um kapitalistische Schweinereien an sich, nicht darum, dass das Kapital in seinen gegenwärtigen Erscheinungsformen gesamtgesellschaftliche Gefahren und soziale Klimaveränderungen hervorruft, auch nicht allein darum, dass der Rest bloß Verdinglichung ist und schlichtweg alles nur noch nach seinem Mehrwert und seiner Rentabilität bewertet wird. Im Fokus seiner Kritik stehen auch weniger die Helden des Kapitals: Die Wirtschaftsmagnaten und Tycoons, die Workaholics und Top-Manager, die das Fundament ihrer Firmenphilosophie in der Leistungsgesellschaft erblicken und deren einzige Stärke ihre Maßlosigkeit selbst ist. Nein, Dath redet nicht davon, dass der Katastrophenkapitalismus obszön und unmoralisch ist, sondern davon, dass „das alles nicht vernünftig ist und deshalb nicht funktionieren kann.“ Nicht Ethik also, sondern Vernunftkritik, ja der öffentliche Gebrauch der Vernunft bilden den Ausgangspunkt seiner Überlegungen.

Wenn zum Beispiel wieder die Rede von den Leistungsverweigerern die Runde macht, klinge dies, so Dath, „als reiche, was die Erzeuger produzieren, allenfalls für sie selbst. Der Mangel, der da unterstellt wird, muß, so heißt es, nach dem Befehl derer verteilt werden, die das Sagen haben, sonst droht Chaos.“ Und mit Dath wundert man sich, woher dieser Mangel überhaupt kommt: „Haben wir nicht Maschinen gebaut, die den Mangel abschaffen sollten?“

Mit Hilfe von Maschinen werden immerhin Devisenmärkte gesteuert, Risikokapitalgesellschaften gezähmt, Shareholder-Values berechnet, Börsengange koordiniert, Zinseszinsen und Hedgefonds berechnet. Was in den „wirtschaftlichen Kommandohöhen“ funktioniert, soll in den Niederungen des politischen Alltags versagen? Dath bezweifelt das zu Recht: „Wir leben, wie wir leben, nur, weil es Maschinen gibt, aber wir leben gleichzeitig so, als könnten wir dem, was sie tun, keine Richtung geben.“ Eine mögliche Richtung wäre die Abschaffung der Herren-Knecht-Relation, und damit einhergehend die Schaffung des Menschen. Wohlgemerkt geht es hier nicht um das Einstürzen von Theoriegebäuden à la Hegel, sondern um politische Praxis, zu deren Unterstützung wir Maschinen einsetzen könnten, indem wir sie in den Dienst der Menschheit, und nicht in den Dienst von Partikularinteressen stellen. Doch haben wir zugelassen, dass gerade unsere Maschinen „zu Naturwesen werden, deren Früchte man nicht ernten kann, weil sie keine mehr hervorbringen; wie schlafende Pflanzen im Winter.“ Die Menschen müssten ihre Maschinen befreien, „damit sie sich revanchieren können.“

Davon sind wir derzeit weit entfernt. Wir haben Angst vor den Apparaten und wissen nur zu gut eine demokratische Planung zu verhindern. Ebendies ist nach Dath wider die Vernunft. Denn die Planung liegt allein in der Hand einiger weniger Monopolisten, besser: Diktatoren der Preisentwicklung, der Meinungsmache, der Freizeitgestaltung etc. Freiheit des Individuums? Kopfschütteln im Hause Dath: Freiheit der besitzenden Klasse, „die den Teufel tun wird, ihre Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel nicht planend zu nutzen und, wo möglich, zu vergrößern.“ Wenn die Fahrpläne von denen gemacht werden, die selber nicht auf die Züge angewiesen sind, von Besitzenden also, Geldgebern und Kapitalisten, die sich aufführten als seien sie nicht Teil der Menschheit, so Dath, ist das schlichtweg unvernünftig. Und die daraus resultierende Vernunftlosigkeit des Dienens zieht die Frage nach sich, wer auf diesen Zügen, die durchs Land rollen, nicht mitfahren darf. Es sind unbestritten der Mindestlohn, der Generalstreik, das Mitspracherecht. Denn in den Zügen der Gegenwart ist das klassische Verhältnis von Angebot und Nachfrage angesichts komplexer Kapitalverflechtungen ohnehin außer Kraft gesetzt. Die kommerzialisierte Gesellschaftsordnung, deren Protagonisten die Fahrplanmacher sind, gehorcht dem Imperativ der Profitmaximierung. In ihren Augen schafft dieser Plan neue Entfaltungsmöglichkeiten und individuelle Chancen, sowie die perfekte Lösung sämtlicher Probleme, die die Pläne selbst erst schaffen. Auf der Suche nach dem Sinn der schönen neuen Arbeitswelt, die von nun an von Zeitarbeitsfirmen durchdekliniert wird, prägt informelle Beschäftigung den Arbeitsmarkt. Selbst die Politik ist nur noch Ware, und der Aktienkurs der Unternehmen ist den Planern wichtiger als das Schicksal der Mitarbeiter und ihrer Familien. Haben sie politische Ämter inne, scheuen sie sich nicht, auch die öffentliche Daseinsfürsorge in private Hände zu geben. Politik ist nicht länger eine Frage des richtigen Handelns, sondern des erfolgreichen Handels. Deshalb werden das Innen- und Außenministerium dieser Zugwelt von Konzernen, Banken und Versicherungen beherrscht. Und die Medien spielen mit.

Daths Forderung an uns: „Wer in der Lage ist, durch den gegenwärtigen Arbeitsmarkt, Straßenverkehr oder das ausgeweidete Sozialstaatsskelett zu navigieren und sich da, wo etwas zu kriegen ist, immerhin abholt, was die Albrechts, Henkels, Beisheims und Mohns vom Tisch fallen lassen, wäre wohl auch gewitzt genug, die eigene Freiheit auf Kosten der ihrigen zu vergrößern. Wer nicht untergeht, obwohl andere für ihn planen, könnte die Zügel ebenso gut gleich selbst in die Hand nehmen.“

Richtig: Haben wir nicht schon lange genug die Schmach der schlecht bezahlten Arbeit hingenommen, die mit dem Verfall des öffentlichen Lebens korrespondiert, in dem Schmier- und Bestechungsgelder, Spendenaffären, Insiderhandel und Kartell- und Kastenbildungen an der Tagesordnung sind? Soziale Probleme, das heißt Umstände, die die eigene Lebenssituation so beeinträchtigen, dass sie unter ein hinnehmbares Niveau sinkt, sind doch wohl ebenso virulent. Aber eine Ungleichverteilung des Wohlstands, Massenarbeitslosigkeit, Migration, Ausbeutung, Entfremdung, Verarmung der Staatshaushalte, Beschaffungskriminalität und andauernde Wirtschaftskrisen sind für die Albrechts, Henkels, Beisheims und Mohns bloß hinnehmbare Begleiterscheinungen im heilbringenden kapitalistischen System. Unter der Rubrik „externe Effekte“ werden sie als Nebenfolgen risikobelasteter Gesellschaften verbucht. Katastrophen spielen den Priestern des Profits in die Hände, weil sie in Form von Erdbeben, Waldbränden, Kriegen, Tsunamis oder Wirbelstürmen neuen Raum für Investitionen schaffen. Denn der Kapitalist geht dahin, wo die Kapitalverzinsung am höchsten ausfällt. Diese Tyrannei der Entrepreneurs und der Global Player droht letztlich zur Maxime unserer Beziehungen selbst zu werden. Unsere sozialen Stellungen werden durch unsere Position im Marktgeschehen bestimmt. Schließlich richtet sich auch die Verteilung von Vermögen nach Marktergebnissen. Der Leitspruch dieser Produktionsmittelethik: Platz schaffen für Neues. Das ewige Steigerungsspiel mitspielend, verausgaben wir uns – und unsere Nächsten. Anstatt, wie Dath fordert, das Interessanteste herzustellen, was wir Menschen mit Hilfe der Maschinenwelt überhaupt herstellen können: Die Menschheit!: „Sollen sich die Leute vielleicht darüber freuen, daß ausgerechnet der technische Fortschritt Lebensläufe beschädigt, denen er zum Segen ausschlagen müsste? Daß er die einen arbeitslos macht und die anderen in den Akkord hetzt, dabei blinkt und stinkt und nebenbei ungenießbare, aber billige Lebensmittel auswirft?“

Worauf Dath hier auch abzielt, ist die Tatsache, dass wir Mängelwesen sind: Jede Beseitigung von Mangel ruft neuen Mangel hervor. Wir erliegen nahezu täglich dem Overkill an Informationen, Trends, Produkten, Terminen und News. Der Tanz um das goldene Kalb des Kapitals macht aus uns Menschen erfolgsgeplagte und zusehends orientierungslose Konsumenten, deren Leben zwischen den „Heuschrecken“ und dem „Prekariat“ nur noch den permanenten Wandel kennt. Die Gewohnheit selbst wird zum Luxusartikel.

Wir wissen zwar, dass technischer Fortschritt und Kapitalismus zur Demokratiesicherung beigetragen haben; zugleich wissen wir auch, dass sie inzwischen ihre zerstörerische Seite offengelegt haben. Wir wissen das, nicht weil wir Marx gelesen haben oder Schumpeter oder wen auch immer. Nein, wir wissen dies, weil wir sehen, dass der Kapitalismus dazu neigt, die Gesellschaft, in der wir leben und in der er sich entwickelt hat, unaufhaltsam aufzulösen beginnt. Es herrscht das Prinzip Konkurrenz ohne Chancengleichheit und Fairness, es herrscht Abhängigkeit statt Freiheit, Standortfetischismus und Billiglöhne dominieren über ökonomische Gerechtigkeit. Schon machen die Phalanx der Globalisierungsgegner und das Heer der Zu-kurz-Gekommenen allmählich mobil. Die Schar der Kritiker wird zumindest physisch begleitet von einer Armee gut ausgebildeter Proleten und den moralisch verwahrlosten Angehörigen der neuen Unterschicht. Neben der Elite der Gier bildet sich zusehends eine Elite der Ignoranz heraus. Es sind diejenigen, die das System, in dem sie leben, nicht interessiert. Sie wollen ihre Ruhe, ihr Bier, ihre Zigarette und ihre Daily Soap. Bild-Zeitung statt Süddeutsche, Bohlen statt Böll, Mario Barth statt Witz und Humor. Ihre Leitbilder entspringen der Springer-Presse und SAT1. Sie vermüllen den öffentlichen Raum und lieben ihren Kampfhund mehr als ihre Mitmenschen. Das neue Proletariat kauft bei Zeeman, Backwerk und Kik ein, es isst bei McDonald´s und Burger King, Hauptsache billig und schnell. Sowohl die Elite der Gier als auch die Elite der Ignoranz ist in ihrem Wesen zutiefst intolerant, egozentrisch und asozial. Beide besetzen die Pole des neuen Kapitalismus und bedeuten eine ernst zu nehmende Gefahr für die Demokratie. Deshalb forderten etwa Götz Werner oder der jüngst verstorbene André Gorz ein Existenzgeld für Arme. Dath widerspricht ihnen: „Was man ohne Gegenleistung hergibt, ist in einer Warenwirtschaft definitionsgemäß Müll, (…) eine Hundewährung für denkende Haustiere.“

Wir müssten vielmehr damit anfangen, Einrichtungen einzureißen, die das Vermögen des Menschen lähmen, „die Menschheit herzustellen. (…) Ehe wir den Schrott nicht beseitigen, der bloß Geld machen kann und nichts Nützliches, ist der Platz nicht frei für die Industrie, die wir wollen.“

Dath erblickt im Wesen der Technik etwas zutiefst Soziales, und zwar „das in gesellschaftlicher Praxis gesetzte Verhältnis von Freiheit und Notwendigkeit, von Zweck und Mittel, in der Produktion und Reproduktion des gesellschaftlichen Lebens.“ Wir haben als Menschen schlichtweg das Recht zu fordern, zu streiken, und uns gegen die Unvernunft zu erheben. Das bedeutet nicht, dass wir zurück auf die Bäume müssen. Vorkapitalistische Gesellschaftsformen, das sieht Dath, sind wenig geeignet, bessere Zustände herzustellen. Die Dorfgemeinschaft kann nicht das Leitbild der Weltgesellschaft sein. „Was tun?“ fragt sich Dath aus diesem Grund mit Gregor Gysi: „Wir haben vor wenigen Jahren erlebt, daß Menschen aufgrund ihrer für realisierbar gehaltenen Wünsche ihr Gesellschaftssystem ändern können. Wieso soll dem Kapitalismus nicht ähnliches widerfahren, wenn die ihm Unterworfenen merken, daß ein besseres Leben leichter ohne Klassenlotterie zu haben ist und daß die Wahrscheinlichkeit, daß Leute mit den falschen Eltern es im Kapitalismus zum angenehmen Dasein bringen, mit jeder Runde im immer gleichen Spiel um Positionsvorteile in der Nahrungskette geringer wird?“ Gesetz des Noah: Die Arche muss gebaut werden, „sonst ersäuft auch der Wissende mit.“ Daths politisches Programm: „Sobald es konkret wird, liegen wir richtig: Wie man ein Asylbewerberheim vor Pogromisten schützt, wie man eine Propagandaschau des Militarismus oder eine Weißwäscherveranstaltung zur Wiederherstellung der deutschen Ehre stört, wie man General Motors oder Toyota beschämt, weil das Rohmaterial, das sie verarbeiten lassen, in Lateinamerika von illegal in Sklavencamps arbeitenden Rechtlosen stammt – das kann geklärt werden. (…) Erlösung vom Mangel (anständige … Versorgung, anständiger Wohnraum, Kleidung, Nahrung, Bildung für alle), reproduktive und sexuelle Rechte, demokratisches, bedürfnisgeleitetes Wirtschaften.“ Kurz: Vernünftige Planung, demokratische Durchsetzung!

Daths sprachlichem Feuerwerk sei verziehen, dass er Ken MacLeod das »a« klaut. Und wenn es gilt, sein politisches Manifest zu unterschreiben: Her damit, dann will ich gern der Erste sein!
 











Dietmar Dath
Maschinenwinter
Wissen, Technik, Sozialismus
Eine Streitschrift
edition unseld 8
130 Seiten, Broschur
Euro 10,00
ISBN 978-3-518-26008-1

Leseprobe

 

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