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kafka
ist anfang ohne ende
René Becher über Reiner
Stachs
Kafka-Biographie »Die Jahre der Erkenntnis«
Kafka heiratet, Kafka heiratet
doch nicht. Kafka fühlt sich kräftig und gesund, aber Kafka ist krank. Er spuckt
Blut. Kafka schreibt an einem Roman, Kafka schreibt diesen Roman lieber nicht.
Kafka liegt auf dem Sterbebett und hofft, aber da gibt es nichts mehr zu hoffen.
Kafka liebt Felice, liebt Dora, liebt Milena, aber vielleicht liebt Kafka diese
Frauen auch nicht. Kafka zieht nach Berlin, aber vielleicht hätte Kafka doch
besser, wie angedacht, nach Palästina auswandern sollen. Kafka lächelt, Kafka
trauert. Er schließt sich weg. Er schreibt eine lange Abrechnung über den Vater,
er behält sie besser für sich. Kafka weiß, dass er wahrscheinlich sehr wenig
weiß. Er weiß: Ich werde gebraucht – von der
Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt. Kafka nimmt sich eine lange Auszeit, die
man ihm gerne gewährt. Kafka liegt in Decken eingehüllt auf der Terrasse
irgendeines Zauberbergs, die Sonne scheint. Es regnet, Kafka friert. Der
ärztliche Befund: Lungentuberkulose. Dann, als ausgehungerter Künstler auf dem
Sterbebett: Er kann sich selbst nicht begreifen. Da ist sie: Die späte und
bittere Erkenntnis, das eigene, selbst formulierte Rätsel nicht gelöst zu haben.
Reiner Stach unternimmt in
seinen beiden Biographien (Die Jahre der Entscheidungen, Die Jahre der
Erkenntnis) den Versuch, ein wenig Licht ins unermessliche Dunkel dieses
Schriftstellers zu bringen. Das gelingt, soweit möglich. Er berichtet im Wechsel
Außen (Historische Ereignisse) und Innen (Kafkas Kampf). Er wählt, wie er selbst
über Kafkas Schreiben urteilt, eine „Form der Beredsamkeit, die mit analytischer
Genauigkeit ins Dunkle führt“. Da sehen wir dann Kafka, meist auf einem Bett
liegend. Die Bilder wiederholen sich. Auf die Anspannung (Krankheit,
Schreibwut/-blockade) folgt eine kurze Zeit der Abspannung (Erholung,
Gleichgültigkeit dem Schreiben gegenüber). Im biographischen Rückblick führt
Stach neuerlich vor Augen, wie widersprüchlich dieses Leben doch war. Und im
Widerspruch höchst gefährlich: Kafka macht stets das Gegenteil von dem, was
seine Umwelt ihm rät, und geht daran zugrunde. Kafka lacht. Nein, Kafka lacht
mitnichten. Reiner Stach geht ins Detail und glaubt auf dem einzigen Photo mit
Felice Bauer, seiner Verlobten, im Gesicht Kafkas diese Widersprüchlichkeit
dokumentiert zu sehen. Ein arrangiertes Photo, ein „Kippbild“, wie Stach
schreibt. Kafkas' Janusgesicht: Deckt man mit der Hand die (von uns gesehen)
linke Gesichtshälfte des Schriftstellers ab, so lächelt dieser. Verdeckt man
aber die rechte Hälfte, so sieht man, dass Kafka einen betrübten
Gesichtsausdruck hat, um nicht zu sagen: einen dunklen, abgrundtief traurigen:
»Kippbild«,
Felice Bauer mit Franz Kafka, 1917
Stach
möchte diesen Schriftsteller erden. Er setzt ihn zurück ins Leben, holt ihn vom
Thron, lässt ihn erneut leiden. Geht an seiner Umwelt zugrunde? Bisher musste
man vielleicht davon ausgehen: Kafka – ein von allen Seiten bedrängtes Ich. Nach
der Lektüre dieser Biographie aber weiß man: Zu dieser Behauptung gibt es so gut
wie keinen Anlass. Reiner Stach schildert, wie sehr sich die Mit-Menschen um
Kafka kümmerten und sorgten. Da sind die Eltern (auch der Vater, sicher, kein
einfacher Charakter, aber wohl im Rahmen des Erträglichen). Da ist Ottla, seine
Schwester, da ist Max Brod. Da ist Direktor Marschner von der
Versicherungs-Anstalt, der ihn vor dem Kriegsdienst bewahrt (gegen den Willen
Kafkas!). Da sind viele Freunde und Frauen. Da sind auch Bewunderer seines
literarischen Werkes und überhaupt. Aber Kafka verschanzt sich, Kafka will
lieber nicht. Man schüttelt den Kopf. Man versetzt sich in diesen
Schriftsteller, wie auch Stach sich in diesen Schriftsteller versetzt hat, und
kapituliert. Aber man ahnt: Ohne diese Überempfindlichkeit, ohne diese
wiederkehrende Scheu vor den Menschen ist diese Prosa einfach undenkbar. Eine
Prosa, die in ihrer „sonderbaren Form von Beredsamkeit (...) mit analytischer
Genauigkeit ins Dunkle führt“. Stach bringt den Leser genau dorthin. Immer
wieder. „Ich bin Ende ohne Anfang“, schreibt Kafka. Kafka ist ein immer neuer
Anfang ohne Ende. „Es ist alles in den besten Anfängen“, schreibt Kafka einen
Tag vor seinem Tod an die Eltern. Als hätte er die Mühen seiner Rezensenten und
Leser und Biographen vorausgeahnt. Auch Stach bemüht sich (mehr noch: er erlaubt
sich keinen Mut zur Lücke), aber auch Stach weiß: Da ist wohl nichts mehr zu
holen. Unsere Erkenntnis: Seine monumentale Biographie dürfte für sehr
lange Zeit die letzte gewesen sein. Und: Kafka bleibt uns allen ein Rätsel.
Jetzt und in alle Ewigkeit. Danke. René Becher
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Reiner Stach
Kafka
Die Jahre der Erkenntnis
S. Fischer Verlag
736 Seiten, gebunden
Preis € (D) 29,90
ISBN 978-3-10-075119-5
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