Belletristik
Romane, Erzählungen, Novellen & Lyrik
Blutige Ernte
Krimis, Thriller & Agenten
SF & Fantasy
Elfen, Orcs & fremde Welten
Quellen
Biographien, Briefe & Tagebücher
Geschichte
Epochen, Menschen & Phänomene
Politik
Theorie, Praxis & Debatten
Ideen
Philosophie & Religion
Kunst
Ausstellungen, Fotobücher & Bildbände
Tonträger
Hörbücher & O-Töne
Videos
Literatur in Bild & Ton
Literatur Live
Veranstaltungskalender
Zeitkritik
Kommentare, Glossen & Essays
Autoren
Porträts, Jahrestage & Nachrufe
Verlage
Nachrichten, Geschichten & Klatsch
Film
Neu im Kino
Klassiker-Archiv
Übersicht
Shakespeare Heute
Shakespeare Stücke
Goethes Werther,
Goethes Faust I,
Eckermann,
Schiller,
Schopenhauer,
Kant,
von Knigge,
Büchner,
Mallarmé,
Marx,
Nietzsche,
Kafka,
Schnitzler,
Kraus,
Mühsam,
Simmel,
Tucholsky
Die aktuellen Beiträge werden am
Monatsende in den jeweiligen Ressorts archiviert, und bleiben dort
abrufbar.
Wir empfehlen:
Andere
Seiten
Diskutieren Sie
mit Gleichgesinnten im
FAZ Reading Room
Joe Bauers
Flaneursalon
Gregor Keuschnig
Begleitschreiben
Armin Abmeiers
Tolle Hefte
Bücher-Wiki
Literaturportal von Jokers
deutsches literatur archiv marbach
Literaturportal
Curt Linzers
Zeitgenössische Malerei
Goedart Palms
Virtuelle Texbaustelle
Alf Poier
Genie & Wahnsinn
Reiner Stachs
Franz Kafka
counterpunch
»We've
got all the right enemies.«
telepolis
fängt da an, wo andere
Magazine aufhören
ZIA
Die Zentrale Intelligenz Agentur ist ein
kapitalistisch-sozialistisches
Joint Venture mit dem Anspruch, neue Formen der Kollaboration zu
etablieren.
Riesensexmaschine
Nicht, was Sie denken?!
texxxt.de
Community für erotische Geschichten
Wen's interessiert
Rainald Goetz-Blog
Bookmarks
|
Jonathan Littell »Die
Wohlgesinnten«: Die Dritte
Nein, liebe Leute, dieser Kaiser
ist nackt!
»Dieses Buch stösst
weder an die Grenzen der Literatur, noch an die der Literaturkritik.« Eine
Entkleidung in drei Kapiteln
von Gregor Keuschnig
I.
Mockumentary II.
Ernst Nolte als Spiritus rector
III.
Die Buchversteher
I.
Mockumentary
Ein
Buch mit einem geradezu kathedralen Überbau:
"Reading-Room" der FAZ (ein
hässlicher Anglizismus - dennoch: hörenswert das Lesen von Christian Berkel),
Marginalienband mit Interviews, Graphiken und textinterpretarorischem
Rüstzeug,
eigene Webseite (noch
ausführlichere Dokumente als im Marginalienband), und fast jedes Feuilleton
äussert sich. Und wenn man das Buch mit seinen fast 1.400 Seiten vor sich
liegen hat und in den Händen wiegt,
dann fragt man sich, ob die Erwartungen ob dieses Monumentalismus überhaupt
eingelöst werden können. Oder ob da nicht ein Autor Opfer seiner eigenen
Hybris wird.
"Die Wohlgesinnten" sind die
fiktiven Memoiren von Dr. Maximillian Aue, Jahrgang 1913,
deutsch-französischer Herkunft, promovierter Jurist und am Ende, 1945,
SS-Obersturmbannführer. Aue ist Ich-Erzähler, was als "neu" in Bezug auf die
"Täterperspektive" hingestellt wird. Das stimmt in dieser Absolutheit
natürlich nicht und wird nicht besser, in dem man es dauernd wiederholt.
Jeder zweite Krimi schiebt heutzutage den Täter und dessen Motivation in den
Vordergrund – meist als Brechung zum Alltag des Kommissars. Hinsichtlich der
Shoa stimmt das auch nicht. Man kann nicht so tun, als sei die "Sprache der
Täter" zu erfinden. Es
gibt sie längst – sowohl im Original, als auch in zahlreichen Fiktionen, die
längst in die Weltliteratur und -dramatik eingeflossen sind.
Und auch im anspruchsvollen Kino hat man in den letzten Jahren die
Tätersprache als radikale Darstellungsmöglichkeit "entdeckt". Erinnert sei
nur an Lutz Hachmeisters "Goebbels-Experiment" und Romuald Karmakars
"Himmler Projekt". Beide Filme bedingen allerdings mehr als nur residuale
historische Kenntnisse beim Zuseher (was als Problem auch für die
"Tätersprache" in literarischen Werken gilt).
Ein Schriftsteller, der eine Figur wie Aue konstruiert, geht ein grosses
Risiko ein: Führt nicht irgendwann die statische Erzählperspektive zu einer
zu starken Identifikation? Ist das Wechselspiel beim Leser zwischen
Reflexion und Identifikation gar intendiert? Oder tritt das Gegenteil ein
und der Leser ekelt sich vor der Brutalität und Empathielosigkeit der Figur
und liest irgendwann nicht mehr weiter? Stumpfen sie den Leser gar ab? Oder
entsteht eher eine Art Sog des Weiterlesens?
© 2007
David Monniaux
Littell
erzählt (abgesehen vom Eingangskapitel) sehr konventionell; chronologisch.
Es gibt gelegentlich Rückblenden Aues auf seine Kinder- und Jugendzeit, die
als Epiphanien daherkommen. Als er beispielsweise vom Schreien eines
russischen Soldaten berichtet, der mit einem Bauchschuss getroffen nach
seiner Mutter brüllt, phantasiert er seinen Hass auf seine Mutter (und
seinen Stiefvater) herbei, stösst Beschimpfungen über die Anmassung aus,
überhaupt geboren zu sein (von fern winkt Littell – und nicht nur hier! -
mit dem Zaunpfahl des Existenzialismus [offensichtlich will er Parallelen
zwischen Existenzialismus und Nationalsozialismus aufzeigen]) und erinnert
sich daran, auf das einzige Mutterbild als Jüngling ejakuliert zu haben bzw.
seine Freunde angeleitet zu haben, hierauf zu ejakulieren. Oder die
ständigen, wohligen, immer erotisch gefärbten Kindheitserinnerungen über die
gemeinsamen Unternehmungen mit seiner so verehrten Zwillingsschwester.
Banalität des Beschreibens
Aber halt. Oben steht, Littell erzähle. Littells Aue erzählt? Nein. Genau
das macht er nicht. Und das ist das Kardinalproblem dieses Buches: Littell
lässt Aue nicht erzählen, sondern berichten. Und das mit einer ermüdenden
Detailversessenheit. Streckenweise liest sich das wie ein Zeugenbericht. Ein
Zeugnis vor dem jüngsten Gericht des Lesers, der auch noch ab und zu
angesprochen wird? Unter Weglassung jeglicher entlastender "Beweise"? Eine
Feuerzangenbowle des Massenmordens? Nein, eher eine schier unendliche Suada
der Banalität des Beschreibens.
Zwei Mal wird diese Detaillastigkeit kurz durchbrochen. Einmal, als es um
die
"Posener Rede" Himmlers geht,
als plötzlich in langen Schachtelsätzen, fast ein bisschen hysterisch eine
Rechtfertigung zu erkennen ist (weil Himmler hier unverschlüsselt von
"Vernichtung" spricht und nicht mehr in Euphemismen redet) und einmal, Seite
1088, als Aue selber seiner bürokratischer Einzelheiten überdrüssig
geworden scheint und verspricht, dieses langweilige Datumschieben zu
unterlassen – um dann in kurzer Zeit im normalen Duktus zurückzufallen.
Ähnlich wie Bret Easton Ellis' Massenmörder Bateman immer die entsprechenden
Markenartikel seinen jeweiligen Gesprächs-, Geschäfts- (und Sexual-)
Partnern zuordnet (eine weitere Gemeinsamkeit liegt in beider obsessiver
Faszination weiblicher Vaginae gegenüber – während Bateman die seiner
Mordopfer im Kühlschrank stapelt, imaginiert Aue sie beim Anblick hilfloser
Gefangener eines Konzentrationslagers oder der Frau des Lagerkommandanten),
so beschreibt Aue die Personen, die er trifft physiognomisch genau, betitelt
sie korrekt und rubriziert sie mit Dienstgrad und Dienststellung in die
entsprechende Organisation,
Rang und Verwaltungsebene
ein. Zwar heisst es, dass ihm die ganzen Rangordnungsrituale der SS
suspekt seien, aber kurz vorher spricht Aue – wie selbstverständlich – vom
Prinzip der doppelten Unterordnung. Das Gespinst, welches sich da
auftut, ist schwer zu entwirren, vermittelt jedoch durch die Bestimmtheit
des Vortrags Authentizität. Derart eingestellt, wird der Leser zunächst
einmal zwangsweise zum Kumpanen, der (mangels Gelegenheit) die Urteile und
Einordnungen zunächst einmal übernimmt.
Aue – ein multifunktionaler "Zelig"?
Problematisch wird dieses Vorgehen, wenn Aue auf Persönlichkeiten der
Zeitgeschichte trifft, was sehr häufig geschieht, weil Aue auch fast überall
"embedded" ist: Babi Jar; Kaukasus; Stalingrad; Berlin; Auschwitz;
Mittelbau; Posener Rede – immer auf der Höhe des jeweiligen Massakers oder
Ereignisses.
Littells Verfahren geht auf Kosten der Hauptfigur Aue, die trotz ihrer
Anlagen seltsam konturlos, ja blass bleibt. Klaus Theweleit, der das Buch
vehement gegen Kritik in Schutz nimmt, sieht in dieser charakterologischen
Verkümmerung der Figur einen Ausweis von "Multifunktionalität". Für ihn ist
es ein Kunstgriff Littells, der damit alle Facetten des Krieges und der
Vernichtung aufzeigen will. Eine Charakterstudie, so unterstellt Theweleit,
sei von Littell gar nicht intendiert worden. Er macht Aue damit zu einer Art
Leonhart Zelig, jenem omnipräsenten, chamäleonhaften
Mockumentary-Helden Woody
Allens. Demzufolge wäre Aue eine Art "Mann ohne Charakter" – was er aber
dezidiert genau nicht ist, denn Aues Privatleben "erleben" wir als Leser
sehr wohl (und damit ist nicht nur seine Sexualität gemeint). Aue bekommt
sehr wohl Eigenschaften zugewiesen, die ihn genau nicht zum bloss
"simultanen Ort der Beobachtung" (Goedart
Palm) machen, sondern zum Menschen aus Fleisch und Blut (und Kot
und Sperma).
Ständig produziert das Buch dokumentarisch verbrämte historische "Wahrheit".
So trifft sich Aue mehrfach mit Himmler (»mein Reichsführer«),
verkehrt in der Familie von Adolf Eichmann, mit der französischen Rechten (Rebatet,
Maurras, Brasillach), wird einige Zeit zum Verbündeten Speers – und beisst
am Ende im Führerbunker bei einer Ordensverleihung Hitler in die Nase. Und
auch die Gruppenführer, Standartenführer, Kommandanten und Adjutanten –
alles Personen, die tatsächlich existiert haben: Blobel, Bierkamp, Brandt,
Globocnik, Höß, Pohl, Rasch, Ohlendorf - und wie sie auch immer heissen (all
diese Massenmörder fein säuberlich galeriert als Diashow) und
denen Littell durch die Figur Aue Handlungen, Gefühlsregungen, Reden,
Aktionen, Intrigen und Rechtfertigungen "andichtet". Von den
Hauptprotagonisten im Buch sind nur sein "Freund" Thomas Hauser (der Aue
mindestens dreimal das Leben rettet und am Ende doch von ihm erschlagen
wird, um dessen Papiere für eine neue Identität als französischer
Fremdarbeiter zu erlangen) und die "graue Eminenz" Mandelbrod fiktive
Figuren (abgesehen von Aues Familie).
Wohl gemerkt: Littell legt hier historischen Figuren Sätze in den Mund, die
sie zu der fiktiven Figur Aue gesagt haben und die mehr als ein
Händeschütteln oder Armhochstrecken hinausgehen. Somit entsteht mindestens
oberflächlich, aber auch suggestiv der Eindruck, dass die fiktiven Memoiren
eben nicht fiktiv sind, sondern tatsächlich echte Sachverhalte und Dialoge
wiedergeben. Littell macht sich nicht die Mühe der Verfremdung. Das bei
solchen Büchern ansonsten übliche "Wer ist wer"-Ratespielchen entfällt.
Warum macht er das? Die Gefahr ist gross, setzt er sich doch der Kritik von
Historikern aus, die im ein oder anderen Fall Diskrepanzen zur
zeitgeschichtlichen Figur erkennen mögen. Dass dies bislang nicht
aufgetreten ist, mag mit der Kürze der Zeit, in der das Buch erst in
deutscher Sprache vorliegt, zu erklären sein. Vielleicht hat Littell auch
gut recherchiert (obwohl das nie ein Qualitätskriterium von Literatur ist).
All das geht leicht unter in diesem suggestiven Beschreibungsfuror, der die
Probleme und Verstrickungen einer unmittelbaren hinter einer Front
verlaufenden bürokratischen Administration zeigt, die sich einem perversen
Ziel verschrieben hat und die durch die Aufsplitterung in unterschiedlichste
Organisationen und Unterorganisationen in oft kurios anmutende
Kompetenzprobleme kommt. Exemplarisch zeigt sich das Ende 1942 in der Frage,
ob die kaukasischen Bergjuden als rassische Juden zu betrachten sind und
entsprechend "behandelt" (ergo: vernichtet) werden sollen – oder ob sie, wie
dies Vertreter der Wehrmacht verfechten, als ethnisch und rassisch eher der
einheimischen kaukasischen, in viele Ethnien zerfallenden Bevölkerung zu
betrachten sind und somit mit in eine integrative Besatzungspolitik
eingebunden werden sollen.
Auf hunderten Seiten werden die Entscheidungsfindungsprozesse, die
administrativen und institutionalisierten Akte hierzu aufgefächert- sowohl
auf der Ebene der entsprechende Ämter und Behörden, als auch auf der
privaten Ebene, in dem eine Freundschaft zwischen Aue und dem
unkonventionellen Sprachforscher Voss ausgebreitet wird (der allerdings vor
Beendigung des "Entscheidungsprozesses" ums Leben kommt). Littell gelingt es
hier durchaus, den ganzen inhärenten Wahnsinn dieser Ideologie zu
illustrieren. Sogar eine "Expertin" aus Berlin wird hinter die Front
eingeflogen und "forscht" wochenlang (ihr Urteil stand allerdings schon
vorher fest). Als Aue, der einer Intrige ausgesetzt ist (man streut das
Gerücht einer homoerotischen Beziehung zu Voss – was nicht stimmt), in einem
Vortrag auf einer zu diesem Thema einberufenen Konferenz sich dezidiert von
den Thesen seines Vorgesetzen absetzt (der als SS-Kommandant natürlich auf
Vernichtung plädiert – schon, um bessere Zahlen präsentieren zu können) und
für eine andere Sichtweise eintritt, wird er von diesem in den Kessel von
Stalingrad versetzt, was nach Lage der Dinge einem Todesurteil gleichkommt.
Der scheitelaugige Zyklop
Spätestens hier wird Aue zu einer Figur, mit der man wenigstens
partiell Mitleid empfinden könnte. Littell – davon kann man ausgehen –
provoziert dies natürlich, um den Leser vielleicht aus dem bequemen Sessel
der Freund-Feind-Dichotomie aufzuscheuchen. Da aber retrospektiv erzählt
wird, ist der Spannungsbogen nicht gegeben, d. h. es ist vorher klar, dass
Aue überlebt.
Geradezu abenteuerlich allerdings wie dies geschieht: Er übersteht einen
Kopfdurchschuss (der Leser bekommt –zig Seiten wirrste Assoziationen
vorgesetzt, ohne dies zunächst zu erfahren), wird von Thomas in eines der
letzten Flugzeuge verbracht, die noch ausfliegen und er wacht mit einem
zyklopischen Scheitelauge im Kopf auf, einer klaffenden Vagina
gleich, welches ihm partiell synästhetische Eigenschaften verleiht (und
gelegentlich in den Wahn zu treiben droht, etwa, als er Hitler mit
Schläfenlocken und Rabbinerschal halluziniert), wird befördert, mit einem
Orden behängt und nach der Rekonvaleszenz (die er in einem SS-Pflegeheim, in
einem Berliner Hotel, in Paris und bei seiner Mutter verbringt) zeigt sich
abermals eine einengende, stetig präsente und irgendwie allwissende
Bürokratiemaschine. Aue versucht krampfhaft über sein Beziehungsgeflecht auf
eine Position in Frankreich versetzt zu werden, wo er in keinem Fall mit der
"Judenfrage" konfrontiert wird. Aber er scheitert in diesem
Dschungel…[der] streng darwinistische[n] Prinzipien, der die
Individualisierung derart negiert und fügt sich den in ihm gesetzten
Erwartungen anderer – um der "Karriere" willen und wird in den Stab um
Himmler versetzt.
Diese bis zur Erschöpfung verwandte Beschreibungssprache – oberflächlich dem
Protagonisten zuzuschreiben, aber letztlich von Littell initialisiert - kann
mehrerlei bedeuten: Zum einen soll uns damit etwas über die Persönlichkeit
des Dr. Maximillian Aue mitgeteilt werden. Vielleicht sollen wir glauben, es
handele sich um einen pedantischen, ein wenig elitären, arroganten
SS-Parvenue, der – wie so viele andere – seine Einsätze als Sprungbrett
begreift, um in der Zeit nach dem Krieg mit entsprechender Reputation
dazustehen. Die Bürokratie im Nacken spürend, fügt man sich in den
unangenehmen Dingen, um der "grossen Sache" zu dienen und zum Sieg zu
verhelfen. Aue wäre demnach ein mehr oder weniger angepasster Opportunist -
was nicht ganz stimmt, da er mindestens zwei Mal keine
"Gefälligkeitsberichte" schreibt, die Thesen enthalten, die man an gehobener
Stelle lesen will, sondern ein autarkes Urteil zeigen (später versteht er
auch das besser).
Zum anderen könnte es sich aber um einen Effekt Littels handeln, mit der das
Grauen, welches uns durch die Person Aue suggeriert werden soll, noch zu
verstärken. Dieser "Verstärker" wäre demnach die von fast jeglicher Empathie
befreite, kalte Sprache (die allerdings vor der eigenen Larmoyanz in
Stalingrad nicht besteht, als er in Tränen ausbricht ob seiner schier
ausweglosen Situation).
Anzeichen für diese Funktion gibt es insbesondere auf den ersten rund 200
Seiten. Aue ist in der Ukraine stationiert und mit Logistik und
Berichtswesen über die planmässige (und "logistisch" nicht ganz einfache)
Vernichtung von Juden beschäftigt. Dieses Massaker wird später als das von
"Babi Jar" in die Geschichte
eingehen. Eine Szene ist hier symptomatisch. Als er einem Exekutionskommando
befohlen ist – längst werden auch Frauen und Kinder hingerichtet – kommt aus
dem Pulk ein kleines Mädchen auf ihn zugelaufen und sucht seinen Schutz. Aue
beruhigt das Mädchen, streichelt es sogar, reicht es aber schliesslich einem
SS-Mann mit den Worten »Seien sie lieb zu ihr.« weiter. Aue bekommt
darauf hin eine schreckliche Wut im Bauch, entfernt sich vom Ort des
Grauens, geht in den Wald – und beginnt dort die erotischen Walderlebnisse
einer Kindheit zu imaginieren.
Oder der ukrainisch-jüdische Junge, der so grossartig göttlich Klavier
spielt. Wir hatten vorher erfahren, dass Aue als Kind das Klavierspielen
nach anfänglichem Eifer aus Faulheit schnell aufgegeben hatte. Der Junge
wird nun zur Projektionsfigur Aues und für eine kurze Strecke im Roman so
etwas wie Aues Echo (Nepomuk Schneidewein). Und als dem Jungen eines Tages
bei einem Unfall eine Hand zerquetscht wird und damit schlagartig
»vollkommen unnütz« geworden war, da er für die Klavieruntermalung in
der Offiziersmesse nicht mehr eingesetzt werden kann, wird er sofort
ermordet und die von Aue angeforderten Partituren seiner
Lieblingskomponisten kommen zu spät (und der Schmerz um die verpasste
Gelegenheit [sic!] ist schon da).
Erzählungsimpotenz
Beide Szenen machen sich in der (sicherlich unausweichlichen) Verfilmung
bestimmt gut. Man kann sich den bebenden Aue (Brad Pitt?) vorstellen, der
wegschauen will, es vor lauter grausiger Faszination aber nicht kann,
während die Geigen zum grossen Todesrequiem aufspielen. Aber selbst in
diesen doch eigentlichen bewegenden Szenen versagt die Sprache. So spricht
vieles für die These einer virulenten Erzählungsimpotenz Littells.
Seine Sprache ist dem Gegenstand nicht gewachsen. Sie ist schlecht. Eine
derart beschreibende Sprache muss schneidend sein, messerscharf und darf
nicht am Ende die Episoden des Rauchens mit denen als Notschütze im
Exekutionsgraben gleichsetzen. Littells Sprache ist "nur" cool. Es ist nicht
die Sprache Aues, die da vorgeschoben werden kann (jeder Autor bleibt für
die Sprache seiner Protagonisten "verantwortlich") – es ist das sprachliche
Unvermögen des Autors, welches ein herausragendes literarisches Werk
verhindert.
Deutlich sichtbar wird dies, weil sich Littell nicht auf die Darstellung –
die Erzählung! – des "Monsters" beschränkt, der – natürlich – durch seine
Intelligenz und Eloquenz (die sich oft genug als banale Geschwätzigkeit
entpuppt) einerseits an Schrecken verliert, andererseits jedoch – ein
bekanntes Muster – durch diese Verschlagenheit noch dämonischer wirken soll.
Aber dieser Dämonie vertraut der Autor nicht. Die "Banalität des Bösen", wie
sie sich "zeigen" könnte, reicht ihm nicht aus, da hat
Marcus Born vollkommen recht.
Aue wird aufgepeppt. Und so wird aus ihm ein Homosexueller (inklusive
ausschweifender Schilderungen und einem Loblied auf den männlichen
Analverkehr), der nur eine Frau geliebt hat in seinem Leben – seine
Zwillingsschwester Una, die er seit Kindertagen inzestuös begehrt (und
diesen Inzest mindestens einmal vollzogen hat). Und letztlich ist es die
Homosexualität Aues, die ihn in den SD und die SS treibt – er wird 1937 bei
einer Streife festgenommen und entkommt nur knapp der Anklage als
"Hundertfünfundsiebziger". Im Verhör wird er (von Thomas Hauser, seinem
späteren "Freund") – ja, was? erpresst? genötigt? – und die "Karriere" ist
vorgezeichnet.
Aber auch die Sexualität Aues sprachlich zu orchestrieren, scheitert. Die
Orgasmen, die er sich von bereitwilligen Männern (meist Kellnern), besorgen
lässt, kommen über die Beschreibung als Kugel aus weissem Licht kaum
heraus. Einmal zertrümmert er dabei noch sein Spiegelbild, als sich
plötzlich das Bild seiner Mutter über sein Gesicht schiebt. Das Vokabular
ist bei aller Lust an der Ausschweifung arg dünn. Unas Brüste sind immer
schwer, sein Penis ist entweder Geschlecht oder Schwanz
und das Sperma tritt meist in Fontänen aus.
Der Gipfel der Sprachfolter zeigt sich in dem von vielen Kritikern (und dem
Autor selber) als Nukleus bezeichneten Kapitel gegen Ende des Buches, als
Aue das Haus seiner Schwester (und ihres Mannes) besucht, beide jedoch nicht
antrifft und sich dort einige Wochen häuslich einrichtet, obwohl immer mit
einem Einmarsch der "Russen" zu rechnen ist. Aue verfällt dort in einen
phantasmagorischen Sexual- und Masturbationsrausch, der dem Leser über mehr
als 60 Seiten zugemutet wird, in dem er unzählige Male seine (abwesende)
Schwester beschläft, ihre Vulva untersucht, nebenbei philosophische
Gespräche führt und seine koprophilen Neigungen auslebt. Orgiastischer
Höhepunkt ist dann der Verkehr mit einem Baumstumpf, den er entsprechend
präpariert, damit sein Anus penetriert werden kann.
Die polymorph-perverse Sexualität Aues (deren Kenntnis dem Leser einen
Wissensvorteil gibt, wenn Aue mit den Granden der SS parliert), die fiktiven
Dialoge mit Persönlichkeiten der Zeitgeschichte und der unklare Tod seiner
Mutter und des Stiefvaters während seines Besuches (Aue vermag sich an
nichts mehr zu erinnern – er hat im Delirium die beiden ermordet und wird
dafür bis zum Ende von zwei Polizisten – den "Wohlgesinnten" - verfolgt) -
all dies ist aufgepfropft.
Und auch Aues psychosomatisches Vomieren (in Stalingrad wird daraus
vorübergehend ein exzessiver Durchfall), welches einen weichen Kern unter
der harten Schale suggerieren soll: Zeigt sich nicht gerade darin, dass Aue
die Exekutionen, diese Bilder der mitleidlosen Vernichtung menschlichen
Lebens, die er dem Leser im Kamingeplauder zumutet, als zwar als Unglück,
aber notwendig und unvermeindlich einstuft eben doch nicht so
"glatt" verarbeitet? Hiermit soll der Figur offensichtlich der dringend
fehlende doppelte Boden eingezogen werden.
Aber das Buch fällt auseinander. Denn entweder wir haben einen
bemitleidenswerten Protagonisten, der mehr oder weniger Getriebener einer
Bürokratie ist oder wir haben den kalten Dämon, der aus Überzeugung und ohne
Reue handelt – oder den perversen Lüstling, der seinen Dienst als Mittel zum
Zweck einer Karriere nach dem Krieg betrachtet. Aber Littell kann sich nicht
entscheiden. Er will alles – vielleicht sogar noch einen multifunktionalen
Mann ohne Eigenschaften. Und er scheitert, weil inmitten dieses
Authentizitätsberges diese Figur nicht zur Entfaltung kommt.
II. Ernst Nolte als Spiritus
rector
Littells Dr. Maximillian Aue ist noch in anderer
Hinsicht eine – freundlich ausgedrückt - ambivalente Figur: Durch
Ausschnitte und Wortgeplänkel aus den weltanschaulichen Salons des
Nationalsozialismus wird insinuiert, dass es so etwas wie einen "guten
Nationalsozialismus" gegeben habe. Aue wird zu seinem Prototypen;
desjenigen, der einer intellektuell untermauerten Ideologie anhing (Aues
grösstes Kompliment für den anderen ist, dass er ein wirklicher
Nationalsozialist sei), die leider nur um die Komponente des rassischen
Wahnsinns diskreditiert. Diese Deutung bietet sich unter anderem in der
Wiedergabe eines Gespräches in Stalingrad an, welches Aue mit einem hohen
sowjetischen Politkommissar führt.
Der Kommissar macht eloquent die Parallelen zwischen dem Bolschewismus und
dem Nationalsozialismus aus: »Im Endeffekt sind unsere beiden Systeme gar
nicht so verschieden […] Wo der Kommunismus nach der klassenlosen
Gesellschaft strebt, predigt ihr die Volksgemeinschaft, was im Grunde genau
das Gleiche ist, nur auf eure Grenzen beschränkt. Wo Marx im Proletariat den
Träger der Wahrheit erblickt, ist für euch die sogenannte deutsche Rasse die
proletarische Rasse, die Verkörperung des Guten und der Moral; infolgedessen
habt ihr den Klassenkampf durch den proletarischen Kampf Deutschlands gegen
die kapitalistischen Staaten ersetzt. Auch wirtschaftlich sind eure Ideen
nur ein verzerrter Abklatsch unserer Werte…Wo Marx seine Werttheorie auf die
Arbeit gründete, hat euer Hitler erklärt, dass die deutsche Mark, obwohl
nicht goldgedeckt, mehr als Gold wert sei…So ist das Geld für euch zum
Fetisch geworden, der die Produktionskapazität eures Landes repräsentiert –
eine vollkommene Verirrung…Eure Verantwortlichen predigen nach wie vor das
freie Unternehmertum, doch eure Industrien sind alle einem strikten Plan
unterworfen und ihre Gewinne auf sechs Prozent beschränkt, den Rest eignet
sich der Staat zusätzlich zur Produktion an.« Die einzige Ausnahme, so
der Kommissar, sei die »Ersetzung der Klasse durch die Rasse, die zu
eurem proletarischen Rassismus führt«, was ein kompletter Unsinn
sei.
Das grundsätzlich Gemeinsame beider "Weltanschauungen": »Sie sind beide
im Wesentlichen deterministisch; zwar rassischer Determinismus bei euch,
wirtschaftlicher Determinismus bei uns, aber eben doch Determinismus. Beide
glauben wir, dass der Mensch sein Schicksal nicht frei wählt, sondern dass
es ihm von der Natur oder der Geschichte auferlegt wird. Und beide
schliessen wir daraus, dass es objektive Feinde gibt, dass bestimmte
Kategorien von Menschen legitimerweise beseitigt werden können und müssen,
nicht aufgrund dessen, was sie tun oder sogar denken, sondern aufgrund
dessen, was sie sind. In dieser Hinsicht unterscheiden wir uns nur durch die
Definition der Kategorien: Für euch sind es die Juden, die Zigeuner, die
Polen und, wenn ich mich nicht täusche, sogar die Geisteskranken; für uns
die Kulaken, die Bourgeois, die Parteiabweichler. Im Grunde ist es ein und
dasselbe; beide lehnen wir den Homo oeconomicus der Kapitalisten ab – den
egoistischen, individualistischen Menschen, der in seiner Illusion von
Freiheit gefangen ist - und propagieren stattdessen den Homo faber: …den
Menschen, den es zu machen gilt, denn der kommunistische Mensch muss noch
geschaffen und erzogen werden, genau wie euer vollkommener
Nationalsozialist. Und dieser zu schaffende Mensch rechtfertigt die
unbarmherzige Liquidation all derer, die unerziehbar sind…«
Aue ist angetan von dieser Argumentation. Im Stillen bewundert er
tatsächlich den Bolschewismus für sein kompromissloses Durchgreifen
gegenüber Abtrünnigen. Auch die Formulierung, dass der
Nationalsozialismus eine Häresie des Marxismus sei, stösst bei Aue auf
Interesse. Der Unterschied zwischen den beiden Parteien wird
heruntergebrochen auf die Feststellung, dass der Bolschewismus »das Wohl
der gesamten Menschheit will«, während der Nationalsozialismus
»egoistisch ist, nur das Wohl der Deutschen will.«
Dieses Wortgeklingel in den Stalingrad-Ruinen (der Kommissar wird nach
diesem Gespräch wieder "entfernt" – und jedem ist klar, was mit ihm
geschieht), ist mehr als nur eine Episode. Mit den Parallelen zwischen
Nationalsozialismus und Bolschewismus legt Littell einem sowjetischen
Politkommissar
die These Ernst Noltes von 1986
fast in den Mund: "War nicht der 'Klassenmord' der Bolschewiki das logische
und faktische Prius des 'Rassenmords' der Nationalsozialisten? Sind Hitlers
geheimste Handlungen nicht gerade auch dadurch zu erklären, daß er den
'Rattenkäfig' nicht vergessen hatte? Rührte Auschwitz vielleicht in seinen
Ursprüngen aus einer Vergangenheit her, die nicht vergehen wollte?" Aus
diesem Text ergab sich seinerzeit der sogenannte Historikerstreit.
Geschichtsklitterungen
Littell restauriert hier eine Art von Nachkriegstrostparadigma der
"getäuschten" Generation(en), dass nicht alles so schlecht gewesen sei und
nur das exzessive Beharren in der "Judenfrage" der Fehler, eine Art
Ausrutscher gewesen sei. Auschwitz nur eine Reaktion auf die Gulags (Noltes
Obsession, wie Götz Aly bemerkte). Und auch wenn es sich um einen Roman
handelt: Das ist eine brandgefährliche Position, zumal sie ohne Brechung –
auch im weiteren Verlauf des Buches – virulent bleibt.
Und auch vor einer Geschichtsfälschung macht Littell nicht Halt: Die "graue
Eminenz" hinter all den Dingen, eine Art Rollstuhlbuddha mit Katzen und
blonden Assistentinnen, die sich SS-Offizieren auch schon einmal gerne
anbieten, jener Dr. Mandelbrod und sein Assistent Leland (beide Ende April
1945 bereit, ihre Dienste an Stalin anzudienen) – nicht das diese
Kunstfiguren immer wieder eingeschoben werden ist das Arge. Nein, das hier
suggeriert wird, dass hinter Hitler und Himmler "dunkle Mächte" (auch noch
mit einem jüdischen Namen [hierauf gehen Aue/Littell allerdings ein])
stehen, unterstützt es doch eine später oft vernommene Verschwörungstheorie,
dass Hitler eben selbst getäuscht geworden sei oder nicht anders gekonnt
habe.
Als Aue dann ab Mitte 1943 in den Stab Himmlers kommt und in einer
Zwitterposition zwischen SS und Speers Ministerium die Häftlinge vermehrt in
die Industrie einbinden möchte um den Frontlinien "Nachschub" aus der Heimat
zu verschaffen und sich daher für bessere Lagerbedingungen, mehr Verpflegung
und vernünftige Behandlung der Häftlinge einsetzen soll, zeigt sich
einerseits die Verbohrtheit und Statik einer Bürokratie, die irgendwann nur
um ihrer selbst willen zu existieren scheint, andererseits aber die
inzwischen zum Dogma mutierte rassenideologische Durchdringung der
entsprechenden Entscheidungsträger, die einzig in der Vernichtung dieser
Menschen ihre Aufgabe sehen.
Um Aue diesbezüglich nicht zu sehr als Lichtgestalt erscheinen zu lassen,
werden ihm diese sexuellen Perversionen oktroyiert, die – damit die
Literaturexegese was zum Entdecken hat – mit allen möglichen Allegorien
garniert werden (von de Sade über Bataille bis Houellebecq). So wird
Reflexion über und Identifikation mit der Figur verhindert. Aber, und da hat
Marcus Born abermals den richtigen Punkt
benannt, die Möglichkeit einer Identifikation wäre notwendig
gewesen, um die eingangs so grossmaulig aufgeworfene Behauptung Aues (die
auch Littells Doktrin sein dürfte), jeder hätte es ihm gleichgetan, für sich
beantworten zu können (übrigens auch keine unbedingt innovative These). Die
Distanzierung, die beim Leser einsetzt, verhindert diese Auseinandersetzung
und macht es leicht, sich diesen Kerl vom Leib zu halten (und Neurechten
erleichtert es, die Ideologie des Nationalsozialismus zu "retten").
Dr. Maximillian Aue weiss natürlich um sein Handeln – um nicht "Schuld" zu
sagen. Er ist intelligent. Er ist belesen. Er formuliert Kants kategorischen
Imperativ zum "Führer-Imperativ" um. Er verehrt Ernst Jünger (der einen
Cameoauftritt hat). All das wirft Littell in die Waagschale. Und Aue ist –
auch das wird dem Leser schon auf den ersten Seiten mitgeteilt – ohne Reue.
"Reue ist etwas für kleine Kinder", sagte Eichmann in Jerusalem. Ohne Reue
bedeutet hier aber auch: ohne Rechtfertigung. Aue sieht sich spezifisch
nicht als ein Rädchen im Getriebe. Seine Herangehensweise – und auch die
vieler, die in diesem Buch beschrieben werden – ist die einer
(pervertierten) Form von "Pflichterfüllung"; von Notwendigkeit (diese
Vokabel fällt immer wieder fallbeilartig). Aue ist – das ist folgerichtig –
überzeugt von der "Kollektivschuld" der Deutschen am Geschehenen. Für ihn
ist der "Führer" letztlich der Vollstrecker des Volkswillens. Somit ist am
Ende jeder schuldig, da auch in seinem Namen agiert wurde.
Littell paraphrasiert Hilberg.
Littells Aue hängt dem Lager der funktionalistischen Geschichtsschreibung
der Historiker an, die besagt, die Judenvernichtung sei sozusagen "ein
unglaubliches Zusammentreffen der Absichten, ein übereinstimmendes
Gedankenlesen einer weit ausgreifenden Bürokratie" (Raul Hilberg) gewesen
und nicht einem vorher gefertigten Plan entsprungen. Es sei, so Aue, ein
grotesker Irrtum, alle unsere Fehler nur dem Antisemitismus
anzulasten, was er mit der parallelen Vernichtung beispielsweise von
Geisteskranken, "Zigeunern" und Millionen von Russen und Polen
begründet. Littell übernimmt hier fast ohne Veränderung Hilbergs These, was
er im
Gespräch Pierre Nora
bestätigt (ein Dokument geradezu abstossender Liebedienerei, in dem Nora,
der immerhin als Historiker geführt wird, auf die vollkommen abwegige Idee
kommt, Littell sympathisiere mit Goldhagens These des "eliminatorischen
Antisemitismus", was exakt das Gegenteil dessen ist, was Littell
beabsichtigt). Die intentionale Geschichtschreibung, die sich unter anderem
auf Hitlers "Mein Kampf" bezieht, und einen grösser angelegten Plan sieht,
kommt nicht vor.
Ungelöst (weil ungestellt) bleibt die Frage, warum ein Schriftsteller, der
sich ja primär fiktional am Gegenstand "abarbeitet", überhaupt die eine oder
andere These vertreten soll.
Westentaschenpsychologisierend fügt Littell noch einige zusätzliche
Interpretationskrücken hinzu. Die Deutschen hätten, so ein Gedanke Aues, die
Juden aus einer Art Selbsthass ermordet – sie seien ihnen inzwischen viel zu
ähnlich geworden; alle den Juden zugeschriebenen negativen Eigenschaften
habe man inzwischen mehr oder weniger perfekt übernommen und sei inzwischen
kaum noch zu unterscheiden. Aber, so die Aussage, man hasse natürlich
nichts so sehr wie das, was [einem] am meisten gleicht.
Und ein andermal glaubt Aue, es sei eine rein technische "Aktion" gewesen,
was dort geschehen sei – man habe einfach eine Aufgabe gesucht und die
Judenvernichtung sei eben eine solche gewesen. Der Autor scheint letzterer
These, die eine rohe Prolongation von Raul Hilbergs Quintessenz ist, selber
anzuhängen – in Interviews (die nicht dem Buch angelastet werden dürfen)
spricht er gar davon, den Holocaust "dejudaisieren" zu wollen – was in
Verbindung mit obiger Aussage nichts anderes wäre, als die Millionen Toten
zu Kollateralschäden gelangweilter Bürokraten zu erklären. Nicht nur deshalb
hat
Harald Welzer recht, wenn er
meint, dieses Buch erklimme eine neue "Eskalationsstufe der
Nazi-Faszination". Und "nichts, was in diesem Buch steht", so Welzer,
"bringt irgendetwas Neues, inhaltlich wie ästhetisch." Ja, wie sollte es
auch irgendetwas Neues bringen? Nur, weil clevere Werbestrategen und sich
dienstbeflissen zeigende Literaturkritiker (und ein gross irrender Jorge
Semprún – ein Hoch auf ihn!) Littell zum Deus ex machina deklarieren?
III. Die Buchversteher
Womit wir bei der Rezeption
angekommen sind. Die Heftigkeit der feuilletonistischen Diskussionen
verwundern nicht. Die scharfen Kritiker des Buches werden einer
"idiosynkratische(n) Literaturkritik"
zugeordnet, die den "den pittoresken Glanz" als "ästhetisches Apriori
benötigt, weil anders diese Welt nicht sein darf" und "im Widerstand gegen
dieses Werk auf die Aporien und Vorurteile ihrer eigenen Disziplin" stösst (Goedart
Palm).
Der Gedanke, dass man den Gegenstand der Kritik aufgrund der Tatsache, dass
man dessen Ästhetik nicht wahrhaben wolle, ablehne, wird nicht belegt. Er
ist auch unzutreffend, genau so, als würde man behaupten, die perverse
Sexualität Aues sei die des Autors selber. Dabei spielt es übrigens auch
keine Rolle, mit welchen Vorschusslorbeeren oder Werbeaussagen das Buch
bedacht wurde (auch nicht von wem). Dass das Buch voreilig und grossmaulig
als "Jahrhundertroman" apostrophiert wurde, darf bei der nüchternen
Beurteilung keine Rolle spielen.
Das Scheitern dieses Buches liegt demzufolge nicht darin, dass eine
bestimmte Erwartungshaltung nicht eingelöst werden konnte. Die Argumente,
warum "Die Wohlgesinnten" missraten sind, wurden vorgebracht. Sie finden
sich innerhalb des Buches und nicht ausserhalb.
Littell hat genügend Potemkinsche Pappkulissen für Germanisten und
Romanisten und Kaffeesatzdeuter aufgebaut. Wer die Besprechung im
Literaturclub des Schweizer Fernsehens gesehen hat, weiss, was gemeint ist.
Corina Carduff und insbesondere Stefan Zweifel hoben mit dem Besteckkasten
ihrer literatur- und kulturhistorischen Deutungsmaschinerie zur grossen
Verteidigungsrede aus – die jedoch meistens darin gipfelte, den Kritikern
mangelndes Verständnis zu attestieren. (Zweifels
unkritische Besprechung spricht sogar vom "Tabubruch" – die
übliche letzte Zuflucht, wenn das argumentative Kaminfeuer längst
ausgegangen ist.)
In feierlich-frömmelndem Ton wurden Parallelen zu Aischylos und der
Elektra-Tragödie konstruiert, Aue flugs zum "mythologischen Helden" gemacht,
gleichzeitig natürlich die bereits erwähnten "Diskurse" um Bataille und de
Sade bemüht (sie hatten in der Eile Genet vergessen). Stefan Zweifel
verstieg sich gar zu der Mutmassung, Max Aue und Thomas Hauser seien
vielleicht aus der tatsächlichen Figur Max Thomas destilliert – ohne
vermutlich einmal nachzuschlagen, dass diese Figur rein gar nichts
historisches mit den beiden fiktiven Figuren mehr gemein hätte. Und schon in
den beiden Anfangssätzen sieht Zweifel Verweise auf François Villon und –
natürlich – Céline. Nur: Was nutzt das? Wie unwichtig, unbedeutend und
lächerlich ist ein Buch, in dem fast jeder Satz nur durch kontextuelle
Verweise auf andere literarische Werke seine Bedeutung bekommt und eine Art
eklektizistisches Mosaik darstellt?
Theweleit, der Musterschüler
Iris Radisch war in der Fernsehsendung sichtlich um
Schadensbegrenzung bemüht.
Ihre Besprechung in der "ZEIT"
hatte eine grosse Diskussion ausgelöst. Die dort geäusserte brachiale
Ablehnung veranlasste Klaus Theweleit zu suggerieren, die negative Haltung
beruhe auf einer Art Kränkung, der man anders nicht gerecht werden könne.
Daher die Ablehnung. "Man will das nicht" redet
Theweleit den Kritikern ein –
verlagert Ursache und Wirkung und delektriert sich am Überlegenheitsgefühl
des Buchverstehers.
Ihm sei klar gewesen, so Theweleit, solch ein Buch "müsse" man lesen. Nach
den ersten zweieinhalb Zeilen weiss er, dass der Autor "nicht zu den
schlechtesten zählt" (das Buch hat rund 45.000 Zeilen) und nach 700 Seiten
ist er sicher – "das geht nur so". Leider sagt er nicht, was denn genau
"gehen" soll.
Wie ein neues Evangelium empfängt Sisyphos Theweleit Littells Kaminplausch
und hebt es in den Himmel deutscher (!) Geschichtsbewältigung. Als heilige
das Thema die Form. In dem er jede kritische Reflexion derart
niederkartätscht und das Buch für sakrosankt erklärt, verspielt er nicht nur
seine intellektuelle Redlichkeit, sondern verspottet auch jahrzehntelange
Arbeit diverser Historiker.
Da ihm keine griffigen Argumente für das Buch einfallen zeiht er rasch
Radisch des journalistischen Rassismus. Am Ende entblödet er sich nicht im
abgestandenen, moralinsauren Altachtundsechziger-Jargon von der "Fortsetzung
der gewohnten deutschen Verdrängungen" zu lamentieren. Welche Bücher hat er
nicht gelesen, die das locker ins Dunkel stellen, was Littell hier als
Skandalon wohl inszeniert hat?
Ein Beispiel: Bereits 1960 (sieben Jahre vor Littells Geburt) gab es im
deutschen Fernsehen in der episodisch angelegten Reihe "Am grünen Strand der
Spree" (nach den Büchern von Hans Scholz) den Film "Tagebuch des Jürgen
Willms", in dem Massenexekutionen durch SS und Wehrmacht in quälenden Szenen
mit minutenlangem Maschinengewehrfeuer gezeigt wurden – ohne Rücksicht, ohne
Entschuldigung, ohne Ausflüchte. Die Premiere hatte rund zwölf Millionen
Zuschauer. Er wurde mehrfach wiederholt; vor allem in den 70er Jahren.
Dieser Film ist heute noch schwer anzuschauen, obwohl auf Splatterszenen
weitgehend verzichtet wurde.
Weist Theweleit aus Unkenntnis der zahllosen fiktionalen Literatur diesem
Buch einen Rang zu, der bei Lichte betrachtet vollkommen deplaziert ist?
Oder will sich nur einer als didaktischer Musterschüler deutschen
Bewältigungsfurors profilieren, der alle Hürden nonchalant aus dem Weg
räumt, um seinen gesinnungsästhetischen Heiligenschein aufzupolieren?
Dieses Buch stösst weder an die Grenzen der Literatur, noch an die der
Literaturkritik. Meine Ablehnung resultiert auch nicht aus einer irgendwie
gearteten "Kränkung"; ein absurder Gedanke, ungefähr dem des Geisterfahrers
ähnlich, der in einem Anfall von Hybris konstatiert, nur er habe die
korrekte Richtung eingeschlagen und alle anderen Fahrzeuge, die ihm
entgegenkommen, seien die Geisterfahrer.
Deutlich zeigt sich, dass die blosse Aneinanderreihung historischer
Ereignisse noch lange keine geschichtliche Aufarbeitung darstellt
(eigentlich eine Banalität). Auch in dieser Hinsicht ist das Buch unwirksam.
Das polyphone Kompositionsverfahren von Walter Kempowskis "Echolot"-Projekt
ist deutlich illustrativer. Statt sich zu freuen, dass die deutsche
Literaturkritik nicht mehr in einen Automatismus weihevollen Raunens beim
Thema "Holocaust" verfällt und eilfertig Gesinnungsurteile blanko
unterschreibt, sondern ästhetische und sprachliche Impotenz trotz aufwendig
und aufdringlich eingestreuter Bedeutungsmaschinerie als solche entlarvt und
die wohlkalkulierte Provokationen erkennt, wird sie beschimpft. Als sei der
Überbringer der schlechten Nachricht für diese verantwortlich.
Nein, liebe Leute, dieser Kaiser ist nackt!
Gregor Keuschnig
Alle kursiv
gedruckten Passagen sind aus dem besprochenen Buch.
Hier können Sie den
Beitrag kommentieren:
Begleitschreiben
|
Jonathan Littell
Die Wohlgesinnten
Aus dem Französischen von Hainer Kober
Berlin Verlag
1388 Seiten
36 €.
Hier können
Sie
den Beitrag kommentieren:
Begleitschreiben |