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Der unterschätzte Monarch

Michael Knoll über Johannes Willms streitbare Biographie über
Frankreichs letzten Kaiser Napoleon III.

Am Ende war Bismarck. Der Reichseiniger. Der ewige und eiserne Kanzler. Der Übergroße. Der oft auch übergroß Gezeichnete. Und in dessen oft überzeichneten Schatten verblasste eine Figur, die zu den großen, aber tragischen Gestalten Europas des 19. Jahrhunderts gehört: Napoleon III. Dass Johannes Willms dem letzten Kaiser Frankreichs nichtsdestotrotz mit viel Empathie begegnet, macht dieses Buch so sympathisch und informativ. Und dennoch wird Willms dem Enkel des großen Napoleons nicht in Gänze gerecht, weil auch er Bismarcks Politik zu sehr erhöht und zu wenig kritisch hinterfragt.

Aber beginnen wir mit den Anfängen und nicht mit dem Ende. Das Leben und die Karriere von Charles-Louis-Napoléon Bonaparte (* 20. April 1808) tragen abenteuerhafte Züge, eine romanhafte Figur in einem romanhaftem Jahrhundert. Dass er jemals den französischen Kaiserthron, den Thron seines Onkels Napoleon I., besteigen würde, war zur Stunde seiner Geburt und lange danach nur eine sehr entfernte Möglichkeit. Das erste Hindernis stellte seine eigene Familie dar. In der Thronfolge standen vier Familienmitglieder vor ihm. Erst nach dem Tod aller Prätendenten im Jahr 1846 avancierte er zum Chef des »Hauses Bonaparte« und war einziger legitimer Anwärter auf einen Thron, den es seit der Niederlage Napoleons I. in Waterloo 1815 allerdings nicht mehr gab. Nichtsdestotrotz bereitete sich Louis-Napoleon gewissenhaft auf eine mögliche Karriere als Kaiser vor. Schriften wie »Rêveries politiques« (1832) oder »Extincition du Paupérisme« (1844) wie Reisen nach England, wo er sich über Industrialisierung und Pauperismus informierte, bezeugen seine politischen Ambitionen. Er, so Willms, »war sich sicher, dass er nur eine günstige Gelegenheit abwarten und diese dann mit aller Entschlossenheit ergreifen musste«.

Diese »günstigen Gelegenheiten« allerdings führte er auch selber herbei. 1836 startete er einen Putschversuch in Straßburg, einen zweiten 1840 in Boulogne-sur-Mer. Beide scheitern. Die Folgen waren gravierend: Louis-Napoleon war ab August 1840 eine gescheiterte Existenz, der sein ganzes Vermögen verschleudert hatte und der sich nun in der Gewalt des Regimes befand, das er stürzen wollte. Willms interpretiert Boulogne und Straßburg aber nicht als das definitive Ende des Bonapartismus und der politischen Ambitionen Louis-Napoleons: »Gerade die Blamage des zweimaligen Scheiterns, …, war entscheidend dafür, die Sache und den Mann erfolgreich zu propagieren und beiden binnen weniger Jahre zur Macht zu verhelfen.«

Vor Louis-Napoleon lagen nun Jahre der Haft in der Festung Ham in der Picardie. Aus dieser Haft konnte er sich am 25. Mai 1846 befreien und in das Vereinigte Königreich fliehen. Diese Flucht kündigt das erstaunliche Comeback von Louis-Napoleon an. Zu Hilfe kamen ihm mehrere Dinge: Fähigkeiten wie sich in Geduld zu üben, andern gegenüber die eigenen Absichten zu verbergen und auf den günstigsten Moment zu lauern, Fähigkeiten, die er sich in seiner Haft angeeignet hatte; eine englische Dame, die über ein großes Herz wie über ein nicht minder großes Portemonnaie verfügte; sowie schließlich die Pariser Februarrevolution von 1848. Diese mischte die Karten neu und schuf mit der Einführung des allgemeinen und direkten Wahlrechts für Männer die politische Rahmenbedingung für Louis-Napoleon, um agieren zu können. Er kandidierte bei den Nachwahlen vom 4. Juni 1848 und wurde gewählt. Einen Fehler der provisorischen Regierung nutzte er gekonnt aus. Den Beschluss, Louis-Napoleon sofort zu verhaften, sollte er in Frankreich erscheinen, wurde von der Verfassungsgebenden Versammlung als Akt schlichter Willkür angesehen, was sie sich nicht gefallen ließ. Sie beschloss mit großer Mehrheit die Anerkennung von dessen Abgeordnetenmandat. Nun bewies Louis-Napoleon politischen Instinkt und kündigt seinen Mandatsverzicht an.

Eine richtige Entscheidung, bewies er doch seine Unabhängigkeit und Distanz gegenüber Regierung wie Versammlung, die durch die brutale Niederschlagung des Juni-Aufstands diskreditiert wurden. Die soziale Ordnungsvorstellungen der Bourgeoisie wurde wiederhergestellt, allerdings auf Kosten des Proletariats von Paris. Die sozialpolitischen Illusionen waren in einem Bürgerkrieg zerstoben, womit Louis-Napoleon gerechnet hatte. Seit dem Frühsommer 1848 stand Louis-Napoleon das Tor zur Macht offen.

Louis-Napoleon, zu dessen Stärke es vor allem zählte, dass er von allen seinen Gegnern weit unterschätzt wurde, erreichte bei der Präsidentenwahl am 10. Dezember 1848 einen überwältigenden Triumph. Am 20. Dezember 1848 wurde Louis-Napoleon Bonaparte zum ersten Präsidenten der II. Republik vereidigt. Drei Jahre später, kurz vor dem Ende seiner Amtszeit, führte er einen Staatsstreich durch, den er sich legitimieren ließ. Am 21. Dezember 1851 stimmten in einer Volksabstimmung 7,5 Millionen Franzosen für, 640.000 gegen ihn. Noch deutlicher fiel das anschließende Plebiszit zur Wiederherstellung des Kaisertums am 21. November 1852 aus. Louis-Napoleon ließ sich am Jahrestages seines Staatsstreiches zu Napoléon III, zum Kaiser der Franzosen ausrufen. Damit begann Louis-Napoleons Herrschaft in Frankreich, das er, so Willms Einschätzung, »länger und erfolgreicher als alle seine Nachfolger im Amt des französischen Staatschefs regiert hat.«

Wie kommt Willms zu einer solchen Einschätzung über einen Mann, mit dem vor allem die französische Niederlage gegen Preußen-Deutschland in Sédan verbunden wird? Es sind die Aspekte der Regierungsführung wie des gesellschaftlich-wirtschaftlichen Aufbruchs, die Napoleon, gerade im Vergleich mit seinem Gegenspieler Bismarck, so modern erscheinen lassen.

Was seine Regierungsführung angeht, so war Napoleon sich früh bewusst, dass eine Herrschaft gegen das Volk im aufziehenden Zeitalter der Massen nicht erfolgreich sein kann. Schon 1832 hatte er postuliert, dass die Thronbesteigung eines Bonapartes durch das Volk mittels Abstimmung bestätigt werden muss. Während die konkurrierenden politischen Bewegungen in Zirkeln und Hinterzimmern agierten, schwor Louis-Napoleon in Sommerreisen durch das Land die Bevölkerung auf seine Person ein und machte es mit seinen politischen Zielen vertraut. Stets nutzte er auch die Gelegenheit, Charisma und Popularität seines Onkels zu nutzen. So etwa im Sommer 1849, als eine Choleraepidemie in Paris wütete. Napoleon erschien im Pariser Hôtel-Dieu und schenkte Cholerakranken Trost. Dies spielte an das Vorbild Napoleon I. an, der die Pestkranken in Jaffa besuchte hatte, eine der Ikonen des Napoleon-Kults, von dem Napoleon III. zehren konnte.

Napoleon war zugleich ein Mächtiger, der die Mächtigen nicht zu Freunden hatte. Dies erklärt auch den häufigen Widerspruch zu seinen Ratgebern. Wenn Napoleons Politik von der Zustimmung der Franzosen getragen werden sollte, musste er sie oft genug gegen Minister, Bürokraten oder Parlamentarier durchsetzen, die sich vor allem aus dem nach wie vor orléanistisch oder legitimistisch gesinnten Bürgertum rekrutierten. Dies erklärt den Vorwurf, Napoleon sei eine Sphinx, über dessen Entschlüsse stets der Schleier tiefen Geheimnisses gebreitet war. Ihm gelang es damit, die Macht der Notabeln durch die Unterstützung der Massen auszuhebeln. Deren Lernfähigkeit sollte sich schließlich gegen das napoleonische Regime wenden. Denn als die Bevölkerung merkte, dass ihre Renitenz gegenüber den örtlichen Aristokraten, den Pfarrern und Notaren folgenlos blieb, reagierten sie zunehmend auch auf den Druck, den das napoleonische Regime mittels der Präfekten auf sie ausübte, mit kritischer Distanz. Mit dieser Politik schuf Napoleon Grundlagen für eine Herrschaftsform, die rudimentär-demokratischen und autoritären Charakter hatte. Heutzutage werden Staaten, die eine ähnliche Politik aufweisen, als »gelenkte Demokratien« bezeichnet.

Wesentlich für den politischen Erfolg waren die sozial- und wirtschaftspolitischen Innovationen, die dem Phänomen des Pauperismus begegneten. Indem Napoleon eine Politik des »deficit spending“ verfolgte, startete er eine keynesianische Politik vor Keynes. Er finanzierte einen Strukturwandel, der für die wirtschaftliche Modernisierung Frankreichs unerlässlich war, und setzte damit die Kräfte kapitalistischen Wirtschaftens auf nationaler Ebene frei. Die Bedeutung Napoleons lag darin, zu erkennen, welche Bedeutung Wirtschaft und Wirtschaftspolitik im Aufzug der Moderne hatte. »Allein das verschafft Napoleon III. als Staatsmann einen Rang, den anzuerkennen viele sich bis heute weigern«, wie Willms positive Einschätzung Napoleons lautet.

Die Leistung dieser Politik erlebt jeder Parisreisende beim Flanieren durch die Avenuen und Boulevards der französischen Hauptstadt. Die Transformation von Paris war beispiellos und kann bis heute als die gelungenste und gründlichste Modernisierung einer großen Stadt gelten. Für Napoleon war das Zeugnis der zukunftsweisende Modernität seiner Ideen. Paris war Propaganda für sein Regime, das dem Prestige ganz Frankreichs einen neuen Glanz verschaffte. Heute gilt die Transformation als Werk Georges Eugène Haussmanns, zu Recht, der Urheber aber war, auch daran erinnert Willms, Napoleon III.

Johannes Willms hat das Verdienst, die innenpolitischen Erfolge Napoleons klar und deutlich herausgestellt zu haben und damit eine Person zu Ehren kommen zu lassen, die durch die Geschichtsschreibung arg geschmäht wurde. Bei der Darstellung des außenpolitischen Scheiterns des französischen Kaisers folgt er mir aber zu sehr der preußisch-deutschen Historiographie, die nach wie vor zu sehr von einer Zwangsläufigkeit des Bismarckschen Erfolges ausgeht. Napoleons Scheitern war weder 1866 noch 1870 eine ausgemachte Sache. Auf die Darstellung anderer außenpolitischer (Miss-)Erfolge wie des Krimkrieges, des politischen Abenteuers in Mexiko und seiner Italienpolitik, mit der er die katholischen und konservativen Schichten der französischen Bevölkerung, u.a. auch seine Frau, von seinem Regime entfremdete, soll hier nicht näher eingegangen werden. Im Zentrum soll das Verhältnis Napoleons zu Preußen stehen.

Die nervöse Großmacht, die Preußen auch schon während der 60er Jahre des 19. Jahrhunderts war, stritt sich mit Österreich um eine Lösung der deutschen Frage. Lange Zeit sah es so aus, als könne Napoleon lachender Dritter sein. Für viele wahrscheinliche Fälle hatte er Vorkehrungen getroffen, nur für einen Fall nicht, den raschen Sieg der Hohenzollern über die Habsburger. Und dieser Sieg konnte als sehr unwahrscheinlich angesehen werden, denn beim Vergleich der beiden Armeen im Deutsch-Dänischen Krieg hinterließ die österreichische einen deutlich besseren Eindruck als die preußische. Königgrätz bedeutete nicht den vorweggenommene Sieg von Sédan, aber Napoleon verlor die politische Initiative und hatte, schwerkrank, keine Kraft mehr, ausstehende Reformen, wie die der Armee, durchzusetzen.

Aber nicht einmal die unterlassenen Anstrengungen zwischen 1866 und 1870 bedeutete eine zwangsläufige Niederlage, so wie sie Willms suggeriert. Mit dem Chassepotgewehr und der Mitrailleuse, einer Art Maschinengewehr, war die französische Armee sehr gut ausgestattet. Auch war die preußische Kriegsführung weniger genial wie oft behauptet. In die Schlachten Anfang August bei Spichern, Weißenburg und Wörth stolperten die Preußen eher hinein, als dass sie sie geplant hätten. Den Kriegsverlauf zwischen Frankreich und Preußen-Deutschland und seinen Ausgang fasste der britische Historiker Christopher Clark, der eine gesunde Distanz zur deutsch-preußischen Geschichtsschreibung aufweist, folgendermaßen zusammen: »Wichtiger aber dürfte gewesen sein, dass sie [d.h. die Preußen] schlicht weniger Fehler begingen als der Gegner.«[1] Diese Respektlosigkeit vor der borussischen Historiographie hätte ich mir gerne auch öfter von Willms gewünscht.

Nach der Niederlage von Sédan und dem Zusammenbruch des Second Empire ging Napoleon als kranker, gebrochener Mann ins Exil nach England. Er lebte in Chislehurst, heute ein Stadtteil im Südosten Londons, wo er am 9. Januar 1873 an den Folgen einer Operation starb. Napoléon III. wurde in der kaiserlichen Krypta der Sankt-Michaels-Abtei in Farnborough bestattet, wo auch seine Frau und der »prince impérial«, der 1879 im Zulukrieg gefallene Sohn Napoléon Eugène Louis Bonaparte, begraben liegen. Bei seiner Beerdigung waren neben den Familienangehörigen und den Repräsentanten des untergegangenen Regimes auch eine Delegation von Pariser Arbeitern vertreten. Ein Zeichen, das Willms zurecht als »Anerkennung seines Engagements im Bereich der Arbeits- und Sozialgesetzgebung« interpretiert.

Johannes Willms, diesem exzellenten Kenner der französischen Geschichte des 19. Jahrhunderts, ist mit seiner Biographie über Frankreichs letzten Kaiser ein beeindruckendes Buch gelungen. Die Neubewertung und die Anerkennung der Modernisierungsleistungen Napoleons für die französische Gesellschaft und Wirtschaft standen seit langem aus. Nun bedarf es einer kritischen Neubewertung Otto von Bismarcks, um zu erkennen, dass der preußische Kanzler und der französische Kaiser auf einer Augenhöhe standen. Napoleon scheiterte nicht an einer übergroßen historischen Figur, sondern an einem Gambler, der in den wichtigen Spielen seines Lebens, das sei zugegeben, stets das nötige Glück hatte. Innenpolitisch, wirtschafts- und sozialpolitisch steht dieser Spieler im Schatten des letzten französischen Kaisers. Michael Knoll

[1] Christopher Clark, Preußen. Aufstieg und Niedergang 1600-1947, München (DVA) 2007, S.631.
 

Johannes Willms
Napoleon III.
Frankreichs letzter Kaiser
C.H.Beck 
311 S.: mit 12 Abildungen.
Gebunden
24,90 €
ISBN 978-3-406-57151-0

Leseprobe

 

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