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Artikel online seit April 2009

Grandioses Panorama

Klaus-Jürgen Bremm über Philipp Bloms mitreißende
Inszenierung europäischer Geschichte »Der taumelnde Kontinent.
Europa 1900-1914«

Von
Klaus-Jürgen Bremm





 

Nicht erst die tödlichen Schüsse von Sarajewo beendeten das so genannte lange 19. Jahrhundert, sondern bereits die bahnbrechenden Entdeckungen Freuds, Einsteins und der beiden Curies. Damit ist jedoch nur ein geringer Bruchteil jener unglaublichen Fülle von schockierenden Neuerungen in Wissenschaft, Technik, Kunst und Literatur benannt, die innerhalb von nur anderthalb Dekaden das stolze bürgerliche Zeitalter mit seinen männlichen Gewissheiten zum Wanken brachte. In beinahe chronologischer Form beschreibt der Historiker Philipp Blom, wie sich Europa seit dem Jahr 1900 in immer schnelleren Schritten und für die meisten Zeitgenossen beklemmend wahrnehmbar in eine andere Welt verwandelte. Jedem Jahr widmet er ein Kapitel und zerlegt damit den allgemeinen Umbruch in seine unterschiedlichen Facetten. So widmet er das Jahr 1903 den wissenschaftlichen Entdeckungen, die den tradierten physikalischen Kosmos zum Einsturz brachten, das Jahr 1905 focuisiert das sich rasch zersetzende Zarenreich, während das mit „Wagners Wahn“ überschriebene Jahr 1913 das nur wenig später einsetzende Massenschlachten des Weltkrieges schon „en miniatur“ vorwegnimmt. 
Den taumelnden Kontinent nennt Blom sein Panorama einer sich an Geschwindigkeiten berauschenden Zeit, aus der sich bereits sämtliche Monstrositäten des späteren Totalitarismus herausfiltern lassen. Alles was die Moderne ausmachte, ihre Dynamisierung der Lebenswelten, ihre emanzipatorischen Fortschritte, aber eben auch ihre unglaublichen Verbrechen hatten ihren Ursprung in den anderthalb Dekaden vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges. 

Alle diese in atemberaubender Geschwindigkeit auf die europäische Menschheit hereinbrechenden Veränderungen betrafen insbesondere das Selbstbild des weißen Mannes. Unermüdliche, immer präziser arbeitende Maschinen und selbstbewusste Frauen, die es wagten, aus ihrer gefälligen Rolle als Hausfrau und Mutter auszubrechen, stellten seine Kraft und seine Dominanz ernsthaft in Frage. Neurasthenie war die männliche Volkskrankheit der Vorkriegsjahre, ein Gefühl ständiger Nervenschwäche und hoffnungsloser Überforderung, das heute gern als „Burn-out“ bezeichnet wird. Nervosität war darum auch das Stigma der Zeit und keineswegs nur auf das Deutsche Reich beschränkt, wie es einige gängige Buchtitel glauben machen wollen.
Alle diese Beobachtungen sind nicht neu, aber in ihrer Komprimierung entsteht ein stimmiges Gesamtbild, das den Weg in die Urkatastrophe Europas verständlicher macht. Bemerkenswerterweise klammert Blom die politische Geschichte der Zeit fast vollkommen aus. Das Wettrüsten und die Sucht nach diplomatischen Erfolgen: Für ihn sind es nur Symptome einer tief verletzten Männlichkeit, die sich in Duellen und Uniformfetichismus noch in vergleichsweise harmloser Form präsentiert, jedoch mit einem sich zu Eugenik und umfassenden Ausrottungsplänen mutierenden Pseudowissenschaft apokalyptische Formen annimmt. Allerdings sollte erst die breite Erfahrung eines verrohenden Massenschlachtens im folgenden Krieg die letzten emotionalen Barrieren auf dem Weg zum Genozid beseitigen. Zu Papier gebracht waren die Ideen schon längst.

Bloms beeindruckende Arbeit lässt den Leser noch einmal nachvollziehen, warum der Kriegsausbruch 1914 von vielen Menschen damals als Befreiung aus einer zunehmend mit Skepsis betrachteten Zukunft empfunden wurde. Zurück zum Ursprung, zum wahren Menschentum, dessen archaischer Opfersinn den schnöden Materialismus überwinden half. Bewährung und Kampf waren die Zauberworte, die eine Renaissance des Männlichen verhießen. Der Krieg war die Domäne des wahren Mannes, dem die zivile Welt seine Würde genommen hatte. Frauen, Juden und Sozialisten hatten darin nichts verloren und nach einem siegreichen Ende sollten die Karten neu gemischt werden. Dass aber auch das gern gepflegte romantische Bild eines von Helden geführten Krieges schon nach den ersten Schlachten auf den Müllhaufen der Ideen geworfen werde musste und in einem totalen Krieg die Frauen, wenn auch noch nicht in die Schützengräben, so doch aber in die Vermittlungszentralen und Werkbänke einrücken würden, ahnten in den euphorischen Augusttagen allerdings noch die wenigsten. Dies jedoch sind bereits Schlussfolgerungen, die Blom, obwohl sie zum Greifen nahe liegen, getrost dem Leser überlassen kann. Auch darin zeigt sich die Klasse seines Buches, das ohne zu übertreiben zu den wohl anregendsten historischen Publikationen dieses Jahres gerechnet werden darf.  

Philipp Blom
Der taumelnde Kontinent
Europa 1900-1914
Hanser
536 Seiten
25,90 €
ISBN 978 3 446 23292 1


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