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Sonderweg der Moderne?

Jan Philipp Reemtsma fragt nach dem Status der Gewalt in der modernen Gesellschaft

Von Walter Delabar


Für Zivilisationstheoretiker in der Nachfolge von Norbert Elias ist der Status der Gewalt relativ klar: Sie wird vermieden, wo es nur möglich ist, ist allerdings gelegentlich ein notwendiges Regulativ. Nämlich immer dann, wenn es keinen anderen, einfacheren und weniger kostenintensiven Weg gibt. Als ultima ratio funktioniert die Gewalt dabei innerhalb von Gesellschaften ebenso wie in den Beziehungen zwischen ihnen. Sie ist selbstverständlicher, auch notwendiger Teil menschlicher Interaktion, auch wenn sie durchaus nicht geschätzt wird (auch nicht in den traditionalen Gesellschaften).

Dieses Denkmodell funktioniert wenigstens einigermaßen in allen Gesellschaften, unabhängig vom Grad der Komplexität ihrer Organisation oder von der Qualität ihrer Herrschaftsstrukturen. Konkurrenz und Dominanzstreben sind dabei ebenso ubiquitär wie Tendenzen, die verschiedenen Faktoren und Akteure, die in einer Gesellschaft eine Rolle spielen, auszugleichen. Zwar gibt es zum Teil harsche Kritik an den Grundannahmen der Zivilisationstheorie. Insbesondere ihr kaum verdecktes, allzu optimistisches Menschenbild und ihr Geschichtsbild, das als eine Art impliziter Teleologie den Fortschritt perpetuieren zu wollen scheint, haben die Kritik auf sich gezogen. Aber auch wenn Elias die These vertreten hat, dass im Prozess der Zivilisation externer Druck verinnerlicht wird und zu Verhaltensstandards gerinnt, die selbständig eingehalten werden, hat er doch Gewalt aus dem Kontext des Gesellschaftlichen nicht wegdenken wollen. Sie war als menschliche Interaktions- und Kommunikationsform immer präsent, ebenso wie den Akteuren die Kosten, die sie verursacht, präsent waren.

Jan Philipp Reemtsma nun stellt eine in der Tat bedenkenswerte Basishaltung in der Moderne in den Vordergrund seiner Untersuchung: Das Verhältnis von Vertrauen zur Gewalt. Moderne Gesellschaften bieten ihren Mitgliedern in weiten Teilen des sozialen Raums Sicherheit, sei es als Rahmen für soziales Handeln, sei es als Schutz der individuellen Existenz. Menschen in der Moderne können also darauf vertrauen, dass sie sich in der Regel unbehindert und vor allem unbedroht in ihren sozialen Räumen bewegen können. Wer die Straße betritt, weiß, dass er auf den Verkehr achten muss. Er weiß aber auch, dass der Verkehr bestimmten Regeln folgt, die es verbieten, Fußgänger zu verletzen. Wer sich an diese Regeln nicht hält, muss mit Sanktionen rechnen. Auch wenn also die subjektive Befriedigung eines Täters groß sein mag, wenn er als Autofahrer einen Fußgänger niedermacht. In der Regel wird er darauf verzichten - nicht zuletzt weil das Überfahren von Fußgängern regulär kein Ziel von Autofahrern ist und der Preis, wenn er sich dazu hinreißen lässt, doch recht hoch berechnet wird.

Dieses Geschäft ruht freilich, so Reemtsma, auf einer diskussionswürdigen Basis. Zum einen ist Gewalt zwar in der modernen Gesellschaft sanktioniert. Aber das trifft eben nicht auf jede Gewaltanwendung zu. Im staatlichen Gewaltmonopol nämlich lässt sich erkennen, dass Gewalt nicht grundsätzlich verboten ist, sondern es verbotene und erlaubte Gewaltanwendungen gibt - im übrigen auch für die Einzelnen selbst, etwa in der Notwehr. Gewalt erfährt zwar in der europäischen Gesellschaften eine weitgehende Ächtung. Die Unversehrtheit des Körpers wird zum eigenständigen Wert, die Folter als Befragungstechnik fällt dabei unter Acht und Bann. Womit nebenbei das Ziel der Gewalt, der Körper des Einzelnen, benannt worden ist.

Zum anderen sieht Reemtsma eine deutliche qualitative Lücke zwischen Macht und Gewalt. Gewalt, so Reemtsma, stiftet Macht, aber in dem Moment, in dem der Machthaber Gewalt anwendet, verliert er sie. Das wiederum beruht darauf, dass Macht eben nicht die Anwendung von Gewalt ist, sondern auf Anerkennung der Machtposition beruht. Der Mächtige, der Gewalt ausübt, verliert jedoch seine Anerkennung und mindestens mittelfristig seine Macht.

All das verträgt sich noch sehr gut mit der Zivilisationstheorie. Allerdings führt Reemtsma ein für ihn entscheidendes Argument ein, nämlich die Trias von Gulag, Auschwitz und Hiroshima, also das Eindringen der Gewalt in die Zivilisation des 20. Jahrhunderts. Was passiert hier? Eine Gesellschaft, die sich stetig weiterentwickelt und in der Fremdzwang zu Selbstzwang umgesetzt worden ist, fällt in die Barbarei zurück? Weil sie sich überlegen fühlt? Weil ihre Machthaber ihre Position sichern sollen? Weil die Entscheidungsträger herausfinden wollen, wie eine Massenvernichtungswaffe funktioniert? Der Optimismus, der der Zivilisationstheorie innesteckt, wird - so gesehen - Lügen gestraft. Als eine Ideologie wie andere auch, vielleicht ein bisschen besser gemeint, aber am Ende doch nur Schminke über eine sehr gewalttätige Wahrheit.

In der Tat ist das Attest, das das zwanzigste Jahrhundert hier erhält, zwiespältig. Auf der einen Seite stehen die unübersehbaren Erfolge bei der Durchsetzung von Freiheit und universalen Menschenrechten, auf der anderen Seite stehen die ungeheuren Verbrechen an der Menschlichkeit, die gerade die Zeitgenossen dieses Jahrhunderts auf sich geladen haben. Wie kann eine zivilisierte Gesellschaft diese Verbrechen, den Holocaust und den Gulag, aber eben auch Hiroshima zulassen oder auch nur möglich machen? Wie kann es sein, dass das Vertrauen in die Abwesenheit von Gewalt umschlägt - und das in ganzen Gesellschaften - in das Vertrauen in Gewalttäter? Was führt zu einer Reetablierung von Systemen, die Gewalt und existentielle Unsicherheit verbreitenden? Wieso lassen die Menschen das Sowjetsystem wie den Faschismus zu und halten beide auch noch über Jahrzehnte an der Macht? Was schafft ihr Zutrauen in die Gewalt in einer Zeit, die sich eigentlich als gewaltfrei wünscht?

Reemtsmas Erklärung dafür: Im Wesentlichen ist es die, dass hier Räuberbanden an die Macht gekommen seien. Für die Entscheidung, die beiden Atombomben in Japan einzusetzen, macht er das Argument allerdings nicht sehr stark. Aber als Erklärung für die Machtübernahme der Nationalsozialisten und der Bolschewisten versucht er es plausibel zu machen. Die Macht hätten Bolschewisten und Nazis übernehmen können, weil sie sie behauptet und gehandelt hätten, als hätten sie sie bereits, und weil das von den anderen anerkannt worden sei. Der Nationalsozialismus sei nicht an die Macht gekommen, weil er versprochen habe, für Ordnung zu sorgen, sondern das Regime sei mit Ruhe und Ordnung identifiziert worden, weil es an der Macht gewesen sei. Das ist in der Tat ein interessanter, vielleicht sogar ein wesentlicher Aspekt. Macht ist ohne ihre Anerkennung in der Tat wohl hinfällig. Und eine Gesellschaft, die sich freiwillig in die Hände einer Räuberbande begibt, muss den Eindruck haben, anderenfalls viel zu verlieren - oder dass es egal ist, welche Bande sie beherrscht.

Implizit steckt in Reemtsmas Argumentationskette die Einsicht, dass die Differenz zwischen den totalitären und offenen Systemen nicht so groß ist, wie man es gerne hätte. Nur so kann ein Regime wie der Nationalsozialismus über zwölf Jahre hinweg eine Industriegesellschaft beherrschen, und neben den Extremen von Vernichtungslagern und Weltkrieg auch so etwas wie eine zivilisierte Normalität ermöglichen. Die Gleichzeitigkeit des Ungeheuerlichen mit dem Banalen - das ist vielleicht das stärkste Skandalon, das mit diesem 20. Jahrhundert verbunden ist.

Aber Reemtsmas Thesen sind, was das angeht, nicht tragfähig. Und das vor allem, weil er nicht nach dem Zweck und Ziel von Gewalt fragt. Ihre Destruktivität greift für ihn auf ihre Essenz selbst zurück. Dass andere Gesellschaften und frühere Zeiten ein anderes Verhältnis zum Subjekt, zum Körper, zur Macht und zur Gewalt hatten, ist unbenommen. Freilich ist die Folter, der Reemtsma große Teile seiner Studie widmet, nicht nur eine beliebige Befragungsform, die eben leider den Körper des Befragten zu zerstören droht, sie ist auch Ausdruck bestimmter sozialer und kultureller Verhältnisse, in der Folter angemessen erscheint. Die Entwicklung weg von ihr ist damit aber eben nicht nur die kontingente Folge der Entwicklung in Europa. Sie hängt auch mit der zunehmenden Komplexität der Gesellschaften zusammen, in denen das Subjekt einen anderen Status hat als zuvor. Gerade das begründet ja die Präsenz der Gewalt und der gewalttätigen Einzelkämpfer in den Symbolisierungsmedien der Gesellschaft. Mit Norbert Elias gesagt: es ist ein notwendiges Ventil, ein Ersatzhandeln, das durch den physischen und psychischen Apparat von Menschen notwendig wird.

Der Erfolg der europäisch-nordamerikanischen Moderne macht sie in den Augen Reemtsmas zum Sonderweg, auch wenn sie nur im relativen Extrem vorführt, wozu komplexe Gesellschaften imstande sind. Aber berücksichtigt man die Ubiquität sozialer Erscheinungen - auch eben der Gewalt und ihrer Funktionen -, dann ist die europäisch-nordamerikanische Moderne kein Sonder-, sondern nur der Erfolgsfall - mit allen Schattenseiten und Risiken, die ein solcher Erfolg haben kann. In dieser Perspektive sind Bolschewismus und Faschismus auch kein Ausstieg aus der Moderne, sondern mögliche Reaktionsformen, die sistieren wollen, was in Bewegung geraten ist. Der Preis, den ihre Gesellschaften dafür zu zahlen bereit waren, war hoch. Er beinhaltet eben auch eine permanente Verunsicherung, die Vernichtung von Existenzen und die Kontingenz der Gewalt in einem Maße, das eben auch den Zusammenhalt von Gesellschaften gefährdet (was sich dann als ihre Verrohung ausweist). Andere Gesellschaften haben grundsätzlich denselben Weg wie Europa eingeschlagen (nicht erst seit dem 16. und 17. Jahrhundert, sondern seit der Neukonstituierung der Zivilisation nach dem Untergang des römischen Reiches), nur eben mit anderen Resultaten.

Wird man also Reemtsma kritisch entgegenhalten, dass sein Gewaltmodell teils ins Leere und Beliebige läuft (ohne dass er die Forderung nach der Zivilisierung der Gesellschaft aufgeben würde), bleibt seine Studie doch eine ungemein beeindruckende Lektüre. Die Nutzung literarischer Dokumente als Fallbeispiele, als Studien in Sachen Gewalt und Vertrauen, ist in der Soziologie, die gern auf Alltagserfahrungen verweist, erfrischend. Die Lektüren, die mit klarem Blick für das Konzept der Texte vorgezeigt werden, sind stupend. Wenn man also einerseits Reemtsmas anregende Studie kritisieren kann, so muss man andererseits auch die Lust betonen, die er auf eigene Neulektüren macht. Walter Delabar

Diese Rezension erschien zuerst bei Literaturkritik.de
 

Jan Philipp Reemtsma
Vertrauen und Gewalt
Versuch über eine besondere Konstellation der Moderne.
Hamburger Edition
, Hamburg 2008.
500 Seiten, 30,00 EUR.
ISBN 3936096899
ISBN-13 9783936096897

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