Belletristik
Romane, Erzählungen, Novellen
Blutige Ernte
Krimis, Thriller & Agenten
SF & Fantasy
Elfen, Orcs & fremde Welten
Sprechblasen
Comics mit Niveau
Quellen
Biographien, Briefe & Tagebücher
Geschichte
Epochen, Menschen,
Phänomene
Politik
Theorie, Praxis & Debatten
Ideen
Philosophie & Religion
Kunst
Ausstellungen, Bild- & Fotobände
Tonträger
Hörbücher & O-Töne
Videos
Literatur in Bild & Ton
Literatur
Live
Veranstaltungskalender
Zeitkritik
Kommentare, Glossen & Essays
Autoren
Porträts, Jahrestage & Nachrufe
Verlage
Nachrichten, Geschichten & Klatsch
Film
Neu im Kino
kino-zeit
Das Online-Magazin
für Kino & Film
Mit Film-Archiv, einem bundesweiten
Kino-Finder u.v.m.
www.kino-zeit.de
Anzeige
Klassiker-Archiv
Übersicht
Shakespeare Heute
Shakespeare Stücke
Goethes Werther,
Goethes Faust I,
Eckermann,
Schiller,
Schopenhauer,
Kant,
von Knigge,
Büchner,
Mallarmé,
Marx,
Nietzsche,
Kafka,
Schnitzler,
Kraus,
Mühsam,
Simmel,
Tucholsky
Die aktuellen Beiträge werden am
Monatsende in den jeweiligen Ressorts archiviert, und bleiben dort
abrufbar.
Wir empfehlen:
Andere
Seiten
Diskutieren Sie
mit Gleichgesinnten im
FAZ Reading Room
Joe Bauers
Flaneursalon
Gregor Keuschnig
Begleitschreiben
Armin Abmeiers
Tolle Hefte
Curt Linzers
Zeitgenössische Malerei
Goedart Palms
Virtuelle Texbaustelle
Reiner Stachs
Franz Kafka
counterpunch
»We've
got all the right enemies.«
Riesensexmaschine
Nicht, was Sie denken?!
texxxt.de
Community für erotische Geschichten
Wen's interessiert
Rainald Goetz-Blog
|
Die
Arbeit des Trauerns
Lothar Struck über Ulla Berkéwicz's
radikale Aufarbeitung eines Sterbens
Die einzige
Angst, die ich jetzt noch habe, ist die, zu vergessen.
So beginnt dieses Buch. Jenseits des Vergessens ist die Zeitlosigkeit. Und
jenseits der Zeit die Ewigkeit. Aber schon im Erinnern, dem Versuch, nicht
zu vergessen, steckt die Gefahr der Verschollenheit: Ist die
Erinnerung entrückt, in den Gedächtniskammern eingeschlossen? Die Erinnerung
an den unwirklichsten Sommer zweitausendzwei. Und der "Preis" für die
Erinnerung: Geht der [Sommer] immer und nie vorbei?
Trostlosigkeit -
Vergessen ist ein matter, haltloser Landstrich, der zu nichts führt - und
Hoffnung, dass hinter jenem Landstrich noch ein zweiter läuft, wie alles noch
ein Zweites hat, vielleicht sogar sein Drittes, Viertes. Ein andrer Landstrich
in einem andren Land, wo das Vergessen sich sammelt, konzentriert, besinnt.
Ulla Berkéwicz umkreist
das Vergessen in diesem Buch – und natürlich nicht nur das. Es geht ums Sterben
und den Tod (und damit um das Leben) und es geht – dezent und diskret - um
Liebe. Aber es ist mehr als ein Lebens-, Liebes-, Todes- oder Totenbuch, mehr
als somnambule (und dann doch gelegentlich affektierte) Litanei einer Witwe,
mehr als metaphysische (Selbst-)Tröstung, mehr als eine Kritik an den
Verhältnissen unserer Krankenhäuser, mehr als expressionistisch-assoziative
Klagerede (mit Spucke auf einem Stein statt lutherischem Tinten- oder
cantervillschem Blutfleck). Ja, es ist alles das. Und eben mehr. Viel mehr.
Berkéwicz' Blick in die Kindheit, dieses frühe Umgehen mit den toten Tieren, die
das Kind ehrfürchtig bewahrt und dann bestattet oder die Vaterverluste in
so vielen Familien (muss man mehr sagen? Nein). Man stockt bei diesen kleinen
filigranen Erzählausflügen, die so zart daherkommen und meint förmlich die
Sommer zu riechen, das Aufgeregtsein des Kindes zu fühlen.
Im jüdischen Milieu aufgewachsen, in einer Mischung zwischen Frömmigkeit
einerseits und spielerischer Ungezwungenheit andererseits, als Kind in der
Vaterklinik, dem Tod auf den Fersen, den Todgeweihten in den Sterbezimmern
vorsingend, die Todeserzählungen der Grossmutter, "Nefesch, Ruach und
Neschama"; einem eigenartigen Faszinosum, diesem letzten Seufzer
gegenüber. Sterber und Lieber. Und die Lust, mehr vom
Todesleben zu erfahren. Und dann irgendwann, mit sechzehn, zum Leben – und
zu den Toten: Jetzt hab ich selber Tote heisst es da; Initiation in das
Erwachsen-, das Menschwerden.
Sehnsucht nach einem
kindlichen, naiven Lesen
Und ja, wenn
sie all die Toten, die sie schon "erlebt" hat, aufzählt, dann keimt schon einmal
ein Posieren auf und bei diesem Toten, der "nur" der Mann ist, eine
bisweilen üppige Symbolik: Die nicht mehr tickende Rolex. Das Beten! als
Imperativ. Das Witwenmal auf der Hand. Das es sich um einen prominenten
Mann handelt wird auch nicht ganz ausgeblendet – die Angst vor Ausspähung durch
Fotografen; die Erwähnung des Todes in den Nachrichten. Dann die Anspielung mit
dem Hexenhammer. Und speziell bei diesen Abschnitten die Sehnsucht nach
einem kindlich-naiven Lesen, dem eigentlich einzig möglichen Lesen überhaupt.
Die Sehnsucht nach dem Vergessen all der aufgepropften Konnotationen der
Deutungsindustrie, die den Blick nur so selten weiten, sondern meist verengen;
einzäunen.
"Überlebnis" ist fast immer das Gegenteil all der lakonischen Coolness oder
pseudo-skandalösen Schreibfabrikationen, die uns (nein: mir) das Lesen immer
mehr arg strapaziös und fad werden lassen. Und da ist eine Autorin, die nicht
nur keine Angst vor dem Pathos hat (wie seltsam es anmutet, "Pathos" inzwischen
nur noch mit dem Attribut "falsch" zu hören und zu lesen; ähnlich dem
"Kompromiss", der fast nur noch "faul" geschimpft wird), sondern es zelebriert.
Es gibt die Stellen, die dem heutigen Leser so schwer eingehen, und man (man?)
ist geneigt, Berkéwicz dies "nachzusehen". Aber das wäre nicht redlich (und auch
überheblich). Nein, dieses Buch ist nicht trotz dieser Abschnitte so
wirkungsmächtig, sondern gerade wegen dieser (und dafür muss man ihnen nicht
immer zustimmen).
"Prüderien aus nackter
Angst"
Und am Ende steht
das Staunen, wie es am Anfang steht, so in
einer der essayistischen, kursiv-geschriebenen Passagen in Berkéwicz' Buch,
welche mal das Erzählte kontrastieren und mal pointieren. Und mehr als einmal
wird dabei das hohle (jetzt passt es!) Wortgeklingel des
literatur-philosophischen Redens dem des Lebens gegenübergestellt und ab und an
werden dem Leser solche Sätze ins Gesicht geschleudert:
Seit uns
kein Gott mehr spricht, herrscht Schweigen übern Tod bis in den Tod
(So oft diese e-Elisionen [übern; andern]
neben oder trotz der ansonsten ausdrücklich gewählten Hochsprache!) Oder:
Mit dem Sterben ist das Entsetzen verbunden.
Entsetzlicher Schrecken, schreckliche Angst. In unserer Angstklammer kommen
Alter, Krankheit, Sterben uns ekelhaft und schamlos vor. [ …] Die Prüderie, die
uns, die wir uns jetzt in unsere kleine Zeit zu fügen wissen, Alter, Krankheit,
Sterben als schamlos erscheinen lässt, sie resultiert, wie alle Prüderien aus
nackter Angst.
Schliesslich:
Wir haben Gott abgesetzt, aus Angst vor seiner Unermesslichkeit, dem
Unberechenbaren. […] Und da wir mit unserem Glauben auch den Glauben an unsere
Unsterblichkeit verloren haben, sind wir gelähmt vor Angst, können dem Tod nicht
mehr entgegentreten. Haben Gott abgesetzt, sind nur noch wir jetzt, wir allein,
unberechenbar und sterblich, sinnlos sterblich, rettungslos eingepfercht
zwischen die Grenzen von Geburt und Tod, mit nichts davor und nichts dahinter.
Haben die Angst jetzt vor uns selbst, weil wir nicht wissen, was das ist, dies
Selbst mit seiner Angst, für die wir, seit wir Gott abgesetzt haben, niemand
mehr als uns selbst verantwortlich machen können.
Es ist ein leichtes, in
selbstgefälligem Gestus diese Passagen von gut gepolsterten Redaktionssesseln
aus zu denunzieren. Ja, ein gewisser Lektüreeklektizismus ist spürbar. Wenn
schon. Ist es die unter Intellektuellen so verhasste Flucht ins Religiöse? Bei
Camus heisst es: "Es gibt nur eine Freiheit: mit dem Tod ins reine kommen." Der
als emanzipatorisch empfundene Akt, Gott bis ins Private hinein zu eliminieren
und den Tod als absolutes Ende zu begreifen – hilft er diesen "fassbar", ja
"erlebbar" zu machen? Elias Canetti – und mit ihm viele Intellektuelle seiner
Zeit – sahen den Tod als Beleidigung an, der in keinem Fall zu "akzeptieren"
sei. Ihr Gestus des dezidierten, trotzigen "Nein" wirkt wie eine lächerliche
Anmaßung, jeglicher Demut abhold und findet seine (unselige) Fortsetzung in der
menschlichen Hybris unserer Tage, die sich in Teilen der Naturwissenschaften
Ausdruck verleiht.
Aber verwischen nicht all
diese theoretischen Überlegungen im Angesicht (!) eines sterbenden Mannes mit
seinen Atembrocken wie Blutklumpen? Oder, mit Thomas Bernhard: "Es ist
nichts zu loben, nichts zu verdammen, nichts anzuklagen, aber es ist vieles
lächerlich; es ist alles lächerlich, wenn man an den Tod denkt." Und hier ist
nichts lächerlich.
Die Todesunfähigen
Immer wieder
der Kontrast. Der Leidende, nach der Frau Schreiende auf der Intensivstation des
Krankenhauses, einem würdelosen Herrenmenschentheater eines
Ärzteschwanz[es] ausgeliefert (so nennt Berkéwicz die Ärztevisite; diese
Passagen wütend und indigniert erzählt). Pfleger Fascho, der türkische
Putzfrauen Kanackenfotzen nennt. Das Blut- und Eiter-Mobile am
Krankenbett. Und dagegen (nein, ein dafür!) die Erinnerungen, besser:
Wieder-Holungen an den todkranken russisch-jüdischen Freund, der in Amsterdam
inmitten seiner Verwandten und Gefährten eben nicht seelen- und geistlos
behandelt, sondern gepflegt, umsorgt, behütet wurde. Welch ein Antagonismus –
die Technik- und Apparategläubigkeit hier (An Gottes Stelle [treten] jetzt
die von uns selbst erfundenen Maschinen…, die wir verzweifelt für berechenbar
halten wollen) und das wuselig-kümmerische, leicht chaotische, aber stets
respekt- und würdevolle dort.
Und dann, nach dem Tod
billiger Tagestrost und Mitleidskitsch, jene Erbärmlichkeiten
der Todesunfähigen, die ihr Seelenfähnchen in den Wind hängen und
diese merkwürdige Gewißheit, dass jeder Christ errettet wird und damals
in Amsterdam das Russeinweinen als fester Ton im Hausgrund, das
"Küß ihn von mir, wenn er stirbt", dann endlich die Einlösung der
Grossmuttererzählung, der Atmer atmete sich zum Ausatmen vor, der Spalt riß
auf…die Sterbeschwester klappte ihr Heftchen zu, später das Lesen aus dem
heiligen Buch, aber die meisten hielten es verkehrt, die Schrift stand auf
dem Kopf, die Münder simulierten und als das große "El Male Rachamim",
das große "Gott voller Erbarmen" gebetet wurde, hatten die vier die Arme
ausgebreitet, ließen den Schmerz ausfliegen, auf, in ein andres Land, in eine
andre Zeit, in der kein Buchstabe mehr fehlt im Menschenalefbeth in der der
Schmerz gestillt ist und der Tod geheilt.
Sätze wie Nie lebt man
so sehr, wie wenn man stirbt oder Todsein heißt in der Zukunft sein
verstören den (ach so modernen) Mitmenschen, wie die teilweise unwirsche Kritik
zu diesem Buch zeigt. Sie rührt aus der Ungeheuerlichkeit, der Radikalität,
heraus Sterben und Tod als Teil des Lebens zu begreifen und nicht in gängige
(auch räumlichen) Verdrängungen "auszulagern". In dem die Ich-Erzählerin zwei
differierende Sterbens- also: Lebenswelten gegenüberstellt, wird das mitleid-
und liebelose unserer thanathophobischen Kultur aufgezeigt. Man spürt den Zorn
der eigenen Trauer gegenüber. Implizit wird auch eine Kritik an einem
ausgebrannten Christentum vorgenommen, welches sich weitgehend in einen
abgestumpfte Ritualisierungsapparat verwandelt hat; so oft bar jeder Empathie.
Ja, und vielen mag das
empörend vorkommen, so etwas wie ein Plädoyer für ein argloses, fast naives
Gottvertrauen herauszulesen. Ein eher archaisches, ursprüngliches, von allen
Konventionen befreites Gottvertrauen, weit entfernt von engstirniger Orthodoxie
irgendwelcher Institutionen (und das pure Gegenteil vom blinden Gehorsam). Ein
Gottvertrauen, das dem Menschen immer und überall die Würde behalten lässt und
ihn gleichzeitig aufgehoben weiss. Ein Gott-Vertrauen, welches das Überlebnis
ermöglicht.
Und
neben all den Autoren, die Ulla Berkéwicz angeblich oder tatsächlich zitiert,
konterkariert oder paraphrasiert haben soll, kommt mir einer in den Sinn, der
ein Geistesverwandter sein könnte:
Josef Winkler, der wirklich
grosse Dichter über den Tod und seine fast stoische Manie (gibt es so etwas?)
des Schauens der Einäscherungsrituale in Indien. Dort, so Winkler, "wird der Tod
weder geleugnet noch gefürchtet, sondern als lang erwarteter Gast willkommen
geheißen." Lothar Struck
Die
kursiv gedruckten Passagen stammen aus dem besprochenen Buch; die kursiv und
blau hervorgehobenen Passagen sind im Buch kursiv gedruckt.
|
Ulla Berkéwicz
Überlebnis
139 Seiten, Klappenbroschur
Euro 14,80 [D]
ISBN 978-3-518-41955-7
Leseprobe |