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Im Reich der Mangas

Der japanische Manga-Comic hat einen unglaublichen Siegeszug in Europa angetreten. Bei den Anhängern der klassischen grafischen Erzählung aus Amerika und den romanischen Ländern herrscht weitgehend Skepsis angesichts der mehrere hundert Seiten umfassenden Wälzer? Was macht die Faszination Manga aus? Das Dokument eines Selbstversuchs.

Siebenhundertvierundvierzig Seiten japanische Mangaliteratur. Viel schlimmer kann es für einen Anhänger des klassischen amerikanischen Comics und einem Verfechter der franko-belgischen Comicschule kaum kommen. „Auf was habe ich mich da bloß eingelassen?“, war der erste Gedanke des Rezensenten, als er die zwei dicken Bände des Japaners Jiro Taniguchi vor sich liegen sah. Aber abwarten, so der nächste Gedanke, schließlich erfahren die japanischen Mangas in den vergangenen Jahren einen geradezu reißenden Absatz, nicht nur in den deutschen Buchläden. Was ist das für eine Literatur, die die Teenager in ganz Europa – ja, selbst die franko-belgischen Comicfans lesen begeistert die mehrere hundert Seiten dicken Bände – begeistert? Ein Experiment.

Die zwei Werke „Die Stadt und das Mädchen“ und „Vertraute Fremde“ werden als Versuchsobjekte dienen. Der Rezensent hat sich mit Jiro Taniguchi bewusst für einen der größten Autoren am Himmel der Mangaliteratur entschieden. Wenn der nicht überzeugen kann, dann wohl keiner. Der 60-jährige Japaner hat nicht nur in Japan die wichtigsten Comicpreise abgeräumt, sondern ist auch in Europa seit Jahren äußerst erfolgreich. Beim renommiertesten europäischen Comicfestival im französischen Angoulême wurde er bereits zweimal (2003 und 2004) ausgezeichnet. Mit „Vertraute Fremde“ erhielt im Jahr 2003 überhaupt das erste Mal ein Comic japanischen Ursprungs den französischen Comicpreis. 2008 wurde mit der Krönung dieser 409 Seiten umfassenden Erzählung erstmals ein Manga zum Comic des Jahres erkoren. Und vielleicht räumt Taniguchis Erzählung auch beim diesjährigen Comicsalon in Erlangen ab, zumindest ist „Vertraute Fremde“ für den Max und Moritz-Preis in der Kategorie Manga nominiert. Der Japaner ist der derzeit renommierteste Manga-Autor und seine Comics zählen zum Besten der gegenwärtigen internationalen Comicliteratur. Einerseits also wenig Risiko für den Rezensenten als Mangaeinsteiger, andererseits legen derlei Lorbeeren die Meßlatte für die vorliegenden Bände nur noch höher.

„Die Stadt und das Mädchen“ greift sich der Rezensent zuerst und ist zunächst etwas von der Anlage des Comics verwirrt. Der Leser muss sich an die japanischen Lesegewohnheiten von rechts nach links gewöhnen, so dass man den Band von hinten nach vorn blättert, die Panel von rechts nach links liest und auch die Sprechblasenreihenfolge im Einzelbild der Rechts-Links-Regel unterordnet. Aber man passt sich schnell an und eine flüssige Lektüre stellt sich ein.

„Die Stadt und das Mädchen“ ist die Geschichte eines Mannes auf der Suche nach einem jungen Mädchen. Shiga war leidenschaftlicher Extrembergsteiger, bis sein bester Freund Sakamoto beim Aufstieg des nepalesischen Achttausenders Dhaulagiri in einem Schneesturm erfroren ist. In einer letzten Tagebuchnotiz bittet ihn Sakamoto, sich um seine Frau Yoriko und seine Tochter Megumi zu kümmern. Megumi verschwindet jedoch eines Tages. Sie kehrt nicht aus der Schule zurück und hinterlässt keine Nachricht. Yoriko bittet Shiga, die Berge, in die er sich zurückgezogen hat, zu verlassen und nach Tokio zu kommen. Er soll ihr bei der Suche nach Megumi helfen. Und so begibt sich der Eremit der Bberge in den modernen Großstadtdschungel Tokios, um mit Megumi die sprichwörtliche Nadel im Heuhaufen zu suchen. Die Erfahrungen auf seiner Suche könnten nicht konträrer zu seiner harmlosen Existenz in den japanischen Bergen stehen. Tokio erscheint ihm mit seiner allgegenwärtigen digitalen Berieselung, den von Automassen verstopften Straßen sowie den überbevölkerten Fußgängerzonen und Einkaufstempeln als neuzeitliches Sodom und Gomorra. Taniguchi thematisiert in seinem Comic intelligent die aktuellen gesellschaftlichen Missstände in seinem Heimatland, angefangen von der Vernachlässigung der Kinder und Jugendlichen durch die Eltern über die grassierende Freizeitprostitution japanischer Schulmädchen bis hin zur Unantastbarkeit der großen japanischen Konzerne. Insofern ist „Die Stadt und das Mädchen“ auch ein Abbild der Abgründe der japanischen Gesellschaft. Dabei entwirft er das Szenario eines Agententhrillers, packend und höchst spannend bis zur letzte Seite. In zahlreichen textfreien Einzelbildern lässt er dem Leser den Raum, sich in die Charaktere einzufühlen, in deren Haut zu schlüpfen und mit der Erzählung zu verschmelzen. Die Text-Bild-Kombination ist geradezu genial. Die 334 Seiten vergehen wie im Flug und diese erste Erfahrung mit einem japanischen Manga kann der Rezensent nur als höchst befriedigend verbuchen.

Mit Rückenwind greift der Rezensent daher zum zweiten, noch umfangreicheren Band „Vertraute Fremde“, dessen Vorschusslorbeeren viel versprechen. Lesetechnisch gesehen muss sich der Leser nun wieder umstellen, da der herausgebende Carlsen-Verlag sich entschieden hat, den Manga an die westeuropäische Leserichtung von links nach rechts anzupassen. Sprechblasen, Panel- und Seitenfolge sind also an den konventionellen Lesestil adaptiert worden – ein enormer technischer Aufwand für den Verlag, von dem man im Comic nichts mehr sieht. Und genau darin besteht die Kunst der Comicadaption, da Sprechblasen umgestellt und Zeichnungen an deren neue Verteilung im Bild angepasst werden müssen. Dem Verlag kann man daher nur ein Lob für seine in dieser Hinsicht perfekt ausgeführte Arbeit aussprechen.

„Vertraute Fremde“ erzählt die Reise durch Raum und Zeit des Architekten Hiroshi Nakahara. Eingestiegen in den falschen Zug findet er sich plötzlich in der Stadt seiner Kindheit wieder und fällt durch ein Zeitloch zurück in seine Kindheit. Er findet sich plötzlich 14-jährig in seinem Elternhaus wieder, trifft auf alte Freunde und geht erneut zur Schule, ohne jedoch seine Erinnerungen an all das bereits Erlebte zu verlieren. Hiroshi macht die absonderliche Erfahrung, dass Ereignisse, die er „als Vergangenheit in Erinnerung hatte, [...] auf einmal wieder in der Zukunft“ lagen. Mit Wehmut erfährt er seine Kindheit noch einmal neu, ohne den Lauf der Zeit wirklich ändern zu wollen. Doch er muss feststellen, dass er die im Laufe seines Lebens angeeigneten Fähigkeiten nicht ablegen kann. Während seine Umgebung im Lauf der Zeit gefangen bleibt, ist er allem und jedem fast vierzig Jahre voraus – er wird im wortwörtlichen Sinne für sich selbst und seine Freunde zum vertrauten Fremden. Sein Verhalten gleicht mitnichten dem des damals 14-Jährigen, was ihn selbst immer wieder erschreckt und einschüchtert. „Ich hatte Angst, dass ich, indem ich mein vergangenes Ich veränderte, an der Zeitschraube der Zukunft drehte.“ Die Ehrfurcht vor dem Einfluss auf die vergangene Zukunft wandelt sich jedoch schnell zur Einsicht, dass darin auch die Hoffnung liege, die Zukunft verändern zu können. Am stärksten beschäftigt ihn dabei der Wunschgedanke, seinen Vater daran zu hindern, die Familie zu verlassen. Ein Wettlauf mit der Zeit beginnt, denn die kommenden Sommerferien waren in seinem früheren Leben der Moment, in dem sein Vater die Familie für immer verließ.

„Vertraute Fremde“ ist die zarte Geschichte eines erwachsenen Teenagers, die mit ihrem Spiel aus Vergangenheit und Zukunft eine faszinierende Anziehung ausstrahlt. Gemeinsam mit Hiroshi gerät der Leser in den Strudel seines Lebens. Die Zeichnungen in den Werken von Jiro Taniguchi zeugen von sehr viel Liebe fürs Detail. Nicht umsonst beschäftigt Taniguchi inzwischen ein Zeichnerteam. Die Hektik der geradezu filmischen Panelsequenzen japanischer Kampfmangas kommt bei Taniguchi nicht eine Sekunde lang auf. Seine Erzählungen strahlen eine geradezu meditative Ruhe aus, so dass man den Eindruck gewinnt, die Zeichnungen selbst atmen durch, stellen Stille her und schaffen Pausen. Es sind im urcomicalsten Sinne die Einzelbilder, die Taniguchis Geschichten ihren stillen Rhythmus vorgeben. Die Texte in seinen Erzählungen sind sparsam, weil sie der ruhigen Atmosphäre der Geschichten untergeordnet sind. Dabei harmonieren Text und Bild ideal miteinander. Sie ergänzen sich nicht, das ist auch nicht notwendig, aber sie steigern die Bedeutung des jeweilig konträren Kommunikationsmittels in Perfektion. Taniguchis Erzählungen lassen auf diese Weise den Leser in die Seele seiner Protagonisten schauen.

Warum Jiro Taniguchi der derzeit Beste seiner Zunft ist, versteht nach der Lektüre seiner Erzählungen selbst der Manga-Laie. Der Rezensent muss gestehen, dass die vorliegenden Bände Taniguchis zu den besten Comics gehören, die er in den zurückliegenden Monaten in die Hände bekommen hat. Das Wagnis Manga hat sich zumindest hinsichtlich der Werke Taniguchis als eine Wohltat, ja gar als Wonne herausgestellt. Die mehr als siebenhundert Seiten der zwei sehr verschiedenen Erzählungen sind geradezu verflogen, ohne dabei auch nur eine Sekunde zu langweilen. Zwischen seinen Hauptpersonen und Lesern baut Taniguchi mit seiner Erzählweise eine fast intime Beziehung auf. Große Klasse. Daher kann der Rezensent mit gutem Gewissen jedem Fan anspruchsvoller grafischer Erzählungen die Mangas von Jiro Taniguchi ans Herz zu legen, denn sie gehören zu dem Besten, was der internationale Comicmarkt derzeit zu bieten hat. Thomas Hummitzsch
 

Jiro Taniguchi
Die Stadt und das Mädchen
Verlag Schreiber und Leser
München 2007. 335 Seiten
16,95 €.
ISBN 3937102655

Jiro Taniguchi
Vertraute Fremde
Carlsen-Verlag
Hamburg 2007. 409 Seiten
19,90 €.
ISBN 3551777799

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