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William Shakespeare
(*26.04.1564 - †23.04.1616)
 

 

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Die Erfindung des Menschlichen

Die Antwort auf die Frage: »Warum Shakespeare?«
muß lauten: »Wer sonst?«

»Harold Bloom, einer der großen amerikanischen Literaturwissenschaftler der Gegenwart, führt den Leser in klarer, einfacher Sprache durch jedes einzelne von Shakespeares Dramen. Er erklärt ihre Bedeutung, verweist auf seine Lieblingsfiguren und gibt Hinweise, wie die Stücke auf die Bühne zu bringen sind. Einen besseren Begleiter durch das Werk des bedeutendsten Dramatikers der Neuzeit gibt es nicht.« Soweit der knappe Klappentext.
Über die Frage, ob es bessere, kompetentere oder sympathischere Begleiter durch das dramatische Werk Shakespeares gibt, scheiden sich jene feuilletonistischen Klein- und Poltereister, die wortreich vorgaukeln, ihrer deutschen, schwerernsten Sicht auf Master William sicher zu sein, und Mr. Bloom jene lustvolle Leichtigkeit im Umgang mit dem Meister zu mißgönnen scheinen, die ihnen abgeht. Mag sein, daß Harold Bloom unwissenschaftlich argumentiert, möglich, daß er ein eitler Mensch ist, vielleicht stimmt auch nicht alles, was er über den unsterblichen Engländer schreibt, aber es bereitet großes Vergnügen die 1065 Seiten zu durchpflügen auf der Suche nach seinen Ansichten über z. B. Falstaff, für den er gut selbst über die Bretter wanken könnte, Jago oder den über allen thronenden Hamlet. Harold Bloom ist nicht deshalb lesenswert, weil seine Sichten und Ansichten auf Shakespeares Personage und Dramaturgie eherne Wahrheiten preisgeben, sondern weil beim überaus unterhaltsamen Lesen seiner Thesen und Spekulationen, Fragen und Aspekte auftauchen, die das eigene Lesen und Denken in und mit Shakespeare bereichern. Herbert Debes

Leseprobe aus:

Harold Bloom
Shakespeare -
Die Erfindung des Menschlichen
Aus dem Amerikanischen von Peter Knecht
Berlin Verlag, Gebunden, 1065 Seiten, ISBN 3-827-00325-3

An den Leser

Literarische Figuren vor Shakespeare erfahren in ihrem Charakter kaum Veränderungen; die Menschen, die uns da gezeigt werden, altern und sterben, aber sie verändern sich allenfalls in ihrem Verhältnis zu den Göttern oder zu Gott und nicht insofern, als sich ihr Verhältnis zu sich selbst geändert hätte. Bei Shakespeare findet eine echte Entwicklung statt, nicht nur eine Entfaltung: Seine Geschöpfe entwickeln sich, weil sie sich immer wieder neu begreifen. Manchmal gelangen sie zu einer solchen neuen Auffassung ihrer selbst, indem sie sich, sei es im Gespräch mit anderen, sei es im Monolog, selbst belauschen. Selbstbelauschung ist ihr Königsweg zur Individuation. Shakespeare beherrschte wie kein zweiter Schriftsteller vor oder nach ihm die wundersame Kunst der Stimmenerfindung: er hat mehr als hundert größere und größte und etliche hundert kleine, aber in ihrer Individualität unverwechselbare Rollen mit extrem unterschiedlichen und doch immer konsistenten Stimmen ausgestattet.

Je länger und intensiver man sich mit Shakespeares Stücken beschäftigt, desto mehr erkennt man, dass die angemessene Haltung, die man ihnen gegenüber einzunehmen hat, die der Ehrfurcht ist. Ich weiß nicht, wie dieses Wunder möglich ist, und bin, nachdem ich mich zwei Jahrzehnte lang in meiner wissenschaftlichen Arbeit fast ausschließlich Shakespeare gewidmet habe, zu der Überzeugung gelangt, dass das Rätsel unlösbar ist. Dieses Buch, von dem ich durchaus hoffe, es möge anderen nützlich sein, ist gleichwohl ein sehr persönliches Projekt, die Frucht einer langen und leidenschaftlichen (wenn auch gewiss nicht einzigartigen) Beziehung und einer lebenslangen wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem, was ich, starrsinnig, wie ich bin, »imaginative Literatur« nenne. Die Bardolatrie, die Shakespeare­Verehrung, sollte noch mehr, als es bereits der Fall ist, zu einer weltlichen Religion werden. Die Stücke bezeichnen nach wie vor ein Äußerstes menschlicher Möglichkeiten: als ästhetische und intellektuelle Leistungen, aber in gewisser Weise auch auf dem Feld des Moralischen und sogar dem des Spirituellen. Sie bleiben außerhalb der Reichweite unseres Verstands, wir können sie nicht fassen. Shakespeare wird immerfort uns erklären, schließlich ist er es auch, der uns erfunden hat. Und ebendiese These steht im Mittelpunkt des Buchs und wird uns immer wieder beschäftigen, so sonderbar sie vielen erscheinen mag. ­

Diese Arbeit, die eine einigermaßen umfassende Interpretation aller Stücke Shakespeares geben will, wendet sich an ein Publikum von gewöhnlichen Lesern und Theaterbesuchern. Es gibt auch in unserer Zeit Shakespeare-Kritiker, die ich bewundere (und die ich dankbar hier zitiere), aber im Ganzen macht es mich doch einigermaßen mutlos zu sehen, was heute alles, sei es in der akademischen Wissenschaft, sei es in den Medien, als Shakespeare-Interpretation durchgeht. Ich selbst möchte gerne jene altmodische und weitgehend vergessene kritische Tradition fortsetzen, der unter anderem Samuel Johnson, William Hazlitt, A. C. Bradley und Harold Goddard angehören. Shakespeares Gestalten sind Rollen für Schauspieler, und sie sind doch zu­ gleich weit mehr als das: Ihr Einfluss auf die Lebenswirklichkeit der Nachgeborenen ist fast ebenso stark wie der auf die Literatur. Shakespeare erscheint wie kein zweiter Autor als ein Schöpfer von Persönlichkeit - so überzeugend, dass es mir schwer fällt, von einem bloßen Schein zu reden. Der Versuch, Shakespeares größte Gaben aufzuzählen, ist geradezu absurd - wo soll man anfangen, wo aufhören? Er schrieb die beste Prosa und die besten Verse in englischer Sprache und vielleicht in der ganzen westlichen Literatur. Diese Fähigkeit ist untrennbar mit seiner kognitiven Potenz verbunden; sein Denken ist umfassender und origi­neller als das jedes anderen Dichters. So unglaublich es mir selbst erscheint, dass es ein Drittes geben sollte, das noch bedeutender ist, stimme ich doch der Johnsonianischen Tradition zu, die eben­dies behauptet: Shakespeare ging über alle seine Vorgänger (sogar über Chaucer) hinaus und erfand den Menschen, so wie wir ihn bis heute, vierhundert Jahre danach, kennen. Man könnte diesen Sachverhalt mit etwas mehr Zurückhaltung beschreiben, aber man würde dann Shakespeare missverstehen: Man könnte sagen, seine Originalität bestehe darin, dass er Geist, Persönlichkeit und Charakter auf eine neue Art dargestellt habe. Aber in den Stücken gibt es ein exzessives Moment, ein Element des Überflusses, das über die bloße Darstellung hinausgeht und die Metapher der »Schöpfung« rechtfertigt. Die dominanten Figuren Shakespeares, unter ihnen Falstaff, Hamlet, Rosalind, Jago, Lear, Macbeth, Kleopatra, demonstrieren nicht nur in imposanter Weise, wie Sinn entsteht - statt bloß reproduziert, wiederholt zu werden -, sondern bringen auch neue Formen von Bewusstsein zur Welt.

Es fällt vielen Menschen heute schwer, sich klarzumachen, wie sehr unsere Kultur eine literarische Kultur war - das ist nur allzu verständlich in einer Zeit, da so viele von denen, die von der Literatur leben, sie lauthals totsagen. Gleichwohl ist es eine Tatsache, dass etwa diejenigen; die sich zum Glauben an den einen Gott bekennen, in ihrer großen Mehrheit eigentlich drei große literarische Gestalten verehren, nämlich Jahwe, so wie er in der ältesten biblischen Quellenschrift (der des Jahwisten, auf den die Bücher Genesis, Exodus und Numeri zurückgehen) konzipiert wurde, den Jesus des Markusevangeliums und den Allah des Koran. Ich will nicht etwa vorschlagen, dass die Verehrung Hamlets an die Stelle dieser Kulte treten sollte, aber Hamlet ist doch die einzige' weltliche Gestalt, die als Persönlichkeit diesen großen Vorläufern ebenbürtig ist: Wie sie scheint er mehr zu sein als nur eine literarische Figur. Seine Wirkung auf die Menschheit ist unermesslich groß. Nach Jesus ist Hamlet die am meisten zitierte Stimme in der abendländischen Welt; man betet nicht zu ihm, aber man stößt allenthalben auf ihn, er ist allgegenwärtig. (Man kann unmöglich behaupten, er sei bloß eine Rolle für einen Schauspieler - im Übrigen müsste man, bevor man überhaupt zu argumentieren anfängt, diese Formulierung korrigieren und zur Kenntnis nehmen, dass er allenfalls eine Vielzahl von Rollen für Schauspieler sein könnte, denn es gibt mehr Hamlets als Hamlet­Darsteller.) Scheinbar nur allzu vertraut und doch unbekannt, bleibt Hamlet ein Rätsel, das auf das noch größere Rätsel seines Schöpfers verweist: eine Vision, die alles und nichts ist, eine Person, die (nach Borges) jeder und niemand war, Kunst ohne Grenzen, die uns und alle, die nach uns kommen mögen, in sich fasst.

Ich habe mich in meinen Interpretationen der Stücke um größtmögliche Unkompliziertheit (ich meine: soweit es in der Macht meines gewiss fehlbaren Geistes stand) bemüht, ohne allerdings zu verleugnen, dass mein Interesse sehr viel mehr der Kunst der Charakterisierung als der Handlung gilt und dass mir die Erforschung dessen, was ich den »Vordergrund« nenne, wichtiger ist als der historische Hintergrund, auf den Historisten alter und neuer Schulen Shakespeares Kunst zu reduzieren suchen. Das Schlusskapitel, das ich diesem Begriff des Vordergrunds gewid­met habe, ist für meine Deutung aller Stücke relevant und könnte genauso gut an jeder anderen Stelle des Buchs stehen. Was die zwei Teile von Heinrich IV. angeht, so kann ich in diesem besonderen Fall nicht dafür garantieren, dass meine Vorgehensweise so ganz nüchtern und geradlinig ist; ich habe mich hier mit aller be­sessenen Leidenschaft auf Falstaff konzentriert, der für mich den Status eines sterblichen Gottes besitzt. Im Hamlet-Kapitel habe ich mit einem Verfahren experimentiert, das die Mysterien des Stücks und seines Protagonisten in gewissermaßen kreisender Bewegung zu erkunden sucht; ich kehre dabei immer wieder an den Ausgangspunkt meiner Überlegungen zurück, nämlich zu der Hypothese (die ich Peter Alexander verdanke), dass die verschollene früheste Version des Hamlet, die ein gutes Jahrzehnt vor dem uns bekannten Hamlet entstanden sein muss, von dem jungen Shakespeare selbst verfasst wurde und nicht von Thomas Kyd. Im Fall des König Lear verfolge ich die Geschicke der vier höchst beunruhigenden Hauptfiguren - des Narren, Edmunds, Edgars und Lears -; um der Tragik dieser tragischsten aller Tragödien auf die Spur zu kommen.

Hamlet, der Freuds Mentor war, bringt alle, die ihm über den Weg laufen, dazu, sich zu offenbaren, während er selbst (wie Freud) unerkannt bleibt. Genauso wie seinen Mitspielern ergeht es den Kritikern, wenn sie Shakespeares Stücken gegenübertreten. Ich habe mich mit allen meinen Kräften bemüht, über Shakespeare zu sprechen und nicht über mich selbst, aber seine Dramen sind größer und mächtiger als mein Bewusstsein, und sie lesen mich besser als ich sie. Ich habe einmal geschrieben, Falstaff würde es von sich weisen, wenn man ihm zumuten wollte, uns darzustellen; wir wären ihm einfach zu langweilig. Dasselbe gilt für seine Standesgenossen, ob sie nun gutartig sind wie Rosalind und Edgar oder fürchterlich böse wie Jago und Edmund oder mit dem Transzendenten im Bunde wie Hamlet, Macbeth und Kleopatra. Es leben uns Kräfte, deren wir nicht Herr werden können, und es lesen uns Werke, denen wir nichts entgegenzusetzen haben. Wir müssen dennoch alle unsere Kräfte aufbieten und Shakespeare so genau lesen, wie wir nur können, aber immer in dem Bewusstsein, dass seine Stücke uns entschieden besser lesen. Sie lesen uns definitiv.
 

 

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