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Die
Erfindung des Menschlichen
Harold Bloom Je
länger und intensiver man sich mit Shakespeares Stücken beschäftigt,
desto mehr erkennt man, dass die angemessene Haltung, die man ihnen
gegenüber einzunehmen hat, die der Ehrfurcht ist. Ich weiß nicht,
wie dieses Wunder möglich ist, und bin, nachdem ich mich zwei
Jahrzehnte lang in meiner wissenschaftlichen Arbeit fast ausschließlich
Shakespeare gewidmet habe, zu der Überzeugung gelangt, dass das Rätsel
unlösbar ist. Dieses Buch, von dem ich durchaus hoffe, es möge anderen
nützlich sein, ist gleichwohl ein sehr persönliches Projekt, die
Frucht einer langen und leidenschaftlichen (wenn auch gewiss nicht
einzigartigen) Beziehung und einer lebenslangen wissenschaftlichen
Auseinandersetzung mit dem, was ich, starrsinnig, wie ich bin, »imaginative
Literatur« nenne. Die Bardolatrie, die ShakespeareVerehrung, sollte
noch mehr, als es bereits der Fall ist, zu einer weltlichen Religion
werden. Die Stücke bezeichnen nach wie vor ein Äußerstes menschlicher
Möglichkeiten: als ästhetische und intellektuelle Leistungen, aber in
gewisser Weise auch auf dem Feld des Moralischen und sogar dem des
Spirituellen. Sie bleiben außerhalb der Reichweite unseres Verstands,
wir können sie nicht fassen. Shakespeare wird immerfort uns erklären,
schließlich ist er es auch, der uns erfunden hat. Und ebendiese These
steht im Mittelpunkt des Buchs und wird uns immer wieder beschäftigen,
so sonderbar sie vielen erscheinen mag. Diese
Arbeit, die eine einigermaßen umfassende Interpretation aller Stücke
Shakespeares geben will, wendet sich an ein Publikum von gewöhnlichen
Lesern und Theaterbesuchern. Es gibt auch in unserer Zeit Shakespeare-Kritiker, die ich bewundere (und die ich dankbar hier zitiere), aber im
Ganzen macht es mich Es
fällt vielen Menschen heute schwer, sich klarzumachen, wie sehr unsere
Kultur eine literarische Kultur war - das ist nur allzu verständlich
in einer Zeit, da so viele von denen, die von der Literatur leben, sie
lauthals totsagen. Gleichwohl ist es eine Tatsache, dass etwa
diejenigen; die sich zum Glauben an den einen Gott bekennen, in ihrer
großen Mehrheit eigentlich drei große literarische Gestalten verehren,
nämlich Jahwe, so wie er in der ältesten biblischen Quellenschrift
(der des Jahwisten, auf den die Bücher Genesis, Exodus und Numeri zurückgehen)
konzipiert wurde, den Jesus des Markusevangeliums und den Allah des Koran.
Ich will nicht etwa vorschlagen, dass die Verehrung Hamlets an die
Stelle dieser Kulte treten sollte, aber Hamlet ist doch die einzige'
weltliche Gestalt, die als Persönlichkeit diesen großen Vorläufern
ebenbürtig ist: Wie sie scheint er mehr zu sein als nur eine
literarische Figur. Seine Wirkung auf die Menschheit ist unermesslich
groß. Nach Jesus ist Hamlet die am meisten zitierte Stimme in der
abendländischen Welt; man betet nicht zu ihm, aber man stößt
allenthalben auf ihn, er ist allgegenwärtig. (Man kann unmöglich
behaupten, er sei bloß eine Rolle für einen Schauspieler -
im Übrigen müsste man,
bevor man überhaupt zu argumentieren anfängt, diese Formulierung
korrigieren und zur Kenntnis nehmen, dass er allenfalls eine Vielzahl
von Rollen für Schauspieler sein könnte, denn es gibt mehr Hamlets als
HamletDarsteller.) Scheinbar nur allzu vertraut und doch unbekannt,
bleibt Hamlet ein Rätsel, das auf das noch größere Rätsel seines Schöpfers
verweist: eine Vision, die alles und nichts ist, eine Person, die
(nach Borges) jeder und niemand war, Kunst ohne Grenzen, die uns und
alle, die nach uns kommen mögen, in sich fasst. Ich
habe mich in meinen Interpretationen der Stücke um größtmögliche
Unkompliziertheit (ich meine: soweit es in der Macht meines gewiss
fehlbaren Geistes stand) bemüht, ohne allerdings zu verleugnen, dass
mein Interesse sehr viel mehr der Kunst der Charakterisierung als der
Handlung gilt und dass mir die Erforschung dessen, was ich den »Vordergrund«
nenne, wichtiger ist als der historische Hintergrund, auf den Historisten alter und neuer Schulen Shakespeares Kunst zu reduzieren
suchen. Das Schlusskapitel, das ich diesem Begriff des Vordergrunds
gewidmet habe, ist für meine Deutung aller Stücke relevant und könnte
genauso gut an jeder anderen Stelle des Buchs stehen. Was die zwei Teile
von Heinrich IV. angeht, so kann ich in diesem besonderen Fall
nicht dafür garantieren, dass meine Vorgehensweise so ganz nüchtern
und geradlinig ist; ich habe mich hier mit aller besessenen
Leidenschaft auf Falstaff konzentriert, der für mich den Status eines
sterblichen Gottes besitzt. Im Hamlet-Kapitel habe ich mit einem
Verfahren experimentiert, das die Mysterien des Stücks und seines
Protagonisten in gewissermaßen kreisender Bewegung zu erkunden sucht;
ich kehre dabei immer wieder an den Ausgangspunkt meiner Überlegungen
zurück, nämlich zu der Hypothese (die ich Peter Alexander verdanke),
dass die verschollene früheste Version des Hamlet, die ein
gutes Jahrzehnt vor dem uns bekannten Hamlet entstanden sein
muss, von dem jungen Shakespeare selbst verfasst wurde und nicht von
Thomas Kyd. Im Fall des König Lear verfolge ich die Geschicke
der vier höchst
beunruhigenden Hauptfiguren - des Narren, Edmunds, Edgars
und Lears -; um der Tragik dieser tragischsten aller Tragödien auf
die Spur zu kommen. Hamlet,
der Freuds Mentor war, bringt alle, die ihm über den Weg laufen, dazu,
sich zu offenbaren, während er selbst (wie Freud) unerkannt bleibt.
Genauso wie seinen Mitspielern ergeht es den Kritikern, wenn sie
Shakespeares Stücken gegenübertreten. Ich habe mich mit allen meinen
Kräften bemüht, über Shakespeare zu sprechen und nicht über mich
selbst, aber seine Dramen sind größer und mächtiger als mein
Bewusstsein, und sie lesen mich besser als ich sie. Ich habe einmal
geschrieben, Falstaff würde es von sich weisen, wenn man ihm zumuten
wollte, uns darzustellen; wir wären ihm einfach zu langweilig.
Dasselbe gilt für seine Standesgenossen, ob sie nun gutartig sind wie
Rosalind und Edgar oder fürchterlich böse wie Jago und Edmund oder
mit dem Transzendenten im Bunde wie Hamlet, Macbeth und Kleopatra. Es
leben uns Kräfte, deren wir nicht Herr werden können, und es lesen uns
Werke, denen wir nichts entgegenzusetzen haben. Wir müssen dennoch
alle unsere Kräfte aufbieten und Shakespeare so genau lesen, wie wir
nur können, aber immer in dem Bewusstsein, dass seine Stücke uns
entschieden besser lesen. Sie lesen uns definitiv. |
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