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Glanz
&Elend
Literatur und Zeitkritik


 

Petits riens (23)

Von Wolfram Schütte


Foto: © Roderich Reifenrath

In die Tasche gesteckt – Hosenkauf in der Herrenabteilung eines großen Kaufhauses auf der Frankfurter Zeil, der sogenannten »Umsatz stärksten Kaufmeile« Deutschlands. Dem Käufer, der seit Jahrzehnten dort seine Oberbekleidung gekauft hat, fällt sofort auf, dass das Bedienungspersonal, das seit einem Jahrzehnt kontinuierlich verkleinert wurde, im Lauf des vergangenen Jahrs noch einmal reduziert worden ist. Einen Verkäufer zu finden, der einen kundig durch das immense Angebot führt & beim Kauf dann kritisch berät (oder gar den Eindruck erweckt, er sei ganz & gar nur für den »König Kunde« da), gestaltet sich zur Suche nach einer Nähnadel in einem Heuhaufen.

Hat man ihn endlich »ergattert« – beim Wechselgespräch mit bereits zwei anderen Kunden – muss man sehen, dass man mit ihm auch noch Kontakt hält beim Anprobieren. Das ist einigermaßen möglich, weil die zweite Person, mit der man zum Einkauf gegangen ist, den gefundenen Verkäufer gesprächsweise bei Laune hält. Dafür hat er beim gleichzeitigen Umgang mit drei Kunden durchaus Zeit. Die hat er gewonnen, weil er nicht mehr, wie in den vergangenen Jahrzehnten, das am Ende Gewählte mit seiner »Duftmarke« versehen musste – damit er am Dienstende sowohl einen winzigen Bonus kassieren durfte, als auch zugleich den »Existenznachweis« seiner Geschäftstüchtigkeit erbracht hatte. Auch braucht er heute nicht mehr, wie in allen Jahrzehnten zuvor, das betreffende Stück auf den Weg zur Kasse, sodass die Kundschaft mit nur dem Kassenbon zu weiteren Käufen an anderen Stellen der Etage oder sogar des ganzen Hauses munter schreiten konnte. Die praktizierte Geschäftsphilosophie einer Entlastung der Kundschaft durch »Service« war die selbstverständliche Grundlage der »Unternehmenskultur« des bekannten & berühmten Bekleidungskaufhauses.

Statt dieser »Kundendienste« wird heute der Kunde selbst in den Dienst an & für sich  gestellt. Attraktiv wird ihm in dem erwähnten Bekleidungshaus seine Tätigkeit dadurch gemacht, dass er sich – wie in den Supermärkten seinen Einkaufswagen – am besten eine geräumige, hübsch anzuschauende große Umhängetasche greift, die für den Newcomer zuerst unverständlicherweise en masse an Fixpunkten der Etage herumhingen. In sie kann der heutige Kunde folgsam im Laufe seiner Einkaufsakte das Erwählte verstauen & mit sich herumschleppen, bis er die Kasse ansteuert, wo der Inhalt seiner Einkaufstasche ausgepackt & das hauseigene temporäre Transportgerät, die Tasche, zurückgenommen wird.

Natürlich hat der recht, der sich über die Verwunderung des Greenhorns, als das ich mich geoutet habe, seinerseits nun wundert. Selbstverständlich hat man hier »nur« das Geschäftsmodell des Lebensmittel-Supermarkts auf die Bekleidungsbranche übertragen. Das habe ich als nachholende Erfahrung kürzlich erst begriffen. Ist es aber überspitzt, wenn man darüber nachdenklich wird? Was setzt dieses Verkaufsmodell voraus, bzw. wo führt es hin? Warum & für wen ist es attraktiv?

Attraktiv ist es erst einmal für die beiden Supermärkte. Sie sparen die Kosten für das dadurch verschwundene »Humankapital«, sprich Verkäufer & Verkäuferinnen. Sie sind im Lebensmittel-Supermarkt nur an den Frischetheken (für Fleisch, Fisch, Käse & manchmal noch  Backwaren) notwendig, nicht aber mehr bei Gemüsen & Obst. Auch im Bekleidungskaufhaus sind Verkäufer & Verkäuferinnen noch nicht vollständig obsolet geworden, aber auch hier ist ihre Zahl  im Schwinden begriffen (bei erhöhter Belastung der Übriggebliebenen). Tätig sind hier wie dort (zumeist wohl »billige«) Teilzeitarbeitskräfte, die vornehmlich Lebensmittel auffüllen, bzw. die von der Kundschaft beim Suchen & Wühlen im Angebot hinterlassene Unordnung wieder regulieren.

Diese Einsparung des individuellen, sprachkommunikativen Kaufaktes, der aber u.a, die »humane« (heimelige) Attraktivität der zahlreichen lokalen Straßenmärkte ausmacht, ist in den Supermärkten & Bekleidungskaufhäusern für große Teile ihres Angebots nicht mehr nötig, weil es normiert  & nach sachlichen Gesichtspunkten im Raum angeordnet ist.

So warten gewissermaßen z.B. sowohl die verschiedenen Brotsorten wie die unterschiedlichen Jacketts oder Bluejeans  auf die an ihnen interessierte (Lauf-)Kundschaft. Das setzt, zumindest bei solchen Lebensmittelangeboten, alltägliche Kenntnis & Erfahrung der Kundschaft voraus (oder Neugier durch Werbung); in der Bekleidungsbranche dürfte die Kenntnis der eigenen Bekleidungsgröße das absolut nötige Grundwissen sein.

Da aber die Hersteller mit diesen Größen unterschiedlich umgehen, z.B. Hosen & Jackets verschieden zuschneiden, wäre die professionelle Kenntnis eines  gelehrten Verkäufers hilfreich, weil er den Prozess der Anprobe abkürzen könnte & die Assistenz eines gelernten Verkäufers empfehlenswert, der einen als kritische Stimme über die Qualität & das eigene Aussehen mit dem  Anprobierten beraten könnte.

Offenbar scheint derlei »Fachberatung« nicht mehr nötig, ja geradezu lästig – nachdem es einen »Dresscode« so gut wie nicht mehr gibt & die Leute, zumindest in ihrer Freizeit, sich je nach eigenem Gusto kleiden. Einerseits! Andererseits sind sie folgsame Konformisten, die den »modischen Trends« entsprechen, um à jour zu sein & zu bleiben.

Immer häufiger, liest man auf den Wirtschaftsseiten der Tagespresse, dass sich die jüngeren Leute – wenn sie nicht der sinnlichen Erotik des »Shoppens« entsprechen – ihre neuen Bekleidungen etc.im Internet betrachten & per DHL nachhause kommen lassen, zuhause anprobieren & sie bei Nichtgefallen retour schicken.

Dieses Verfahren simuliert auf Seiten des Käufers die umfassendste & weitreichendste Form von persönlicher Souveränität (Verfügungsgewalt, Freiheit & Intimität). Das im Internet-Katalog identifizierte Kaufobjekt wird »per Mausklick« ins Haus bestellt & vom Unzufriedenen wieder entfernt. Ganz von ferne hat der heutige Vorgang noch eine strukturelle Ähnlichkeit mit dem Schneider, der in den obersten urbanen Schichten der adlig-bürgerlichen europäischen Gesellschaften des 19. Jahrhunderts ins Haus kam & z.B. den Anzug am lebenden Objekt entwarf & anprobierte.

Es wäre interessant, durch soziologische Untersuchungen zu erfahren, ob diese nicht unerhebliche Verlagerung des Kaufaktes im Bekleidungsgewerbe von bestimmten ökonomisch-sozialen Käuferschichten favorisiert wird, deren Verhalten auch die großen Bekleidungshäuser Rechnung tragen müssen. Vom Fachverkäufer zum DHL-Boten.     

                                               *

Stumm- & Tonfilm – Bo Widerbergs bittersüße »Elvira Madigan« (1967) kam zwei Jahre nach Agnèse Vardas mehrdeutiger ironisch-affirmative Apotheose der Liebe-zu-dritt mit »Le Bonheur«(1965) in die Kinos. Die beiden Liebes-Filme aus einer Zeit, als derlei »Arthouse«-Filme noch nicht diesen Namen trugen & problemlos in den bundesdeutschen Kinos liefen, haben vieles  gemeinsam, das sie in der vagen Erinnerung zusammenschweißt. Es waren in jener fernen Schwarz/weiß-Film-Zeit, demonstrative Farbfilme. In ihnen wurde die ländliche Natur prachtvoll in aller ihrer sinnlichen »Geilheit« aufdringlich als »schön« hervorgehoben. In beiden Arbeiten spielen die »romantischsten« melodisch-instrumentalen Momente W.A. Mozarts eine leitmotivische Rolle (das Klarinettenkonzert bei Varda, das Andante aus dem Klavierkonzert KV 467 bei Widerberg).

Jetzt beim Wiedersehen von »Elvira Madigan« fiel vieles auf, was vergessen oder niemals zuvor derart überraschend wahrgenommen worden war: allein welche Rolle nicht nur Mozart, sondern auch andere Musiken (u.a. Vivaldi), bzw. die Akustik insgesamt darin spielen; wie »godardhaft« Widerberg einzelne musikalische Phrasen des Klavierkonzerts zitiert & nahezu »brutal« abbricht.

Der Film ist aber auch noch aus anderen ästhetischen Gründen hochinteressant & hochkomplex. Man sieht in »Elvira Madigan« (wie weder davor noch danach), wie sich hier zwei Menschen, die aus Armut buchstäblich von Pilzen & Früchten des Waldes leben müssen, indem sie auf den Knien rutschen & ihre Nahrung vom Boden aufklauben. (So in etwa müssen Alice & Arno Schmidt in ihrer schlimmsten Zeit der 50igerJahre sich verpflegt haben.) An einer Stelle hält sich Elvira die Ohren zu, um etwas nicht weiter zu hören. Widerberg blendet den Ton aus, um uns Zuschauer mit der weiblichen Hauptfigur in eins zu setzen. An einer anderen Stelle des schwedischen Originals macht ihr Geliebter aus Verzweiflung Elvira wütend Vorhaltungen. In dieser Passage setzen die Untertitel aus. Man wüsste gerne, ob Widerberg selbst dieses (Ver)Schweigen gewünscht hat. Denn in diesem Augenblick unterscheidet sich die untertitelte Fassung von der OF (& wohl auch der deutschen Synchronfassung).

Man könnte darin zweierlei sehen: 1. Die sachliche Irrelevanz des vorwurfsvollen Wortschwalls, dessen Inhalt sich jeder im Kino aus eigenem Wissen vorstellen kann.2. Beide Figuren, die wir bisher nur als miteinander harmonierende Verschworene kennen & lieben gelernt haben, werden durch das Aussetzen der Untertitel vor dem Ausbruch von Hässlichkeit & Hass zwischen ihnen halbwegs geschützt. In der Tat sehen wir sie danach getrennt voneinander, auf ihren  Knien sitzend, in sich gekehrt an einem Bachlauf  ins Wasser starren. Dann holt der Geliebte einen Notizblock aus seinem Jacket, reißt ein Blatt heraus, auf das er seine Entschuldigung schreibt & lässt es vom Bach vor die Augen der Geliebten tragen. Während hier Widerberg fast wie in einem Stummfilm gestisch  erzählt, ist das Film-Ende – der einvernehmliche Doppelselbstmord – eine Apotheose des Tonfilms: unter dem arretierten Bild Elvira  Madigans, die in ein blühendes Feld läuft, hört man kurz hintereinander zwei Schuss-Geräusche.

                                               *

Feuerwerksverpuffung- Der Übersetzer & Schriftsteller Felix Philipp Ingold hat kürzlich in einem Essay der NZZ die Behauptung aufgestellt: »Kein Autor darf in diesen Zeiten noch hoffen, irgendwann in postumer Zukunft in die kanonisierte Weltliteratur aufgenommen zu werden – der Shootingstar und vielfache Preisträger von gestern ist morgen wieder vergessen«. Berühmt ist Stendhals Prognose, dass seine Romane nicht bloß bei der »happy few« seiner Zeitgenossenschaft, sondern auch erst von der Nachwelt goutiert würden, womit er übrigens recht hatte. Diese geläufige Utopie, mit der sich zahllose Künstler aller Genres  über ihre Misserfolge zu ihren Lebzeiten zu trösten suchten, in dem sie ihr »wahres« Zuhause in der Nachwelt lokalisierten, widerruft Ingold mit seinen pessimistischen Bemerkungen nicht. Es ist die Tabula rasa der globalisierten Ökonomisierung aller Lebensbereiche, die er vor Augen hat. Nachdem nationale oder europäische Kanons der Künste erst prekär, umstritten & dann für obsolet erklärt worden sind, wurden alle globalen ästhetische Äußerungen für »gleichwertig« & kompatibel gehalten. Von der behaupteten Gleichwertigkeit zur Gleichgültigkeit ist es dann nur noch ein winziger Schritt zu deren naheliegender Irrelevanz. Während also historisch fixierte, qualitative kanonische Setzungen als solche erkannt, inkriminiert & »demokratisch« erledigt wurden, triumphierte auf der damit entstandenen Leerstelle die Kanonisierung der Ökonomie. Sie grinst uns aus dem Wort »Shootingstar« entgegen – womit Ingold einen Autor meint, der plötzlich (auf einmal) mit einem Werk – z.B. einem Buch oder einem Musikstück – »in aller Munde« ist & den alle möglichen Institutionen »preisen« (um sich selbst up to date zu zeigen) & der dann ebenso schnell wieder vergessen sein kann, weil der nächste »Shootingstar« an seine Stelle getreten ist. Nichts zählt mehr heute  – auch in den »nutzlosen« Künsten – als die Präsenz von »Ups & Downs« in der unmittelbaren momentanen Gegenwart. »Der Angriff der Gegenwart auf die übrige Zeit«, wie Alexander Kluge seinen letzten Spielfilm (1985!) antizipatorisch nannte, findet heute laufend statt. Ob er wirklich nachhaltig ist, wird erst eine Zukunft offenbaren, die uns mindestens so fern ist wie die Vergangenheit, in der man noch von der ausgleichenden Gerechtigkeit der Nachwelt träumte.   

Artikel online seit 05.07.17
 

»Petits riens«,
nach dem Titel eines verloren gegangenen Balletts, zu dem der junge Mozart einige pointierte Orchesterstücke schrieb, hat der Autor seit Jahren kleine Betrachtungen, verstreute Gedankensplitter, kurze Überlegungen zu Aktualitäten des
Augenblicks gesammelt. Es sind Glossen, die sowohl sein Aufmerken bezeugen wollen als auch wünschen, die
»Bonsai-Essays« könnten den Leser selbst zur gedanklichen Beschäftigung mit den Gegenständen dieser flüchtigen Momentaufnahmen anregen.
»
Kleine Nichtse« eben - Knirpse, aus denen vielleicht doch noch etwas werden kann. 

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