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Glanz&Elend
Literatur und Zeitkritik


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Bücher & Themen
Artikel online seit 16.06.13

Recherche und Obsession

Biographismus statt Biographie:
Hans Peter Riegel über Joseph Beuys

Von Gregor Keuschnig



 

Die Buchstaben um 90 Grad gedreht und gestapelt zu einem fragilen Turm: »Beuys«. In der Ecke rechts unten der verwaiste Beuys-Hut, darüber prahlerisch »Die Biographie«.

Schon 2010 wirbelte Riegel mit seiner Biographie zu Jörg Immendorff (auch die Biographie), dessen »Assistent und Privatsekretär« er einige Jahre war, nicht nur die Szene auf. Immendorff, der »egomanische Populist«,  wurde von ihm wahlweise der »pathologischen Aggression« (die frühen Jahre), der politischen Bedeutungslosigkeit seiner Kunst (der Café-Deutschland-Komplex kam zufällig, nämlich durch die Wiedervereinigung zu einer ihr dann ungehörig zugesprochenen Bedeutung) und der Saturiertheit bezichtigt. Von »Kollektivisten, über die populistische Kiez-Phase zur prominenten Medienfigur« – so vermischte Riegel Leben und Werk und arbeitete sich ausgiebig an Immendorffs Vorlieben zum Rotlichtmilieu und Kokainkonsum ab; über letzteres spekulierte er mehr als er Fakten lieferte.

Tatsächlich ist diese Biographie in einigen Punkten äußerst lückenhaft. So gibt es nur wenige, dürre Sätze zu Immendorffs Verhältnis zu Marie-Josephine Lynen, der Mutter seines Sohnes, ohne das der Biograph hierfür Gründe angibt. Dafür bedenkt er Immendorffs zweite Frau Michaela Danowska aka Oda Jaune mit allerlei Attributen und füttert den Leser mit dem leidlich bekannten Gossenjournalismus, dem er sich so willig hergibt wie einst Immendorff den Boulevard für seine Vermarktung entdeckte. Hierfür findet Riegel nur küchenpsychologische Plattitüden als Erklärung, wie der Wunsch nach Anerkennung, vielleicht sogar Liebe. Am Ende wird Immendorff zu einem maximal mittelmäßigen Künstler mit einer ziemlichen »Unfähigkeit zur Durchdringung«, dessen Werk die »gesellschaftliche Relevanz« fehle und der sich sogar zuweilen »fremder Ideen« bedient hat. Natürlich ist es nicht Aufgabe des Biographen sein Subjekt durchgängig affirmativ zu kommentieren. Aber es sollte wenigstens ein Versuch unternommen werden, Leben und Schaffen im jeweiligen Kontext der Zeit zu verorten. Es ist natürlich leicht sich aus der Distanz von 30 oder 40 Jahren an Immendorffs politische wie künstlerische Achterbahnfahrten zu verlustieren und im Stile eines Buchhalters die sich dann später aufzeigenden Widersprüche hämisch zu kommentieren. Eine auch nur halbwegs seriöse Auseinandersetzung sieht allerdings anders aus und man fragt sich während der Lektüre, welches Zerwürfnis zwischen den beiden zu einem derart niederträchtigen Text geführt haben könnte. Ein Ziel hatte Riegel allerdings erreicht: Aufmerksamkeit.

Und jetzt also Beuys. Die Beschäftigung mit diesem Buch verlangt fast nach einer Klarstellung bevor ich voreilig in die Ecke der Beuys-Verfechter rubriziert werde: ich bin kein Adept. Etliche von Beuys' Aussagen (unter anderem die, das jeder Mensch ein Künstler sei), habe ich immer für Unsinn gehalten. Politisch war Beuys ein Dilettant, intellektuell wohl nur Durchschnitt. Aber Beuys' Vorstellungen provozierten den leicht verschmockten Kunst- und Kulturapparat und die verstaubte Kulturbürokratie der 70er Jahre. Als Dirigent eines bereits damals auf Hyperventilation ausgerichteten Medienapparates  war er seiner Zeit weit voraus; Wirkungsmacht statt Inhalte, so lautet eine durchaus zutreffende Feststellung Riegels. Weil er das gängige, vermeintlich elitäre Kunstverständnis radikal infrage stellte, rubrizierte man ihn unter den Linken ein. Aber das war – und das zeigt dieses Buch anschaulich  – ein veritables Missverständnis. Dennoch sagt all dies noch nichts über Beuys' Qualitäten als Künstler (und Lehrer) aus.

Künstler und Interpret in einem

Bei der großen Beuys-Retrospektive vor zweieinhalb Jahren in Düsseldorf stieß mir das Malen mit Hasenblut unangenehm auf; ich artikulierte ein gewisses Unbehagen, das sich dort vielleicht »Blut und Boden« finden könnte. Das ambivalente Gefühl wuchs noch, als ich diese wunderbare Zeichnung der beiden Frauen entdeckte (und nicht nur diese). Eine große Faszination ging von einzelnen Installationen wie dem »The Pack (das Rudel« aus, auch Zeige deine Wunde war ergreifend (den autobiographischen Hintergrund kann man erfühlen). Die teilweise martialischen Performances von Beuys (und seinen Mitstreitern), die dort in Ausschnitten zu sehen waren, bestätigten meinen Eindruck eines zwischen Provokation und Wahnsinn geschickt balancierenden Selbstdarstellers, der jede noch so banale Aktion zur Kunst aufhübschte und damit große Beachtung fand. Riegels ausführliche Beschreibungen dieser oft stundenlangen, happeningartigen Veranstaltungen bekräftigen diesen Eindruck, wenngleich man szenische Photographien dieser »Events« (wie man es heute nennen würde) im Bildteil vergeblich sucht. Bis heute ist mir dieser bisweilen sklavisch anmutende Enthusiasmus der Beuys-Versteher unerklärlich, wobei bei vielen Protagonisten, die nach vielen Jahren sachlich und nüchtern Bilanz ziehen könnten, längst die wohlige Verklärung eingesetzt hat.

Beuys, diese spirituelle One-Man-Show, machte damals etwas, was inzwischen längst zum Standard des modernen Künstlers geworden ist: Er verließ sich nicht auf die Deutungen der Rezipienten und der Kritik, sondern übernahm diese gleich mit. Er gab seiner Kunst einen metaphorischen Unter- und Überbau, der die verstörenden-skurrilen Aktionen oder banal erscheinenden Werkstücke (von denen es zahlreiche gibt) politisch und allegorisch auflud. Beuys' Ansehen wuchs ungeachtet der Unverständlichkeit seiner Theorien und der Unzugänglichkeit seines Werkes ständig, wie zum Beispiel Walter Grasskamp luzide bemerkte [Walter Grasskamp: »Der lange Marsch durch die Illusionen«, Beck 1995, S. 64]. Pointiert formuliert: Je abstruser eine Installation oder Performance war, desto notwendiger waren die allzu bereitwillig gegebenen Erklärungen, die Beuys noch mit einer guten Portion »kleinbürgerlichen Revanchismus« versetzte (der »eigentlich um die Anerkennung durch die Institutionen buhlt, die er bekämpft«; wieder Grasskamp -  und desto geheimnisvoller und interessanter erschienen dann Künstler bzw. Werk. Damit war das Interpretationsmonopol der klassischen Kunstkritik  wenn nicht überholt, so doch angegriffen. Es bleibt ein Rätsel, warum sie sich damit abfand und sich schließlich größtenteils ziemlich widerstandslos in die Affirmation begab.

Leider untersucht Riegel dieses Phänomen zu wenig und konzentriert sich fast nur auf den Feuilleton-Journalismus. Bilanzierend betrachtet genügten nämlich zwei Journalisten, um Beuys in den Olymp des deutschen Kunstbetriebs zu heben. Riegel stellt richtig fest, dass Beuys' einfache und zugleich wirre Sprache, sein gelegentliches Nach-Worten-Ringen nicht als Makel, sondern baldigst als Merkmal empfunden wurde. Oft waren die ungelenken Reden Paraphrasierungen eines kruden, esoterischen Weltbilds, dessen Quellen er aus guten Gründen verbarg. War man erst einmal positiv von Beuys eingenommen, störte die Wirrnis nicht mehr. Als Beuys in Großbritannien oder den USA in brüchigem Englisch Vorträge hielt und Interviews abgab, sah die Rezeption deutlich anders aus: Kritiker und Publikum verließen irritiert und/oder gelangweilt den Saal.

»…einer vom andern abgeschrieben…«

Bei aller noch auszuführenden Kritik: Riegel hat sehr akribisch über Beuys recherchiert, insbesondere was die frühen Jahre angeht. Dabei räumt er unerbittlich mit allen Legenden, Lügen und Mythen in und um die Person auf, auch wenn er sich zu gerne an Kleinigkeiten abarbeitet. Es beginnt schon auf der ersten Seite. Allen Ernstes fragt er, warum sich Beuys' Mutter zum Zeitpunkt von Josefs (das »ph« kam erst viel später) Geburt in Krefeld und nicht in Kleve befand und skandalisiert, dass auf der Geburtsurkunde keine Hausnummer des Geburtshauses eingetragen ist. Über die Umstände seiner Geburt äußerte sich Beuys nie schreibt Riegel dann in unfreiwilliger Komik. Aber die »Verwerfungen« gehen weiter: Seine Kindheit habe Beuys verklärt, so Riegel (wer tut das nicht). Es werden falsche Umzugsdaten der Familie genannt (für Riegel wichtig, weil es für seine Tendenz spricht). Es kommt immer schlimmer: Beuys hatte kein Abitur (ein ehemaliger Lehrer gab hierzu 1951 eine falsche Eidesstattliche Versicherung ab) und hätte demzufolge niemals Lehrer an der Akademie in Düsseldorf werden können. Beuys, der sich 1940 freiwillig zur Wehrmacht meldete und für 12 Jahre verpflichtete, habe sich dort untergeordnet (was sollte er sonst tun?). Er war nie Kampfpilot (hierfür hätte er das Abitur gebraucht), sondern erhielt eine Funkerausbildung (immerhin ein Fortschritt zu Riegels Immendorff-Biographie: dort war Beuys noch »Kampfpilot« [Seite 231]). Er flog »nur« mit - als Funker, Navigator und später Schütze. Beuys prahlte nach dem Krieg mit Verwundetenabzeichen und Eisernen Kreuzen, die er niemals erhalten hatte und erzählte von seinen naturwissenschaftlichen (universitären) Studien, die es nicht gab.

Natürlich stimmt die Legende, nachdem ihn Tataren nach einem Flugzeugabsturz tagelang mit Fett und Filz aufgepäppelt haben, mit keinem Wort, was Riegel exakt anhand der vorliegenden Daten aus Beuys' damaliger Militäreinheit nachstellt. Auch wenn die Tataren-Geschichte längst als Lüge entlarvt wurde, liefert dieses Buch einen Blick auf das Zustandekommen, was erneut zeigt, wie geschickt Beuys die Medien für seine Dinge einzusetzen pflegte. Zur Dekonstruktion hätte aber auch ein genauer Blick in das von Riegel ausführlich zitierte Gespräch mit André Müller von 1980 gereicht. Beuys sagte dort: »Da habe ich irgendeinmal in einem Katalog zu einer Ausstellung so eine Lebensgeschichte von mir gegeben, und dann hat es einer vom anderen abgeschrieben, und auf einmal gab es da diese Geschichte« (hastig relativiert er diese Aussage gleich wieder im nächsten Satz, ohne dass der Leser erfährt, in welchem Duktus dies gesprochen wurde).

Mit »einer« ist vor allem Ernst-Günter Engelhard gemeint, Redakteur bei »Christ und Welt«, den der Meister 1968 in seinem Atelier empfing und unablässig mit Geschichten fütterte, die zum Teil bis heute abgeschrieben und fortgeführt werden. Schon vorher war Engelhard von Beuys fasziniert; er war ein Aficionado der ersten Stunde. In scheinbar intimer Vertrautheit bekam der Journalist Informationen aus erster Hand; eine fulminante Lebensgeschichte, die von nun nicht mehr befragt wurde. Sie enthielt sogar Elemente, die wunderbar in den  Aussöhnungs-Kontext der sozial-liberalen Koalition mit den ehemaligen Kriegsgegnern passte. Engelhard setzte die Marke, an der sich bis heute die überwiegende Zahl der Beuys-Rezipienten orientiert, so Riegel. In den 70ern kam noch Gerhard Jappe von der immer einflussreicher werdenden FAZ dazu, der von Beuys in ähnlichem Stil »bedient« wurde.

Auch noch Anthroposoph

Genüsslich vergleicht Riegel die aufgrund neuer Erkenntnisse notwendig gewordenen Änderungen in den Auflagen der bisher erschienenen Biographien, das stiekume Weglassen der sich später allzu offensichtlich zeigenden Lügengebäude und geißelt die verbliebenen, immer noch falschen bis zweifelhaften Stellen. Aber es geht ihm nicht primär um die Richtigstellungen zu den Biographen und Interpreten, die Beuys' Legenden allzu kritiklos auf den Leim gegangen sind. So hatte Beat Wyss schon (fast) alles zu Beuys und dessen Selbstinszenierungen und Mythen gesagt und ihn vor fünf Jahren mehr plakativ als erhellend als den «ewigen Hitlerjungen« verortet. Riegel, der Wyss nicht einmal namentlich erwähnt, fußt auf dieser These, in dem er beispielsweise zahlreiche von Beuys' Mäzenen und Galeristen als durch die NS-Zeit belastete Protagonisten outet und damit suggeriert, Beuys habe sich auch politisch mit ihnen «verstanden«. Der Einfachheit halber werden die »unbelasteten« Persönlichkeiten mit denen Beuys ebenfalls regen Kontakt pflegte, kaum oder gar nicht erwähnt.

Stattdessen findet sich im Bildteil des Buches ein Foto von Paul Fastabend in SS-Uniform, was inmitten der Beuys-Portraits aus allen möglichen Lebensabschnitten sehr suggestiv wirkt. Fastabend, Jahrgang 1905, wird ab Ende 1970 eine Art Büroleiter von Beuys und gründet mit ihm und Johannes Stüttgen 1971 die »Organisation für direkte Demokratie durch Volksabstimmung«, die dann später in die AUD (»Aktionsgemeinschaft Unabhängiger Deutscher«) integriert wurde, einer Partei, mit der Beuys schon in den 60er Jahre sympathisierte und die in den 70ern eine programmatische Wende von nationalistisch nach ökologisch vollzog und schließlich einer der Gründungsorganisationen der Grünen wurde. Bestimmende Figur bei der AUD war August Haußleiter, dessen rechtsextremistisches Gedankengut ausgiebig thematisiert wird. So wird Wyss' Schlagwortthese fortgeführt, ohne ihren Urheber auch nur eines Wortes zu würdigen.

Aber Riegel »entdeckt« gleichzeitig noch eine weitere Camouflage. Geradezu obsessiv findet (und erfindet) er allüberall Parallelen und Fortschreibungen in Beuys' Leben und Werk mit den Schriften von Rudolf Steiner, dem Spiritus Rector der Anthroposophie. So wird fast jede Aktion, jede Performance, jedes Kunstwerk (mit Ausnahme der Zeichnungen; Riegel nennt Beuys einen überragende[n] Zeichner) in Verbindung mit dem Weltbild Rudolf Steiners gebracht (wenn Nazitum und Steiner nicht reichen, werden noch die Rosenkreuzer in den Zeugenstand gerufen). Als Beuys beispielsweise die Reste seiner vertrockneten Weihnachtsbäume in eine Skulptur integriert, findet der Biograph ein Äquivalent zu Tannenbäumen in Steiners Texten. Der erhobene rechte Arm während einer Performance 1964 ist natürlich ein stilisierter Hitler-Gruß. Wenn Beuys die Zahl sieben verwendet, hat dies selbstredend mit Steiner zu tun (dass gerade diese Zahl immer schon eine besondere Bedeutung aufweist, kommt ihm nicht in den Sinn). Da es fast nichts gibt, wozu Steiner nichts geschrieben hat, findet Riegel auch noch so abseitige Parallelen. Beuys habe, so Riegel, den Begriff »anthropologisch« immer dann verwendet, wenn er eigentlich »anthroposophisch« gemeint habe. Beuys wird zum trojanischen Pferd der Anthroposophie. Besonders die einzigartige[n] schamanistische[n] Mysterienspiel[e], die ihn als moderne[n] Multimediakünstler präsentiert[en] bieten reichlich Deutungsmöglichkeiten in dieser Richtung.

Fett, Filz, Hamsun und Joyce

Und selbstverständlich werden auch Beuys' Hauptmaterialien, die für ihn markant werden sollten, mit Steiner in Bezug gebracht. Zum Fett heißt es bei Riegel: Ideelle Vorgabe für Beuys' Adaption des Fetts in sein Konzept der Form schaffenden Bewegung waren die Gedanken Steiners zur »okkulten Entwicklung des Menschen« Er zitiert Steiner: »Dasjenige, was wir Fettsubstanz nennen, gleichgültig ob es der Mensch von außen genießt oder in seinem eigenen Organismus selber bildet, ist nach ganz anderen kosmischen Gesetzen aufgebaut als die Eiweißsubstanz.« Dass Steiner explizit nichts über Filz geschrieben hatte, macht nichts - Riegel findet trotzdem schnell eine anthroposophische Deutung, in dem Filz mit Wärme äquivalent gesetzt wird, und Wärme ermögliche laut Steiner die Wandlung des Geistigen in Materielles und umgekehrt. Wobei ihm hilft, dass Beuys tatsächlich die Wärme-Metapher im Sinne Steiners gebrauchte.

Am Ende diskreditiert Riegel Beuys als Person und weil er Person und Werk im »Fall« Beuys als unentwirrbar miteinander verbunden sieht, damit auch große Teile seines künstlerischen Œuvre. Aus dem freiwilligen Eintritt in Hitlers Armee 1940, seine spätere unkritische Reflexion hierzu (er nannte es 1980 eine »vernünftige Entscheidung« in »Solidarität mit meinen Altersgenossen«) bis zur Adaption der Lehren Rudolf Steiners wird ein neuer, brauner Anzug für Joseph Beuys gestrickt. Dabei stört es Riegel kaum, dass auch die Parallelen zu Steiner nicht neue Erkenntnisse sind; schon zu Beuys' Lebzeiten wurden sie artikuliert. Es genügt ihm, die Vernachlässigung dieses Strangs in der Beuys-Rezeption als Enthüllung zu verkaufen.

Umso überraschender, als Riegel einmal, fast mitten im Buch plötzlich eine andere Interpretation für die Verwendung von Fett und Filz präsentiert: Wie er einen Steinwurf weit von einer gewaltigen Margarinefabrik aufwuchs, befand sich in Nähe von Beuys' Gymnasium der Firmensitz einer der größten Schuhfabriken des Landes, von Elefanten-Schuhe. Aha – also alles eine Sache der Kindheit? Zu Beginn weist er darauf hin, dass Beuys' Vater eine Lehre seines Jungen bei der Margarinefabrik als Berufsziel anstrebte – sicherlich ein Greuel für den jungen Beuys. Warum wird nicht die Möglichkeit untersucht, Margarine, d. h. Fett, als Reminiszenz an den Vater zu sehen, mit dem Beuys Zeit des Lebens ein diffiziles Verhältnis hatte? Schließlich fällt Riegel zum Filz noch die Militärzeit ein: Filz wurde für Schuhe und vor allem Militärstiefel verarbeitet und mit Filz sei er, Beuys, sicherlich damals andauernd in Berührung gekommen. Diese aus dem autobiographischen Erleben heraus abgeleiteten Deutungsversuche bleiben in dem Buch die Ausnahme.

Was tödlich für eine seriöse Biographie ist: Der Biograph hat eine fest gefügte Meinung über die Person, dessen Leben (und Werk) er zu reflektieren und zu abzuwägen hat. Beuys' marketingmäßig geschickt gewählten Legenden und Lügengebäude, sein offensiver Umgang mit der Kriegsfreiwilligkeit (wie lächerlich wäre es gewesen, er hätte sich davon distanziert, wie Riegel dies im vorwurfsvollen Ton moniert), dass Beuys niemanden per se von einer Diskussion oder einem Gespräch ausschloss und auf eine geradezu erschreckende Art und Weise offen und vorurteilsfrei war - alles dient Riegel dazu, sofort das Messer zu wetzen. Mit Wollust wird Beuys' Bekenntnis von 1961 zitiert, dass Knut Hamsun der wichtigste Mann für ihn in der unmittelbaren Nachkriegszeit sei. Sofort zitiert Riegel aus Hamsuns ekelhaftem wie jämmerlichem Nachruf auf Hitler und thematisiert dessen nationalsozialistisches Weltbild, wobei er behauptet, Hamsun sei Mitglied der nationalsozialistischen Partei Norwegens gewesen, was unrichtig ist. Wichtiger aber: Keine Idee, warum Hamsun vielleicht trotzdem für Beuys – neben James Joyce - wichtig gewesen sein könnte. Und kein Wort, wie sich die Affinität Beuys' zu diesen ästhetisch divergierenden Autoren – Hamsun und Joyce – erklärt. Riegel suhlt sich lieber in billiger Gesinnungskritik.

Natürlich ist Beuys auch ein Patriarch, der seine Frau und die Kinder unterdrückt und vormodern erzieht. Unter anderem wird sein Eintreten für ein »Hausfrauengehalt« dafür als Beleg herangezogen: Beuys habe sich, so der Vorwurf, die Frau nur als Hausfrau und Mutter vorgestellt. Und natürlich verweist Riegel auf eine entsprechende Stelle bei Steiner. Dass Beuys' Engagement hierfür der Besserstellung der sich in den 70er und 80er Jahren noch mehrheitlich in traditionellen Rollenmodellen bewegenden Frauen darstellen sollte, später von politischen Kräften von liberal bis links aufgenommen wurde und heute als Idee eines bedingungslosen Grundeinkommens weiterentwickelt wurde, erwähnt Riegel nur ein einziges Mal, in dem er lapidar anmerkt, dieses Modell werde heute unter anderem von Anthroposophen propagiert.

Schlüssiges und Spekulatives

Durchaus schlüssig zeigt Riegel die Parallelen zwischen Steiner und Beuys auf, wenn es um Kunst und den Künstlerbegriff geht: Beuys' »erweiterter Kunstbegriff« war global. Er nährte sich aus dem Gedanken, die in jedem Menschen vorhandene kreative Energie zu aktivieren, die das eigentliche Kapital einer Gesellschaft bildet. So erklärt sich das berühmte Diktum, jeder Mensch sei ein Künstler. Beuys' Aussage sei Essenz aus den Vorgaben Steiners und dessen »künstlerischer Weltmission«, die die Rettung der Menschheit mit ihrer »Hinneigung zum Künstlerischen« verband. Dies meinte, jeder Mensch sei in der Lage, durch den Einsatz seiner kreativen Fähigkeit die gegenwärtig unfreie Gesellschaft zu überwinden und mit der so gewonnenen Autonomie seines Denkens und Handelns an der Verwirklichung des organischen Gesellschaftskörpers der »sozialen Plastik« mitzuwirken. Hier wird von Beuys Steiners Dreigliederung des sozialen Organismus paraphrasiert. Es gelingt Riegel auch das Idyll des per se wunderbaren Menschen auf eine durchaus erhellende Art und Weise zu dekonstruieren, in dem er mehrfach darauf hinweist, dass Beuys nach dieser These auch Verbrecher bis hin zu Hitler kreatives Potential attestierte, das sie jedoch nur leider negativ eingesetzt hätten.

Aber der Biograph belässt es nicht im nüchternen Ton und verfällt allzu oft in holzhammerhaftem Duktus bis hin zur Manipulation. Wenn er etwas nicht weiß, schweigt er nicht darüber, sondern spekuliert. Beispielweise als Beuys' Atelier 1956 abbrennt. Riegel weiß nichts Genaues zu den Umständen des Brandes, aber weil Beuys damals eine Lebenskrise durchmachte, mutmaßt er: Hatte Beuys selbst den Brand verursacht? Aus seinem Zustand geschuldeter Nachlässigkeit? Oder gar vorsätzlich, in einem Anfall von Hysterie? Ein Selbstmordversuch gar? Und welche Indizien präsentiert Riegel für seine Mutmaßungen? Keine. So regiert der Konjunktiv oft in diesem Buch (nachfolgende Hervorhebungen von mir). Beuys' Psyche wurde mutmaßlichvon einer Art innerlichem Diskurs belastet; mehr als ein Dutzend Mal kann man etwas vermuten (die Intensität des Brandes zum Beispiel); es ist so manches möglich (beispielsweise das Beuys schon 1960 auf Sylt einen Anthroposophen-Guru trifft; bewiesen ist gar nichts). Bei Beuys schien auch so einiges, unter anderem wenn es um eine Entschlossenheit in den 50ern geht, Künstler zu werden. Und manchmal erklärt Riegel lapidar, dass etwas nicht mehr endgültig zu klären sein wird. Da wird sehr viel geraten - was am Ende ähnlich unergiebig ist wie das Sich-Verlassen anderer Biographen auf Beuys' Aussagen.

Dabei kann Riegel durchaus mit interessanten Quellen aufwarten. Er hat sich mit zwei Schulfreunden unterhalten, korrespondierte mit Ron Manheim und Beuys' langjährigem Assistenten Johannes Stüttgen (und wertet die endlos anmutenden Akademiestreitigkeiten zwischen Beuys und dem Land NRW unter anderem auch anhand von Stüttgens »Der ganzen Riemen« aus, ein riesiges Konvolut mit dem Untertitel »Der Auftritt von Joseph Beuys als Lehrer – die Chronologie der Ereignisse an der Staatlichen Kunstakademie Düsseldorf 1966 bis 1972«). Er trifft Klaus Staeck, Marina Abramović, Dieter Koepplin (den Riegel mit dem Allerweltsattribut »Experte« versieht) und Lukas Beckmann (der Beuys' Weg bei den Grünen begleitet hat). Aber es fällt auch auf, wer außer dem bereits angesprochenen Beat Wyss fehlt: Beuys' Muse und ständige Begleiterin in den englischsprachigen Ländern Caroline Tisdall beispielsweise. Sollte es in den Jahren der Recherche (aus den Endnoten-Belegen lässt sich eine verstärkte Aktivität ab 2011 herauslesen) nicht gelungen sein, Tisdall ausfindig zu machen? Kein Mitglied der Familie wird anders als aus eingängigen Publikationen zitiert; hier gab es augenscheinlich keinen Kontakt. Von Bazon Brock, der Riegel für seine Immendorff-Biographie noch zur Verfügung stand, findet man auch keine neuen Stellungnahmen. Zur Höchstform läuft Riegel dafür in einer Dokumentensammelleidenschaft auf – 129 Mal wird das Archiv des Autors bemüht, mit Originalen oder Kopien von Fotografien, Berichten, Karteikarten, Artikeln, amtlichen Auszügen, Fernsehfilmen, Transkripten und Briefen an, über und von Beuys an den Autor oder Dritte. Und bei Bedarf werden dann auch die Biographien, die er im Detail so vehement wie begründet kritisiert als Referenzgrößen zitiert.

Deutsch, keltisch, völkisch

Studiert man die Endnoten fällt sofort auf wie ausgiebig sich Riegel mit Rudolf Steiner beschäftigt hat. Im Buch selber werden die fast inflationären Hinweise auf Parallelen schnell ermüdend. Neben den Zeichnungen von Beuys, die Riegel kaum detailliert würdigt, lässt er am Ende nur wenige Kunstwerke und Installationen gelten, da er sie immer mit der Steiner-Brille sieht (womöglich hätte er Beuys noch Hinweise geben können). Gänzlich begeistert ist er nur von der Biennale-Installation von 1976 Straßenbahnhaltestelle, die, so merkt er süffisant an, vermutlich unter dem Einfluss von Caroline Tisdall gänzlich ohne anthroposophischen Einfluss blieb. Tisdall konnte mit Beuys' Weltbild nichts anfangen. Ein bisschen hält er ihre Rolle als Vermarktungs- und Mythenmultiplikatorin klein (wie man beispielsweise hier sehen kann).

Riegel suggeriert, die Rezeption von Beuys habe zu lange die Augen vor den offensichtlichen Parallelen verschlossen. Beuys wird in diesem Buch zu einem verlängerten Arm rechten Gedankenguts, das somit tief in den sozial-liberalen Mainstream der Bundesrepublik hineingetragen wurde. Beuys sei zwar kein Antisemit gewesen, auch kein Nationalsozialist, aber »völkisch«, so das Fazit des Buches. Beuys empfand bis in die tiefsten Verästelungen seiner Persönlichkeit als deutsch heißt es (nachdem es einhundert Seiten zuvor noch geheißen hatte, Beuys verorte sich mit keltischen Wurzeln) und dann kommt das Ein-Mann-Gericht zum Urteil: Geprägt durch die Kriegserfahrungen in der Jugend, hat Beuys auch nach dem Desaster des Zweiten Weltkriegs nie die Überzeugung einer besonderen historischen Position Deutschlands aufgegeben. Diese Auffassung gewann durch Beuys' intensive Beschäftigung mit Steiner und dessen germanisch völkischem Gedankengut an Nährboden.

Als endgültige Belege dienen zwei Texte von Beuys. Zum einen der Aufruf zur Alternative, im Dezember 1978 in der Frankfurter Rundschau erstmals veröffentlicht, der, so überraschend wie beleglos von Riegel als im Wesentlichen von dem Anthroposophen Wilfried Heidt verfasst ausgegeben wird (Riegel bezieht sich einzig auf die Webseite von Heidt [selbstverständlich auch diese im Archiv des Autors]). Hier stört sich Riegel unter anderem an der Verwendung des Wortes «Mitteleuropa«, das er als deutsch-nationalistisch verwendet sieht. Zum anderen bemüht Riegel einen Vortrag von Beuys ein Jahr vor seinem Tod:  Diese Rede wurde zum Vermächtnis seiner Überzeugung eines überlegenen deutschen Volkes, von dessen »Auferstehungskraft« Beuys überzeugt war. Sie ist Ausweis der Annahme völkischer Ideale durch Beuys.

Tatsächlich ist die Rede über das eigene Land ein wirrer Text; eine krude Mischung aus Anthroposophie, Esoterik, politischer Liberalität bis Libertinage, Kapitalismusbashing und - zweifellos - nationalen bis nationalistischen Vorstellungen. Ein schnell ungenießbar werdender Brei, der deutlich zeigt, wie wenig Beuys von Politik verstand.

Ausgerechnet hier zitiert Riegel aber nicht aus Grasskamps klugem Aufsatz von 1995, der Beuys' religiöse und politische Verwicklungen in Bezug auf sein Werk für überschätzt hält und davor warnt, Steiners Einfluß »überzubewerten, denn seit dem frühen 19. Jahrhundert ist der Avantgardismus als eine ästhetische Sozialisation dem Sektierertum stets eng verwandt gewesen.« Grasskamp weist auf die politischen Pittoresken beispielsweise um den George-Kreis hin und erinnert an die Parallelen der italienischen Futuristen zum Faschismus Mussolinis und, auf der anderen Seite, der französischen Surrealisten in der kommunistischen Bewegung. [Grasskamp, S. 70]

Das Ideal des »sauberen« Künstlers

Aber derartige historische Einordnungen passen nicht zur inquisitorischen Attitüde Riegels. Man möchte ihn fragen, seit wann das vom Künstler zur eigenen Werk-Interpretation herangezogene Weltbild konzise sein muss? Wo steht geschrieben, dass Beuys' Deutung die einzig mögliche und richtige ist? Selbst wenn man, wie Riegel es offensichtlich tut, die Anthroposophie für eine gefährliche Sekte hält (sogar Otto Schily kommt bei ihm unter dem Verdacht, Anthroposoph zu sein): Inwieweit kontaminiert diese Weltanschauung das Werk beim Rezipienten? Springen die anthroposophischen Implikationen ins Auge, in den Sinn? Ist Beuys manipulativ tätig und somit ein Demagoge? Welche Auswirkungen haben seine politischen Reden auf die Qualität seiner Kunst? Diesen Fragen weicht Riegel aus. Wer derart vehement und manipulativ anklagt wie er, kann aber nicht heuchlerisch das Urteil hierüber dem Leser überlassen. (Fast kommt einem in den Sinn, zukünftigen Künstlern zu raten, zu schweigen [eines der wichtigsten Rechte eines Angeklagten]. Beuys machte das Gegenteil: er theoretisierte – und wurde damit angreifbar.)

Unlängst hat Malte Herwig in seinem Buch «Die Flakhelfer« die Jahrgänge 1926-28 untersucht, die mit 17, 18 Jahren noch in die NSDAP eintraten und dies ein Leben lang verschwiegen haben bzw. hatten. Etliche von ihnen gehörten später zu denen, die dieses Deutschland nicht nur aufgebaut, sondern dauerhaft demokratisch gemacht haben (Martin Walser, Hans-Dietrich Genscher, Erhard Eppler, Walter Jens, um nur einige zu nennen). Herwig vermied es aus gutem Grund in seinem Buch moralin-sauer zu argumentieren. Er wollte Erklärungen finden. Riegel fehlt dieser Impuls; er beschränkt sich auf die Anklage. Er, der einer Generation angehört, deren größte Entscheidung in ihrer Kindheit und Jugend in der Wahl zwischen Geha- oder Pelikanfüller lag (ich weiß, wovon ich rede), urteilt anmaßend und selbstgerecht über einen Mann, der womöglich eine unglückliche Jugend in der rheinischen Provinz verbrachte, dessen Idealismus schreckliche Irrwege ging und danach dringend nach neuen Vorbildern suchte. Dieses Wesen zu ergründen wäre die Aufgabe eines Biographen gewesen. Aber das verlangt neben einem prall gefüllten Archiv vor allem auch Empathie (da genügt der mit pejorativem Unterton versehene Hinweis, der Krieg sei in den 30er/40er Jahren bei abenteuerhungrigen Jugendlichen als Bildungsreise verstanden worden, nicht).

Riegel ist Rechercheur, aber leider auch eine Krawallschachtel, der die Fakten auch schon einmal gerne so interpretiert, wie er sie braucht. Bemerkenswert, wie gut das in dieser mediokren Mediokratie funktioniert. Fast noch schlimmer als der billige Erregungs-Alarmismus, in den Riegels Sprache allzu oft taumelt, ist der zuweilen unerträgliche ausgebreitete Narzissmus des Verfassers, der schon die Immendorff-Biographie streckenweise so degoutant machte. Dabei bedient Riegel in seinen Anti-Biographien auf perfide Art und Weise den Zeitgeist, in dem er ein Künstlerideal des klinisch reinen, moralisch unzweifelhaften und vorbildhaften Menschen mit einem tadellos-demokratischen Weltbild postuliert. Aber die Kunst eines solchen synthetischen Gebildes wäre (= ist – wie man zu oft sieht) langweilig, borniert, spießig. Abgesehen davon, dass ein solches Ideal selbst wieder in höchstem Maße totalitär, ja, ich scheue mich nicht zu sagen: gefährlich ist.

Was bleibt? Von Beuys vielleicht zwei, drei Kunstwerke. Das ist viel. Von Riegel ein paar korrigierte Fakten. Und die Fütterung der Antiquariate und Büchermärkte. Das ist genug.

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Die kursiv gesetzten Passagen sind Zitate aus Hans Peter Riegels »Beuys«-Biographie. Walter Grasskamps Buch »Der lange Marsch durch die Illusionen - Über Kunst und Politik«, Beck-Verlag, 1995, ist leider vergriffen.
 

Hans-Peter Riegel
Beuys
Die Biographie
Aufbau Verlag
Gebunden, 595 Seiten
978-3-351-02764-3
28,00 €

Hans-Peter Riegel
Immendorff
Aufbau Verlag
Gebunden, 399 Seiten
978-3-351-02723-0
24,95 €

 


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