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Glanz&Elend Literatur und Zeitkritik
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Glanz&Elend
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Fast ein intellektueller »Ozeanpianist«?

Thomas Mann: Der unbequeme Amerikaner als literarisches Provisorium. Hans Rudolf Vaget über das US-Exil 1938-52 des großen deutschen Erzählers.

Von Peter V. Brinkemper

Hans Rudolf Vaget untersucht in »Thomas Mann, der Amerikaner« die Frage nach der persönlichen, literarischen und politischen Befindlichkeit des großen deutschen Erzählers im Laufe der 14 Jahre kontinuierlichen Lebens in den USA. Dabei berücksichtigt er die Lebensverhältnisse im Gesamtverlauf des 22jährigen Exils: die Weltläufigkeit des Auslandsreisenden, dem mittlerweile die Nationen zu eng geworden sind, die erzwungene Emigration aus Nazi-Deutschland 1933, die Umstände der definitiven Ausbürgerung 1936 bis hin zur Entscheidung 1938, amerikanerischer Staatsbürger zu werden, und den weitgehend glücklich und produktiv verlaufenden Aufenthalt in den Vereinigten Staaten als Dichter, Denker, Demokrat und mahnende Stimme nicht nur Deutschlands, bis hin zur finalen Rückkehr nach Europa in die Schweiz 1952, wo er bis zu seinem Tode 1955 lebte.
 

Unübersichtlichkeit und individuelle Zurechtlegungen

Heute, 2011, kann Vaget zurückblicken auf einen riesigen Apparat der kollektiv bereits geleisteten Thomas-Mann-Forschung und der bisher erarbeiteten Werk-Editionen. Wenn da nicht die Politik der selektiven Kenntnisnahme wäre. Man kann geradezu behaupten: Die neuerlich angekündigte Transparenz der Textgenauigkeit und Kommentierung ist in arbeitsteilige Unübersichtlichkeit umgeschlagen, in eine immer weiter getriebene Verfeinerung, bei der jeder einzelne Wissens- und Quellenverwalter auf ältere und neue Forschungsstände zwischen bereits erfolgter Publikation und noch zu erschließendem Archivbestand zurück- oder auch vorbeigreift, um sich seinen eigenen Thomas Mann interpretierend zurechtzulegen. Daher ist Inge Jens’ Überlegung zu den Tagebüchern auf einer Lesung der Thomas Mann-Gesellschaft Düsseldorf 2010 von besonderer Bedeutung: Sie habe sich darüber klar werden müssen, „wie viel Distanz und Souveränität nötig sind, um innerhalb einer Edition objektive, und das heißt für mich, forschungsrelevante Aussagen machen zu können“.
 

Das Labyrinth der neuen Edition

Derzeit ist ein Großteil der Werke in der 2001 mit „Buddenbrooks“ gestarteten, auf 38 Bände ausgelegten Großen kommentierten Frankfurter Ausgabe des S. Fischer Verlage neu erschienen, wenn auch in der Epik die „Späten Erzählungen“, „Joseph und seine Brüder“, „Der Erwählte“ und „Felix Krull“ noch ausstehen, die Essays im neuen Editionszyklus noch nicht einmal zur Hälfte neu publiziert sind, und die Neuausgabe der 1977 bis 1995 zunächst von Peter de Mendelssohn und Inge Jens bereits vorbildlich edierten Tagebücher erst 2012 herauskommen soll. In Planung sind auch eine komplette mehrbändige Edition der Briefe. Vaget zeichnet mit Detering, Heftrich, Kurzke, Reed, Sprecher und Wimmer hauptsächlich für die Neuausgabe verantwortlich, und hat sich als Herausgeber des höchst aufschlussreichen Briefwechsels zwischen Thomas Mann und Agnes E. Meyer 1937-1955 (1992) und als Monograph über die musikalische Dimension in Thomas Manns Werk (u.a.: „Seelenzauber. Thomas Mann und die Musik“, 2006) hervorgetan.


Kompetenter „Auslandskorrespondent“

Als emeritierter Professor of German Studies and Comparative Literature am Smith College (Northampton, Massachusetts) ist Vaget neben dem in Oxford emeritierten Reed und Lehnert in Irvine ein kundiger „Auslandskorrespondent“ der Mann-Forschung und sitzt an der Quelle US-amerikanischer Archive, allen voran der Library of Congress in Washington, D.C., mit dem Nachlass der Thomas-Mann-Förderin Agnes E.(lisabeth) Meyer, dem Hauptschatz von Vagets politischer, biographischer und psychologischer Darstellungsdimension, der Franklin D.(elano) Roosevelt Presidential Library and Museum in Hyde Park, im Staate New York, das Harry Ransom Center der University of Texas, Austin, mit dem Nachlass des Verlegers Alfred A.(braham) Knopf, sowie die Beinecke Rare Book and Manuscript Library der Yale University in New Haven, Conneticut, mit ihrer bedeutenden Thomas-Mann-Sammlung. Diese und andere transatlantische Gegenstücke zum wackeren Züricher Thomas-Mann-Archiv und den deutschen Institutionen helfen nach Vagets eigenem Dafürhalten, den historischen US-amerikanischen Kontext zu erschließen, wie er aus Manns eigenen Werken, Essays, Tagebüchern und Briefen sowie seinem doch auf die deutsche Sprache und Kultur auch noch im Ausland fixierten Selbstverständnis nicht immer hinreichend deutlich werde. Beinahe hätte Mann seinen Nachlass einem windigen und selbsternannten Vermittler der Universität Yale zu günstig verkauft und die ETH Zürich wäre als heutiger Archiv-Sitz leer ausgegangen. Doch die zunehmenden antikommunistischen Verdächtigungen nach Thomas Manns Goethe-Jubiläums-Besuch in Deutschland, im „kommunistischen“ Weimar und im westdeutschen Frankfurt am Main, 1949 ließen den mehrfach verzögerten Deal platzen.


Konfrontation und Begegnung

Vieles, was an Informationen und Kommentaren zu Thomas Manns Exil und seinem 14jährigen Leben als Bürger in den USA, von ihm selbst und anderen, bisher vergleichsweise knapp ausfiel, gewinnt bei Vaget eine instruktive Breite und luzide Tiefe bei voller biographischer, kultureller und politischer Plastizität. Exemplarisch findet er eine interdisziplinäre und interkulturelle Basis für seine zum Teil verwickelte Darstellung. Wieder einmal eine „Rettung ins Ungenaue“? Wir erfahren von Thomas Manns, dem Weltreisenden und Weltbüger, Nobelpreisträger seit 1929, der 1933 plötzlich, aber nicht völlig unerwartet, mit der drohenden nationalstaatlichen Exkommunikation konfrontiert wird. Es beginnt eine schmerzlich-intelligente Auseinandersetzung mit dem zunächst ungewollten Zustand. Seit 1930 hatte sich die Lage zugespitzt, auch durch Manns damalige kritische öffentliche Rede in Berlin zur NS-Bewegung. Nach den überzogen inszenierten Reaktionen zu seinem Münchener Wagner-Vortrag 1933 und während der anschließend wie geplant angetretenen Auslandsreise zeichnet sich, aufgrund der neuen Gesetzeslage, die Ausbürgerung ab, sie wird erst aufgeschoben und dann 1936 vollstreckt, es erfolgt bereits zuvor die Beschlagnahmung von Vermögen, während doch die lebensgefährliche Verhaftung bei der eingeforderten Rückkehr nach Deutschland (um bei den Behörden vorzusprechen) gedroht hätte. So wird die Frage nach der zu wählenden Richtung im Exil immer dringlicher. Leben und Arbeiten, ja, aber wo? Stille und Abgeschiedenheit, oder auch lauter Protest, aber wiederum wo? Neben der defensiven stellt sich auch die offensive Frage: Kann man angesichts der allgemeinen politischen Lage auf sich selbst noch Rücksicht nehmen und nicht die Stimme der öffentlichen Anklage gegen die Nazis auch im Ausland ergreifen? Mit dem Briefwechsel zwischen Thomas Mann und der Universität Bonn 1936, anlässlich der Aberkennung der deutschen Staatsbürgerschaft und infolgedessen auch der 1919 verliehenen Ehrendoktorwürde wird der öffentliche Angriff von „draußen“ gegen Nazi-Deutschland eröffnet. Das Exil wird als riskante Lebensform im dynamischen Umfeld verschiedener transnationaler, sozialer, kultureller und politischer Orientierungen deutlich. Thomas Manns Werdegang als exzeptionell erfolgreicher Weltreisender und Migrant wird ohne falsche Beschönigung und in fein austarierter kritischer Abwägung als ein heikler Glücksfall und als vielschichtige Beziehungsarbeit inmitten einer auf beiden Seiten des Atlantiks tragischen Weltepoche erläutert.

 

Dokumentarischer Illusionismus

Manches bleibt zwar in der pro Kapitel bisweilen sprunghaft und assoziativ anmutenden Abfolge und Rückwendung sowohl in der Chronologie wie der Logik der Begründung rhapsodisch. Besonders lebendig kommt dieses „prismatisch“ angelegte Buch daher, wenn man als Leser nicht linear von Anfang bis Ende liest, sondern sich lustvoll in einzelne Abschnitte vertieft und sich an einladend ausgemalte Themen und das bisweilen raffiniert erzählte Personal immer näher heranführen lässt. Vaget ist ein dokumentarischer Illusionist der vertrauten Nähe, er hat da so manches stimmige, intim-private oder auch verschwörungstheorieverdächtige Szenario in subtil akademischer Dosis auf Lager. Dem Zeitzeugen und noch frischen Weltliteraten Thomas Mann werden künstlerisch rezipierte oder persönlich bekannte, geschätzte oder abgelehnte Größen gegenüber gestellt, in einem Schmelztiegel der realen und imaginären Ungleichzeitigkeiten: unter vielen anderen, von ihm verehrte Autoren wie Walt Whitman als Figur des 19. Jahrhunderts und der beneidete T. S. Eliot, als aus den USA stammender konvertierter Brite, festverwurzelt in der angelsächsischen Sprache und Kultur, der in Harvard mitgeehrte deutsche Ko-Star und Nobelpreisträger aus dem Jahre 1922 Albert Einstein, verpasste Gelegenheiten im gemeinsamen Kampf, wie Marlene Dietrich, die großen politischen Vorbild- und Schutzgestalten Franklin D. und Eleanor Roosevelt, der multilingual versiert schreibende Vladimir Nabokov, Bruno Walter als enger musikalischer Freund, Ernst Lubitsch und Jack Warner, als Ansprechpartner in Hollywood für einen nicht realisierten „Joseph“-Film, Theodore Dreiser, Upton Sinclair und Sinclair Lewis als geschätzte ältere zeitgenössische US-Kollegen; oder junge talentierte Bewunderer und zukünftige Stars wie Susan Sontag und Gore Vidal; und zweifelhafte Größen wie die Vor-McCarthyistischen Politiker des House Unamerican Activities Committee oder groteske Figuren aus Manns FBI-Akte, die Thomas Manns gesamtes politisches Engagement, seine Wandlungsfähigkeit, sein Misstrauen oder seine nun demokratisch orientierte System-Kritik auch in den USA, bis hin zum Wunsch, wieder nach Europa zurückzukehren, noch weiter anstachelten.

Über die Parallele der immens wichtigen wie gelegentlich manisch-besitzergreifenden Förderin und genialen Multiplikatorin Agnes E. Meyer und jener Frau von Tolna im „Dr. Faustus“ mag man lächeln. Ähnlicher Reichtum, Wohlhabenheit und Haus- und Landbesitz, hin oder her. Der jeweilige Typus liegt doch zu weit ab vom anderen. Die Seelenverwandtschaft zwischen Meyer, von Tolna und Thamar aus dem „Joseph“ mag stimmig sein. Agnes E. Meyer, geb. Ernst, war eine protestantisch-deutschstämmige, literaturbesessene und von Thomas Mann seit ihrer Jugend hingerissene, verheiratete,  sehnsuchtsvolle Frau. Als eine Art US-amerikanisch verstärkte Toni Buddenbrook setzte sie sich gegenüber ihrem verschuldeten, unzuverlässigen und der Mutter untreuen Vater den Willen nach Emanzipation und höherer Bildung als junger Frau durch. Kunst, Kultur, Fotografie (Stieglitz, Steichen), die klassische Moderne in New York und Europa waren ihre Domäne, ihre Interessen sollten dann in einem auch politisch orientierten Journalismus beruflich gebündelt werden. Im Jahre 1910 heiratete sie Eugene Isaac Meyer, New Yorker Börsenmakler und Unternehmer (was Vaget hier im textnahen Rekurs auf Agnes Meyers eigene erste Briefvorstellung 1937 nicht erwähnt), den späteren Präsidenten der Federal Reserve Bank (1930-33) und der Weltbank (1946), der die heruntergekommene Washington Post billig erwarb und Millionen Dollars hineinpumpte, bis durch das gemeinsame Wirken mit seiner Frau, der Tochter Katharine Graham und dem Schwiegersohn Philip Graham das Blatt zur seriösen und investigativen Instanz wurde, wie sie beim Watergate-Skandal, der zur Amtsenthebung Nixos führte, zum Tragen kam. Vaget belegt: Thomas Mann und Meyer pflegten von 1937 bis an des Autors Lebensende einen intensiven und weitreichenden Kontakt, wovon beide Seiten zutiefst profitierten. Er weihte sie in sein literarisches Werk bis hin zu den nächsten Plänen ein. Aber um seine Autonomie besorgt, widerstand er während seines Exils der Verführung, Meyers Wohlwollen, Hilfestellungen und Zuneigungen allzu stark und auch allzu direkt zu strapazieren. In bestimmten Momenten genoss er aber beträchtliche Vorteile durch ihr weitverzweigtes Beziehungsnetz, wodurch er gegenüber anderen Emigranten in der Tat als privilegiert erscheinen musste – durch mühevoll erarbeitete, positiv rezensierte und geschickt vermarktete Vortragsreisen und Bucherfolge („Joseph, der Ernährer“, „Dr. Faustus“, „Der Erwählte“ jeweils auflagenstark als Bücher des Monats im landesgrößten Buchclub) sowie universitäre Ehrungen und Beschäftigungen (eine von insgesamt acht US-Ehrendoktorwürden gemeinsam mit Einstein in Harvard, 1935, politisiert als Gegenschlag zu der von der Universität abgelehnten Institutionalisierung eines von Hitlers Auslandssprecher gestifteten Hanfstaengl-Stipendiums für akademische Aufenthalte in Nazi-Deutschland) und nicht zuletzt den lockeren Mitarbeiterstatus in der Library of Congress mit einigen allerdings gewichtigen Vorträgen. Vagets Kosmos und Cluster von Daten, Personen und Perspektiven aktiviert insgesamt den Leser, über Manns eigene Sicht hinaus die mögliche objektive Relevanz der im Exil gebotenen und verwehrten, genutzten oder auch vertanen Chancen nachhaltig zu überdenken. Wenn es darauf ankommt, wird Vaget auch politisch scharfzüngig: entsprechende Schlagwörter sind die US-Kommunistenjagd, die Methoden der politisch verschachtelten FBI-Überwachung, aber auch die aus dem Geiste McCarthys fließende Politik der US-Präsidenten Reagan und der Bushs und das bornierte Klima im Nachkriegswestdeutschland sowie Joachim Fests selbstgefällige Herunterspielung der Leistungen und der Rolle Thomas Manns (mit Golo Mann als unzuverlässiger Zeugengeisel). Vaget gelingt es, einen in langer Perspektive progressiv wirkenden zukunftsweisenden Thomas Mann aus dem alten konservativen Bild des versponnenen Exilliteraten herauszufiltern.


Ein Deutschland, aber ambivalent und dialektisch zwischen gut und böse

Unter dem Stichwort „heimatliche Ferne“ entwickelt Vaget schließlich in einem plädoyerhaften Stil Thomas Manns politische Exil-Konzeption des einen Deutschland, in dem sich die aktuelle kriegsfinale Außenperspektive und die Erinnerung an die einstmalige historisch-biographische Innen- und Lebenswelt verschränken. Deutschland sei dialektisch gut und böse, und bewege sich in seiner Geschichte immer wieder von einem Pol zum anderen. Deutschland und die Deutschen besäßen ein ambivalentes Potential, einerseits einen Hang zum idealistischen und universalistischen Guten und zur Gerechtigkeit mitten in einer föderalen und dezentralen Struktur; andererseits den verspäteten Hang zu einem im Vergleich zu anderen Mächten nachgeholten und extremen Nationalismus, der auf die Hegemonie über die restliche Welt und damit auch auf zivilisatorisches Unrecht und das Böse abziele.

Diese Doppelnatur sei keineswegs auf einen Pol allein zu reduzieren. Eine geschichtliche, mentalitätsmäßige, kausale oder teleologische Reduktion der Deutschen nur auf den bösen Part, etwa den nationalsozialistischen Hitlerismus, komme also auch nicht in Frage. Und doch sei, nicht ganz zu Unrecht, in diese Richtung zur gegebenen Zeit argumentiert worden. So sah der englische Diplomat und Deutschlandkenner Sir Robert Gilbert Vansittart vor allem die Tendenz zum radikalen Bösen allgemein im anbrechenden Hitler-Deutschland und erhob seine kritische Stimme als „scharfsinnnigen“ Einspruch zur blind-versöhnlichen Appeasement-Politik des Britischen Premiers Neville Chamberlain angesichts von Hitlers Willen zur zunächst unbehinderten Expansion. Nie sei Thomas Mann von der idealistischen Erinnerung und Anmahnung des Erbes und Potentials deutscher Kultur abgerückt, auch nicht in der Befürwortung des Krieges gegen ein aggressives Deutschland und der Mahnung an die USA, endlich offen in den Krieg einzutreten, auch nicht am Abgrund der Offenlegung der deutschen KZ-Gräuel; aber andererseits vertrat er, bei allem Idealismus, zugleich ein nüchtern-realpolitisches Szenario vom zu führenden Krieg und vom erwartbaren Kriegsende: die totale Kapitulation und die Unterwerfung der Deutschen unter den Willen der Siegermächte einschließlich den USA, das Dritte Reich zunächst zu teilen und die Deutschen politisch klein zu halten. Dagegen pflegten Bertolt Brecht und sein Umfeld im US-Exil einen kommunistisch getönten Patriotismus einer rasch von den Siegermächten freizulassenden neuen ungeteilten linken Volks-Demokratie. Von dieser Position setzte sich Thomas Mann nach anfänglich pauschaler Zustimmung schließlich doch ab. Er war der grundsätzlichen mentalitätspolitischen Ansicht: „Das böse Deutschland, das ist das fehlgegangene gute, das gute im Unglück“ („Deutschland und die Deutschen“). Aus der Untrennbarkeit von Nazis und Volk, im Sinne von begeisterten oder gehorsamen Mittätern, Mitläufern und Duldern, zog er Zweifel gegenüber einem vorschnellen Optimismus der selbstständigen post-nationalsozialistischen Konsolidierung Deutschlands ohne längere fremde Besatzung, Anleitung und Reeducation. Nicht von kollektiver Schuld, wie oft heute oft nach fälschlich angenommen werde, sondern von konsequenter sozialer Verantwortung für Vergangenheit und Zukunft sei hier die Rede.

 

Vaget und die Sache mit der Musik

Problematisch wird die Darstellung dort, wo die von Thomas Mann selbst verfasste „Entstehung des Doktor Faustus“, die ja auch ein erster Quellenkommentar ist, aufgrund der von Vaget speziell hervorgehobenen Lektüreerlebnisse fast überboten wird. Hier schlägt der mittlerweile erreichte Stand der hochauflösenden Unübersichtlichkeit des Materials, die Steckenpferd-Philologie interpretatorische Kapriolen, weil die Gesamtanlage von Rhythmus, Proportion und Struktur der kommentierten expliziten und impliziten Textbefunde bei Gelegenheit aus dem Ruder zu laufen droht. Andere gleichfalls für das Werk relevante Rezeptionslinien werden abgeschwächt und ausgeblendet. (Ähnliches wurde bereits bei der Kritik an einigen Stellen von Wimmers „Faustus“-Kommentar von mir besprochen).

Vaget zufolge beeindruckten Mann für die Arbeit am „Faustus“ besonders Erich Kahlers „Israel unter den Völkern“ und „Der Deutsche Charakter in der Geschichte Europas“, sowie Robert Louis Stevensons „Strange Case of Dr. Jekyll and Mr. Hyde“ und Sebastian Haffners „Germany: Jekyll and Hyde“. Das liest sich ein Stück weit interessant als Vermittlungs- und Lernmodell Mann zwischen den 1930er und 40er Jahren, sowie als Querverbindung zwischen Politik und Literatur, auch für die historische Weiträumigkeit von Quelleneinflüssen angesichts der Wiedervorlage in neuer Lebenslage. Doch die ausführliche Begründung bleibt historisch kontingent; die Präferenz dieser Quellen mutet wie ein willkürlicher Ausschnitt aus dem „faustischen“ Gesamtspektrum an. Die Offenlegung der KZ-Gräuel – als Kulmination der auf kollektiven Machtrausch und Menschenverachtung getrimmten Nazi-Tyrannei – durch die US-Truppen in Weimar, Buchenwald und seinen Außenstellen, wie dem von den Generälen Patton, Bradley und Eisenhower medienwirksam besuchten Ohrdruf und den u.a. von Margaret Bourke-White eindringlichen Fotografien von Leichenansammlungen oder den auf US-Befehl vorbeidefilierenden Weimarer Bürgern (Life, 7. Mai 1945) – all dies hat in der Tat ihre pointierte Spur im Roman hinterlassen. Und zwar nicht nur im Sinne der immer abgründiger und vielleicht auch fragwürdiger werdenden „Ein-Deutschland-zwischen-Gut-und-Böse“-Theorie, sondern auch als düstere Präambel von Adrian Leverkühns lange im Roman antizipiertem Finalwerk, dem seriellen Riesenlamento der Kantate „Dr. Fausti Weheklag“. Ihr liegt bezeichnenderweise ein zwölfsilbiges und zwölftöniges Grundthema aus dem Volksbuchtext der Abschiedsrede zugrunde: „Denn ich sterbe als ein guter und böser Christ“, ein in seiner motivisch-melodischen und harmonischen Dimension ambivalent spiegelbares Thema, das im Monteverdi-Stil der symphonischen Variationsätze wie ein unentwegt nachhallendes und zerdehntes Echo, eine in den melancholischen Wahnsinn ausfächernde Botschaft einer negativen Neunten Symphonie ausfällt. Es ist das lineare Gegenstück zur abrupten vertikalen Geheimidentität von Höllengelächter und anschließendem Himmelsklang genau in der Mitte des drakonisch dahinjagenden zweisätzigen Oratoriums „Apocalipsis cum Figuris“ mit seinem die vokalen und instrumentalen Kräfte aufscheuchenden und vernichtenden Geheul und Glissando (Vgl. dazu: Krzysztof Penderecki: Dies Irae. Auschwitz Oratorium. Apocalipsis, Part 2. Im Anschluss: Lamentatio, Part 1).
 

Musik als Teil der entarteten Politik

Vaget spricht hier eher von Politik, als von Musik selbst. Aber er droht auch der Musik pauschal die Kraft der expressiven Erkenntnis abzusprechen, die sie doch zweifelsohne hat. Dahinter steckt der Eifer zur politischen Demaskierung der deutschen Ideologie zwischen spätestens 1870 und 1945, vielleicht auch Abschwächung von Theodor W. Adornos nachweisbar diffiziler „Faustus“-Beratung – gleichermaßen eingegangen in den Inhalt und die erzählerische Form des Romans. Vaget thematisiert, wie die Musik und der musikalische Sinn der  „Deutschen“ zur rein ideologischen „Musikidolatrie“ verkam. Musik, verstanden als vulgärmetaphysische Grundlage der im Dritten Reich gefeierten faschistischen Kulturhegemonie, wird in der Tat zum dumpfen provinziellen Dämonismus, geschichtsphilosophisch zum zeitlosen, fortschrittsfeindlichen und antiuniversalistischen Medium der eigenen gewaltsamen Machtsetzung. Die diskursstiftende Dialektik der Musik für das Erzählen im „Doktor Faustus“ wird aber so verfehlt, die von Thomas Mann für den Roman pojektierte Rettung der Musik vor dem banalen faschistischen Mythos, die konstitutive Spannung zwischen provinzieller Provenienz und der unausweichlichen Bestimmung zur europäisch-kosmopolitischen Universalität großer klassischer, romantischer und moderner, serieller und postserieller Werke.

Was Vaget auf der politischen Ebene anspricht, ist vor allem der hochmütig-dünkelhafte, aber letztlich triviale fremdgesteuerte Missbrauch der Musik als professorales und prophetisches Ersatzgefühl für die nicht vorhandene Volksgemeinschaft: so die prahlerisch herunter-inszenierten Konzertstücke aus den Musikdramen Wagners: Furtwängler degradierte sich und die Berliner Philharmoniker zu nachsynchronisierten Filmstatisten: die Musiker werden zum autoritären Kurz-Kur-Orchester in der Werkpause einer AEG-Maschinenfabrik gleichgeschaltet, und das „Meistersinger“-Vorspiel zum PR-Gag, das den Durchhaltewillen der eh schon abgearbeiteten und nun auch noch vor die Kamera befohlenen Arbeitern und Soldaten stimulieren soll, Wagners „Reklame-Fanfaren“ (Adorno) werden zur Muzak, einer Elevator-Background-Musik, die nicht erhebt, sondern wie ein „Lastwagen“ (Mann) herunterzieht.

Unter die gleiche Kategorie fällt die propagandistische Zurschaustellung der Symphonien Beethovens, Bruckners und den Symphonischen Dichtungen Liszts und Strauss’ (Vgl. War-Correspondent Klaus Mann über Richard Strauss).

Die deutlichste Sprache ging von den ohrenbetäubenden Marschtritten aus, die zur Marke des imperial auftretenden Ermächtigung-Blitzkrieg-Wochenschau-Faschismus geworden sind. Thomas Mann und Serenus Zeitblom haben über die Ideologie des „scheinbar heiligen Taumels“ der angeblichen „völkischen Wiedergeburt“ und über die „Schlagetot-Gemeinheit“ der von den uniformierten Kolonnen gebrüllten NS-Lieder zwischen Leitartikel und Volkslied, Romantik und Völkischem Beobachter treffliches geschrieben. Im Roman setzt Leverkühn dieser Tendenz nach einer Periode längerer ironischer Camouflage, aus der Not seiner Kaisersascherner Seele, einen reflexiven und künstlerisch autonomen „Kommentar“ in Form einer Prophetie hoher und ernster Musik bis zu seiner Umnachtung 1930 entgegen – dem Jahr der öffentlichen Kritik an den Nazis durch Thomas Mann. Hier – wie in Hans Castorps europäisch-impressionistischen Musikgenüssen im „Zauberberg“ (zwischen Debussy, Bizet, Gounod und dann doch Schuberts „Lindenbaum“ aus der „Winterreise“) und auch schon Hanno Buddenbrooks letzten spätromantischen Musikphantasien (gefürchtet von dem von Bachscher linearer Kontrapunktik durchdrungenen Organisten Edmund Pfühl) – wäre es völlig falsch, die Musik gleich in die Ecke von Tod und Teufel zuschieben, auch wenn sie noch so dämonisch zu ihrer Zeit geklungen haben mag.

Thomas Mann profitierte in seiner Erzählmethode, der zeitbezogenen und Zeit gestaltenden spiraligen Wiederholung, Zerlegung und Variation von Wortfolgen und Sprachwendungen in einem späteren und sinngemäß anderen Kontext von der Leitmotivtechnik Richard Wagners und der Durchführungsarbeit bei Beethoven. Mann sprach von „epischem Musizieren“ – und meinte Wagners und sein eigenes. Im „Faustus“ wird dieses Programm durchgängig radikalisiert und auf eine kommentierbare Ebene gehoben, die bisher nur sporadisch analysiert worden ist.
(Vgl. dazu Thomas Manns anspruchsvolle autobiographische Reflexion zu Wagners „Lohengrin“-Vorspiel)

Nicht umsonst schreibt Nietzsche im „Ecce Homo“ (fünf Jahre nach Wagners Tod, also1888/9 am Rande des ausbrechenden Wahnsinns, „Warum ich so klug bin“, Aphorismus 7): „ich werde nie zulassen, daß ein Deutscher wissen könne, was Musik ist.“ Dies ist gegen die bereits etablierte plakative Verbindung von Wagner, Bayreuth (ab 1876) und dem Deutschen Reich (1871) gerichtet, dem Ursprung des neuen autoritären Bayreuther-Massen-Hörers und seiner ideologischen Verbrämung durch den völkisch getönten Chef-Ideologen Hans von Wolzogen, der Züchtung eines zackig-unmusischen, hysterischen und „krummbeinigen“ Typus, der auf den vom Volk „Auserwählten“ wartete und ihm, dem Vermeintlichen dann Tür und Tor im Talmi-Gesamtkunstwerk und Primitiv-Marketing von Politik, Propaganda und instrumentalisierter Reichs-Kunst öffnete. Nietzsche fährt geschmackssicher fort, dass es neben einigen subtilen Passagen in Wagners Werk nur wenige Musiker gebe, darunter einige ausgestorbene Deutsche, Schütz, Bach und Händel, aber ansonsten andere Europäer, Ausländer, Migranten, Juden, ein polnischer Mischling, wie er sich auch selbst versteht, die das Geheimnis um einen nicht mehr territorial abgrenzbaren Musikbegriff teilten, der mit Lyrik, wilder Feminität, Tränen und der Sehnsucht nach dem Anderen, dem Süden, mit Venedig (und vielleicht doch mit „Carmen“) zusammenhänge, nicht aber mit den schweren, untänzerischen Füßen der Germanen.

 

Utopische Bodenlosigkeit des Remigranten

Thomas Manns Denken, Leben und Wirken besaß starke Wandlungsfähigkeit und Ironie gerade durch seine Sprachartistik, sein Urteilsvermögen, das zur distanzierenden und doch lebendigen Reflexion, Abstraktion und Variation, zwischen anschaulichem Detail und episch-epochalem Atem wie selten fähig war, auch in Grenzbereichen zwischen Leben und Sterben, Beginn, Übergang und Ende einer Epoche, und für komplizierte Verlaufsform unterschiedlichster Musik- und Diskursformen. Sein Genie speiste sich aus dem anscheinendem „Verfall“, aus tatsächlicher lokaler und nationaler Entwurzelung und leicht sentimentalisierbarer Heimat-Verlorenheit, in Wahrheit aber aus der erstaunlichen Fähigkeit zur Emanzipation und zum Bruch mit faulen Traditionen, um die ungeheure Stärke eines Weltbürgertums zu entwickeln, die jeder abgegriffenen Dekadenz-Annahme völlig widerspricht. In der Rolle des Amerikaners auf Zeit gewann er ein intellektuell produktives Exil, eine geistige Welt-Außenperspektive, die wirksam wurde und heute noch Maßstäbe setzt. Und diese von Vaget verdeutlichte Entwicklung ließ ihn letztlich nicht mehr nach Deutschland, Ost oder West, zurückkehren, aber auch nicht in den USA bleiben: Am Anfang des Unheils wurde er beizeiten offiziell laut und äußerte sich in aller Deutlichkeit kritisch, knapp vor der Aberkennung der deutschen Staatsbürgerschaft wurde er für fünf Jahre tschechoslovakischer Staatsbürger, dann entschied er sich 1938 für die US-amerikanische Staatsbürgerschaft als Zeichen einer äußeren und inneren Veränderung, in deren Dienst er seine Stimme erhob, in weiter vorausschauender Distanz zum Unrechtsregime und der weltweiten Bedrohung durch den Faschismus. Bis zur Mitte seines US-Exils war Thomas Mann ein lernbegieriger Gast, und ein American Citizen im idealistischen Sinne des „Good Will“, mit reflektierter Zivilcourage, der zwischen literarischer Arbeit und gesellschaftlichem Leben, freiwilligem politischen Engagement und unverblümter Propaganda eingespannt war – und dabei seinen eigenen Diskurs in neuer Form suchte und doch den Quellen seines alten, verlorenen Deutschtums nachhing. Am Ende war er Amerikaner nur noch als äußerliche Gestalt, innerlich ein überfälliger, zunehmend empfindlich reagierender, angehender Remigrant, der sich nach dem Tode Roosevelts 1945 nicht mehr innenpolitisch beschützt fühlte und den neuen scheußlichen Verhältnissen des Cold War, der paranoiden Kommunistenhatz und der rechtswidrigen Erniedrigung wie bei den unbeugsamen „Hollywood Ten“ entkommen wollte. In Deutschland wurde er als „undeutscher“ Amerikaner und „Ausländer“ zur Zielscheibe der Polemik einer laut werdenden „Inneren Emigration“, die nach dem Krieg sofort sich selbst als deutsche Tugend des Ausharrens der Gräueljahre im Höllenkessel der Tyrannei ausrief, als heroisches Ducken und Überwintern mitten im gewaltsamen Unrecht und die auf keinen von außen hören wollte. Der Exdeutsche und Amerikaner sei ja nur „Logenbezieher“ oder vielleicht gar doch „Verräter“ im Exil gewesen. Diese stumpfe Selbstzentrierung kam denn auch allzu bekannt vor. In diesen noch lange nicht trockengelegten Sumpf konnte und wollte der Weltbürger Thomas Mann nicht mit und nicht hin. Zürich wartete. Und insofern blieb Mann sein Leben lang nicht nur laut Pass ein unbequemer Amerikaner.

War er letztlich und vor allem in seinen späten Jahren zu einer utopischen Bodenlosigkeit verdammt? Ein Ozeanpianist zwischen den Nationen und Welten? Zu Recht erkennt Vaget in Thomas Manns unentwegtem Appell an Deutschland – weit über die westdeutschen Debatten bis in die 80er Jahre hinaus – gerade heute für die wiedervereinigte und saturierte Bundesrepublik im EU-dirigistischen Kerneuropa ein wegweisendes Vermächtnis: sich ihrer ambivalenten kulturellen Traditionen nach wie vor reflexiv zu versichern, um politische Entgleisungen, wie den Faschismus (nach innen wie außen) und das blinde ökonomische Konkurrenz- und Hegemonialstreben, selbstkritisch einzuschätzen und für die Zukunft entschiedener einzudämmen; zugunsten einer vernünftig hinhörenden Weltoffenheit wahrhaft konstruktiver Kooperation, sozialer Gerechtigkeit und breiter emanzipatorischer Bildung.

Thomas Mann - Deutsche Hörer 1 - November 1941

 


 









Artikel als PDF-Datei zum Download

Hans R. Vaget
Thomas Mann, der Amerikaner.
Leben und Werk im amerikanischen Exil 1938 –1952.
S. Fischer Verlag, Frankfurt/M 2011.
584 Seiten. Mit 34 Abb.
€ (D) 24,95, (A) 25,70.
ISBN: 978-3-10-087004-9.

Vgl. dazu:
Peter V. Brinkemper
Spiegel und Echo.
Intermedialität und Musikphilosophie im
»Doktor Faustus«.
Epistemata Literaturwissenschaft 227.
Königshausen & Neumann, Würzburg 1997. / 520 Seiten / € 51,00

 


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