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Glanz&Elend Literatur und Zeitkritik
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Glanz&Elend
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Seitwert


»Nach vorne stürzende Sorgensysteme«

Peter Sloterdijks Reflexionen zum zukünftigen Verhältnis von Freiheit & Gemeinwohl

Von
Lothar Struck

Peter Sloterdijks kleine Verwunderungsübung "Streß und Freiheit" beginnt mit dem Staunen über die von den Sozialwissenschaften selbstverständlich verwendeten Begriffe wie "Nation" oder "Gesellschaft". Diese naiv anmutende Fragestellung ist bei aller unterschwelligen Koketterie mehr als nur eine definitorische Petitesse. Und indem nun die riesenhaften politischen Großkörper dekonstruiert und ein Umdenken im Hinblick auf das reale Fabeltier "Gesellschaft" vorgenommen wird, stößt Sloterdijk das Tor zu einer neuen Sicht auf das freie Individuum auf. Hierfür definiert er die "sogenannten" Gesellschaften als Streßkommunen, oder, genauer: selbst-stressierende, permanent nach vorne stürzende Sorgen-Systeme. Eine Nation ist somit ein Kollektiv, dem es gelingt, gemeinsam Unruhe zu bewahren.

Zur Erzeugung und Pflege dieser Unruhe sind die Medien unerlässlich. Sie versorgen mit einem unaufhörlich strömenden Angebot an Irritationsthemen die auseinanderdriftenden Kollektive mit Gegenspannungen und verklammern diese damit. Man ahnt die vermutlich aus Zeit- und Platzgründen nicht ausführlicher thematisierten Interdependenzen zwischen den Medien und den diversen Funktionsgruppen, die dieses "Sorgen"-Kollektiv mit ihren künstlichen Erregungen kultivieren wie Laboranten ihre Salmonellen-Kulturen. Wobei, so Sloterdijk nebenbei, die Zusammensetzung des Erregungs-Kollektivs (mono- oder multikulturell) schon seit geraumer Weile keine nennenswerte Rolle mehr spiele. 

Aber wo ist jenseits des im Supermarkt zwischen einer Unmenge verschiedener Tomatensuppen "frei" auswählenden Homo oeconomicus in einer solchen Streßgesellschaft die Freiheit des Einzelnen zu finden? Ist sie mehr als nur gut gedachte Schimäre? Sloterdijk holt weit aus und bemüht die Geschichte. Zwei Ereignisse führt er als Urszenen europäischer Freiheitsgeschichte an. Zunächst die Revolte gegen den römischen Gewaltherrscher Tarquinius Superbus um 509 v. u. Z., dessen Sohn die Ehefrau eines Offiziers, die tugendhafte Lucretia, vergewaltigte. Bevor Lucretia sich mit ihrem Dolch selber tötete um ihre Schande auszulöschen, berichtet sie ihrer Familie von der Tat und nimmt ihnen einen Racheschwur ab. Die Nachricht von dem Vorfall verbreitete sich wie ein Lauffeuer und die sich ausbreitende Empörungswelle fegte die ohnehin als verkommen empfundene Herrscherfamilie hinweg; Tarquinius war der letzte römische König überhaupt. Aus der Streßgruppe wurde eine politische Kommune; eine erste Transformation. "Freiheit" ist hier allerdings noch nicht im modernen Sinn zu verstehen. Das Subjekt der antiken Freiheit ist das Volk, genauer gesagt, der Komplex aus 'demos' und 'ethos', der sich zu einer 'polis' zusammensetzt. Der missverständlich mit "Freiheit" übersetzte Begriff der eleuthería der Griechen bedeutet zunächst nichts anderes als das Verlangen, in autochtoner (selbstwüchsiger) Weise….inmitten des eigenen Volks zu leben und sich nicht des despotischen (hausherrlichen) Willkür eines zu groß gewordenen einzelnen unterordnen zu müssen.

Der Auftritt des reflektierenden Individuums erfolgt mehr als zweitausendzweihundert Jahre später. Den Zeitpunkt vermag Sloterdijk recht präzise zu benennen. Es ist der Herbst 1765. Jean-Jacques Rousseau, zu seiner Zeit ein "Medienstar", Verfasser des Contrat social, der wirkmächtigsten, politischen Schrift der letzten Jahrhunderte, ohne die es diese Französische Revolution nicht gegeben hätte und der konzeptionelle Vordenker der sozialistischen Faschismen des 20. Jahrhunderts, beschreibt in seinem Fünften Spaziergang ("Träumereien eines einsamen Spaziergängers", 1776/77 veröffentlicht) so etwas wie den Urknall der modernen Subjektivitätspoesie: Er legte sich rücklings auf den Boden [eines] Boots, um sich einem inneren Driften, der "rêverie", Träumerei, hinzugeben. Ein seelisches  Fließen, das an keinem Thema haftet. Ein mitunter stundenlanges Träumen ohne Gegenstand. Rousseau macht die Entdeckung, daß er der unnützeste Mensch der Welt ist – und er findet das vollkommen in Ordnung.  

Es ist das Gefühl der reinen Existenz, eine Ekstase des Bei-sich-Seins. Von nun an wird der Begriff der Freiheit neu definiert. Er bezeichnet einen Zustand erlesener Unbrauchbarkeit, in dem der einzelne ganz bei sich ist, und zugleich weitgehend losgelöst von seiner alltäglichen Identität und jeglichen Bezugs auf Leistungen. In einem Parforceritt sondergleichen durch die Philosophie- und Geistesgeschichte des 18. Jahrhunderts bis zur Gegenwart zeigt Sloterdijk nun, wie dieses sich in seiner "Nutzlosigkeit" hingebende Subjekt für den Staatsdienst und sei es als Arbeiter im Weinberg des Geistes angeworben und in die raue Wirklichkeit der "Realität" zurücküberwiesen werden soll. Dieser Resozialisierungsprozess in Form von Verleumdung…, Leugnung und Nichtigung des Subjekts erfährt aktuell ihren vorläufigen Höhepunkt in der Präsentation der farbigen Enzephalogramme der Neurowissenschaftler, die mit ihrer Konstrukt-Rhetorik die Evasion des Subjekts aus der gemeinsamen Streß-Wirklichkeit zuverlässig zu verhindern suchen und uns stattdessen aufzeigen möchten, dass wir nichts anderes sind als Epiphänomene von neuronalen Prozessen.

Zwar befinden wir uns nicht mehr in politischer Unterdrückung, aber unsere Freiheit ist durch die Bedrückung durch die Realität gefährdet: Die zeitgenössischen Streßgesellschaften mit ihren perfiden Methoden der Erregung sind diesbezügliche Ablenkungsorganisationen. Sie wollen den von der Freiheit Träumenden in die letztlich fade Wirklichkeit zurückführen. Um es salopp zu sagen: Sie halten den Menschen vom (freien) Leben ab und hindern ihn, sein Potential auszuschöpfen. Dahingehend knüpft Sloterdijk das Band zu seiner Lebensänderungs-Expedition Du mußt dein Leben ändern, in der der "Eremit der Moderne" dem Mittun, welches uns von uns selber ablenkt, entsagt und zum "Passionsspieler [des] In-der-Welt-Seins" wird. Folgerichtig heißt es in "Streß und Freiheit": Die Freiheit des Menschen liegt nicht darin, daß er tun kann, was er will, sondern darin, daß er nicht tun muß, was er nicht will. Die Unterscheidung "Freiheit von" und "Freiheit zu" wird großzügig Abituraufsätzen und Adventspredigten überlassen. Es geht um Wesentlicheres.

Nur der Bei-sich-Seiende ist der Mensch der Freiheit. Die Konsequenz der Freiheitserfahrung ist das Engagement des Einzelnen. Oder, um es genauer zu sagen: Das Engagement des Einzelnen ist nur aus dessen Freiheit heraus vollständig möglich. Sloterdijks Idealismus gilt dem "thymós", diese Erhebung über die Gewöhnlichkeit, die Menschen motiviert, sich ihrer Mitwelt als Inhaber gebender Tugenden zu offenbaren. Der thymós als liberale Gesinnung des gebenden Lebens, liefert die einzige Erklärung der Freiheit, die von seiten der naturalistischen Reduktion auf exogene Ursachen und neurologische Bedingungen nichts zu fürchten habe. Der Mensch in der Freiheit wird am Ende eben nicht dem Strudel einer Vergnügungskultur folgen und zum gierigen Wesen mutieren. Womit auch der Bogen zum generösen Geber geschlagen ist.

Zu Recht weist der Autor darauf hin, dass eine Mehrheit der Menschen auf der Erde die Auflehnung gegen die politische Tyrannei erst noch vor sich habe. (Für diese Mehrheit erscheint die äußerste Rechnung Besser tot als Sklave noch nicht zu gelten.) Und auch in unseren Sorgen-Kollektiven drohen die Freiheitserfahrungen hinter den schnöden Mauern der alltäglichen Streßbewältigung verunmöglicht zu werden. Aber die Sache der Liberalität, der Freiheit, sei zu wichtig als daß man sie den Liberalen überlassen dürfte sagt Sloterdijk am Ende des Buches, das eine Rede wiedergibt, die er am 6. April 2011 im Rahmen der "Berliner Reden zur Freiheit" auf Einladung der "Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit" gehalten hatte. Und weiter: Die Sache des Realen und seiner Reform ist zu wichtig, als daß man sie Parteien überlassen könnte. Die kulturelle Tradition sei nicht alleine eine Sache der Konservativen. Und die Frage nach der Bewahrung der Umwelt ist zu bedeutsam, als daß man sie nur ins Ressort der Grünen überweisen sollte.

"Streß und Freiheit" ist ein weiteres Steinchen in Sloterdijks Mosaik einer Idealismus-Philosophie, die mit großer Destruktionslust den drohenden Rückzug des Einzelnen in einen pragmatisch-konsumistischen Zynismus bannen möchte. Emphatisch wird daher für eine Synthese aus nüchternem Realitätsbezug und einem Möglichkeitssinn plädiert, der das Individuum bei der Loslösung aus kollektiv verfertigten Zwangskonstruktionen unterstützt. Die in diesem Zusammenhang häufig formulierten Einwände, der Philosoph orientiere sich zu wenig an der Realität, leugne Sachzwänge und/oder überfordere die Individuen kann man durchaus als unfreiwillige Bestätigung der Notwendigkeit von Sloterdijks Denkens deuten. Lothar Struck

Die kursiv gesetzten Passagen sind Zitate aus dem besprochenen Buch.
 

Peter Sloterdijk
Streß und Freiheit
edition suhrkamp sonderdruck
60 Seiten
8,00 €
ISBN: 978-3-518-06207-4

Leseprobe

 


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