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Leseprobe Wassili Grossman:
Leben
und Schicksal
(Seite 94 ff)
"Vitja, ich bin sicher, dass Dich mein Brief erreichen wird, obwohl ich mich
hinter der Frontlinie und hinter dem Stacheldraht des jüdischen Ghettos
befinde. Deine Antwort werde ich nie erhalten, ich werde nicht mehr leben.
Ich möchte, dass Du über meine letzten Tage Bescheid weißt; dieser Gedanke
macht es mir leichter, aus dem Leben zu scheiden.
Es ist schwer, Vitja, die Menschen wirklich zu begreifen … Am siebten Juli
sind die Deutschen in die Stadt eingedrungen. Im Stadtpark wurden über Funk
die letzten Nachrichten ausgegeben; ich kam gerade aus der Poliklinik, nach
der Sprechstunde, und blieb stehen, um zuzuhören; die Sprecherin verlas auf
Ukrainisch einen Bericht über die Kampfhandlungen. Ich hörte Schießereien in
der Ferne, dann kamen Leute durch den Park gerannt. Ich ging zu einem Haus
und wunderte mich sehr, wieso ich den Fliegeralarm nicht gehört hatte.
Plötzlich erblickte ich einen Panzer, und irgendwer schrie: 'Die Deutschen
sind durchgebrochen!'
Ich sagte: 'Verbreitet doch keine Panik!' Am Tag zuvor war ich beim Sekretär
des Stadtsowjets gewesen und hatte um die Ausreisebewilligung gebeten, da
hatte er sich geärgert: 'Darüber zu reden ist noch viel zu früh. Wir haben
noch nicht einmal die Listen zusammengestellt!' Kurzum, es waren die
Deutschen. Die ganze Nacht hindurch gab es ein Hin-und-her-Gerenne bei den
Nachbarn, am ruhigsten waren noch die kleinen Kinder und ich. Ich dachte
nur, was mit allen geschieht, das wird auch mit mir geschehen. Zuerst war
ich erschrocken, als ich begriff, dass ich Dich niemals wiedersehen würde;
ich hatte den leidenschaftlichen Wunsch, Dich noch einmal anzuschauen, Deine
Stirn und Deine Augen zu küssen, dann aber sagte ich mir: Was für ein Glück
ist es doch, dass Du in Sicherheit bist.
Gegen Morgen schlief ich ein, und als ich erwachte, empfand ich furchtbare
Traurigkeit. Ich war in meinem Zimmer, in meinem Bett, und doch fühlte ich
mich in der Fremde, verloren, allein.
An diesem Morgen erinnerte ich mich an das, was ich in den Jahren der
sowjetischen Herrschaft vergessen hatte - dass ich Jüdin bin. Die Deutschen
fuhren auf Lastwagen ein und schrien: 'Juden kaputt!'
Und da erinnerten mich auch einige meiner Nachbarn daran. Die
Hausmeisterfrau stand unter meinem Fenster und sagte zur Nachbarin: 'Gott
sei Dank, mit den Juden ist’s jetzt vorbei.' Woher dies auf einmal? Ihr Sohn
ist mit einer Jüdin verheiratet; die Alte hatte ihren Sohn besucht und mir
von den Enkelkindern erzählt.
Meine Nachbarin, Witwe - sie hat ein sechsjähriges kleines Mädchen,
Aljonuschka, mit wunderschönen blauen Augen, ich schrieb Dir einmal von ihr
-, sie kam zu mir und sagte: 'Ich bitte Sie, Anna Semjonowna, bis zum Abend
Ihre Sachen auszuräumen; ich werde in Ihr Zimmer umziehen.' - 'Gut, dann
ziehe ich in Ihres.' - 'Nein, Sie ziehen in das Kämmerchen hinter der
Küche.'
Ich lehnte ab; die Kammer hatte weder Fenster noch einen Ofen.
Ich ging in die Poliklinik, und als ich zurückkam, stellte ich fest: Die Tür
zu meinem Zimmer war aufgebrochen, und meine Sachen waren in die Kammer
geworfen worden. Die Nachbarin sagte zu mir: 'Ich habe das Sofa bei mir
stehenlassen, es passt sowieso nicht in Ihr neues Zimmerchen hinein.'
Es ist schon erstaunlich, sie hat das Technikum abgeschlossen, und ihr
verstorbener Mann, ein feiner und stiller Mensch, war Buchhalter. 'Sie
stehen außerhalb des Gesetzes', sagte sie in einem Ton, der darauf schließen
ließ, dass ihr das sehr gelegen kam. Ihre Aljonuschka aber saß den ganzen
Abend bei mir, und ich erzählte ihr Märchen. Das war meine Einzugsfeier. Sie
wollte nicht schlafen gehen; die Mutter musste sie auf den Armen forttragen.
Danach, Vitjenka, wurde unsere Poliklinik wieder geöffnet, und ich und noch
ein jüdischer Arzt wurden entlassen. Ich bat um das Geld für den letzten
Arbeitsmonat, doch der neue Klinikleiter sagte zu mir: 'Soll Sie doch Stalin
dafür bezahlen, was Sie unter sowjetischer Herrschaft gearbeitet haben;
schreiben Sie ihm nach Moskau.' Die Krankenpflegerin Marussja umarmte mich
und klagte leise: 'Herr, du mein Gott, was wird nur aus Ihnen, was wird nur
aus euch allen?' Und Doktor Tkatschew drückte mir die Hand. Ich weiß nicht,
was schlimmer ist: die Schadenfreude oder die mitleidigen Blicke, die man
einer krepierenden, räudigen Katze schenkt. Ich hatte nicht gedacht, dass
ich das alles einmal selbst erleben muss.
Viele Leute haben mir einen Schlag versetzt, und nicht nur ungebildete
Menschen mit schwarzer, verhärteter Seele. Da ist unser alter Lehrer,
Rentner, 75 Jahre alt, er hat sich immer nach Dir erkundigt, Grüße
ausrichten lassen und über Dich gesagt: 'Er ist unser ganzer Stolz.' Aber in
diesen verfluchten Tagen grüßte er mich nicht einmal, wenn er mir begegnete,
sondern wandte sich ab. Später hat man mir dann erzählt, dass er auf einer
Versammlung und in der Kommandantur gesagt habe: 'Die Luft ist rein, es
riecht nicht mehr nach Knoblauch.' Warum tut er das - mit diesen Worten
besudelt er sich doch nur selbst. Auf der gleichen Versammlung hat es
derartig viele Verleumdungen von Juden gegeben … Aber natürlich, Vitjenka,
sind nicht alle zu dieser Versammlung gegangen. Viele haben sich geweigert.
Weißt Du, in meinem Bewusstsein verbindet sich der Antisemitismus schon seit
der Zeit des Zarenreichs mit dem Hurrapatriotismus der Leute vom
Erzengel-Michael-Bund1. Und jetzt habe ich festgestellt, dass die Menschen,
die nach der Befreiung Russlands von den Juden schreien, auch diejenigen
sind, die sich auf lakaienhaft erbärmliche Weise vor den Deutschen
erniedrigen, bereit, Russland für dreißig deutsche Silberlinge zu verraten.
Und lichtscheues Gesindel aus der Vorstadt plündert, reißt Wohnungen,
Bettzeug und Kleider an sich: Solche Leute ermordeten wahrscheinlich zur
Zeit der Choleraaufstände die Ärzte. Es gibt seelisch labile Menschen, die
sich jedem Schwachsinn unterwerfen, nur um ja nicht in den Verdacht zu
geraten, gegen die Staatsmacht zu sein.
Pausenlos kommen Bekannte mit Neuigkeiten zu mir gelaufen, alle haben irre
Augen, die Menschen sind wie im Wahn. Ein merkwürdiger Ausdruck ist
aufgekommen: 'Sachen umverstecken'. Man glaubt wohl, sie seien beim Nachbarn
sicherer. Das Umverstecken der Sachen kommt mir wie ein Spiel vor.
Bald darauf wurde die Umsiedlung der Juden verkündet. Es wurde gestattet,
fünfzehn Kilo persönliche Habe mitzunehmen. An den Hauswänden hingen
gelbliche Anschläge: 'Alle Juden werden aufgefordert, bis spätestens 15.
Juli 1941, 18.00 Uhr, in den Altstadtbezirk umzuziehen.' Diejenigen, die
nicht umgezogen sind, werden erschossen.
So habe ich mich denn auch aufgemacht, Vitjenka. Ich nahm ein Kopfkissen,
etwas Wäsche, die kleine Tasse, die Du mir einmal geschenkt hast, einen
Löffel, ein Messer und zwei Teller mit. Braucht der Mensch denn viel? Ich
packte noch einige medizinische Instrumente ein, Deine Briefe, die
Fotografien von meiner verstorbenen Mutter und Onkel David und die, wo Du
mit Papa zusammen schläfst, ein Bändchen Puschkin, die 'Lettres de mon
moulin', ein Bändchen Maupassant, das die Erzählung 'Une vie' enthält, ein
kleines Wörterbuch und den Tschechow-Band, in dem 'Eine langweilige
Geschichte' und 'Der Bischof' stehen - und damit war mein Korb voll. Wie
viele Briefe habe ich Dir schon unter diesem Dach geschrieben, wie viele
Stunden nachts durchweint, jetzt will ich Dir noch von meiner Einsamkeit
berichten.
Ich nahm Abschied vom Haus, von dem Gärtchen, saß ein paar Minuten unter dem
Baum, nahm Abschied von den Nachbarn. Manche Menschen sind merkwürdig
beschaffen. Zwei Nachbarinnen fingen in meinem Beisein an, darüber zu
streiten, wer sich die Stühle und wer den kleinen Schreibtisch nehmen würde,
aber als ich mich von ihnen verabschiedete, weinten beide. Ich habe meine
Nachbarn, die Bassankos, gebeten, dass sie Dir, solltest Du nach dem Krieg
einmal herkommen und etwas über mich erfahren wollen, die Einzelheiten
meines Schicksals erzählen. Sie haben es mir versprochen. Das Hündchen, der
Straßenköter Tobik, rührte mich - am letzten Abend strich er irgendwie
besonders liebevoll um mich herum.
Wenn Du kommst, gib ihm zu fressen, weil er zu der alten Jüdin nett gewesen
ist.
Als ich mich auf den Weg machte und mich fragte, wie ich den Korb bis zur
Altstadt schleppen sollte, kam plötzlich mein Patient Schtschukin, ein
mürrischer und, wie mir schien, hartherziger Mann. Er erbot sich, mir meine
Sachen zu tragen, gab mir dreihundert Rubel und sagte, dass er mir einmal in
der Woche Brot an den Zaun bringen würde. Er arbeitet in einer Druckerei, an
die Front wurde er wegen seines Augenleidens nicht eingezogen. Vor dem Krieg
hatte er sich von mir behandeln lassen; wenn ich aufgefordert worden wäre,
Menschen mit teilnahmsvollem, reinem Herzen aufzuzählen - ich hätte Dutzende
von Namen genannt, nur nicht seinen. Weißt Du, Vitjenka, nachdem er gekommen
war, fühlte ich mich wieder als Mensch, denn das bedeutete, dass mich nicht
nur ein Straßenköter menschlich behandeln konnte.
Er erzählte mir, in der städtischen Druckerei werde der Befehl gedruckt,
dass es den Juden verboten sei, auf dem Gehsteig zu gehen, dass sie auf der
Brust einen gelben Flicken in Form eines sechszackigen Sterns tragen müssten,
dass sie nicht das Recht hätten, öffentliche Verkehrsmittel und Bäder zu
benutzen, Ambulatorien aufzusuchen, ins Kino zu gehen, dass es ihnen
verboten sei, Butter, Eier, Milch, Beerenobst, Weißbrot, Fleisch und alle
Gemüsearten, außer Kartoffeln, zu kaufen; Einkäufe auf dem Markt dürften
erst nach sechs Uhr abends gemacht werden (wenn die Bauern den Markt
verlassen). Die Altstadt werde mit Stacheldraht umzäunt, und das Verlassen
des umzäunten Gebiets sei verboten; es sei nur unter Bewachung für die
Zwangsarbeit möglich. Wenn ein Jude in einem russischen Haus entdeckt werde,
werde der Hauswirt erschossen, als hätte er einen Partisanen versteckt.
Der Schwiegervater von Schtschukin, ein alter Bauer, der aus dem
benachbarten Marktflecken Tschudnow gekommen war, hatte mit eigenen Augen
gesehen, dass alle Juden des Ortes mit Bündeln und Koffern in den Wald
getrieben wurden. Von dort hatte man den ganzen Tag das Knattern von
Schüssen und Schreie gehört, nicht ein Mensch war zurückgekehrt. Die
Deutschen aber, die beim Schwiegervater Quartier gemacht hatten, waren
spätabends heimgekommen - betrunken - und hatten bis zum Morgen gesoffen,
gesungen und im Beisein des Alten Broschen, Ringe und Armbänder unter sich
verteilt. Ich weiß nicht, ob dies ein zufälliger Akt der Willkür war oder
ein Vorzeichen des Schicksals, das auch uns erwartet.
Wie traurig, lieber Sohn, war mein Weg in dieses mittelalterliche Ghetto.
Ich ging durch die Stadt, in der ich zwanzig Jahre gearbeitet habe. Zuerst
gingen wir durch die menschenleere Swetschnajastraße. Doch als wir auf die
Nikolskajastraße gelangten, sah ich Hunderte von Menschen, die in dieses
verfluchte Ghetto gingen. Die Straße war weiß von Bündeln und Kopfkissen.
Die Kranken führte man am Arm. Den gelähmten Vater von Dr. Margulis trugen
sie auf einer Decke. Ein junger Mann trug in seinen Armen eine Greisin,
hinter ihm gingen Frau und Kinder, mit Bündeln beladen. Der Leiter des
Kolonialwarengeschäfts, Gordon, ein Dicker, der an Atemnot leidet, hatte
einen Mantel mit Pelzkragen übergezogen, und sein Gesicht triefte von
Schweiß. Ein junger Mann verblüffte mich: Er ging ohne Gepäck mit
hocherhobenem Kopf und hielt ein aufgeschlagenes Buch vor sein hochmütiges,
ruhiges Gesicht. Doch wie viele um mich herum waren wie von Sinnen, voll des
Entsetzens!
Wir gingen auf der gepflasterten Straße, auf dem Gehsteig aber standen die
Leute und schauten uns zu.
Eine Weile ging ich mit den Margulis zusammen und hörte die mitleidigen
Seufzer der Frauen. Über Gordon aber in seinem Wintermantel machten sie sich
lustig, obwohl er, glaub mir, schrecklich aussah, nicht komisch. Ich sah
viele bekannte Gesichter. Manche nickten mir zum Abschied zu, andere wandten
sich ab. Ich glaube, dass es in dieser Menge keine gleichgültigen Augen
gegeben hat; da waren neugierige und da waren mitleidslose, und ein paarmal
sah ich auch verweinte Augen.
Ich sah zweierlei Menschenmassen - auf der Straße die Juden in Mantel und
Mütze, die Frauen in Winterkleidern, und auf dem Gehsteig die sommerlich
gekleidete Menge, helle Blusen, die Männer ohne Jackett, einige in
bestickten ukrainischen Hemden. Ich hatte das Gefühl, dass für die die
Straße entlanggehenden Juden die Sonne bereits aufgehört hatte zu scheinen,
dass sie durch nächtlichen Dezemberfrost schritten.
Am Eingang des Ghettos verabschiedete ich mich von meinem Begleiter; er
zeigte mir die Stelle an der Drahtsperre, wo wir uns treffen würden.
Weißt Du, Vitjenka, was für eine Erfahrung ich machte, als ich hinter dem
Stacheldraht war? Ich hatte gedacht, dass ich Grauen empfinden würde. Doch
stell Dir vor, in diesem Pferch wurde mir leichter ums Herz. Denk nicht
etwa, ich hätte eine Sklavenseele! Nein. Nein. Um mich herum waren Menschen
mit dem gleichen Schicksal, im Ghetto musste ich nicht wie ein Pferd auf der
Straße gehen, da gab es keine gehässigen Blicke, und meine Bekannten
schauten mir in die Augen und wichen einer Begegnung mit mir nicht aus. In
diesem Pferch tragen alle das Mal, das uns von den Faschisten aufgebrannt
worden ist, und deshalb brennt dieses Mal nicht so stark in meiner Seele.
Hier fühlte ich mich nicht wie ein rechtloses Vieh, sondern wie ein
unglücklicher Mensch. Davon wurde mir leichter.
Ich zog zusammen mit meinem Kollegen, Doktor Sperling, in ein Lehmhäuschen,
das aus zwei kleinen Zimmerchen besteht. Sperlings haben zwei erwachsene
Töchter und einen Sohn von ungefähr zwölf Jahren. Ich betrachte immer lange
sein mageres Gesichtchen und seine großen, traurigen Augen; er heißt Jura.
Zweimal nannte ich ihn Vitja, da hat er mich verbessert: 'Ich bin Jura,
nicht Vitja.'
Wie verschieden sind doch die Menschen! Sperling ist mit seinen
achtundfünfzig Jahren noch voller Energie. Er hat Matratzen, Petroleum und
eine Fuhre Brennholz aufgetrieben. In der Nacht brachten sie einen Sack Mehl
und einen halben Sack Bohnen ins Häuschen. Er freut sich wie ein Junge über
jeden Erfolg. Gestern hat er Wandteppiche aufgehängt. 'Macht nichts, macht
nichts, wir überstehen alles', pflegt er zu sagen, 'Hauptsache, wir decken
uns mit Lebensmitteln und Brennholz ein.'
Er sagte mir, dass im Ghetto eine Schule eingerichtet werden müsste. Er hat
mir sogar vorgeschlagen, dass ich Jura Französischunterricht geben solle und
er mir die Stunden mit einem Teller Suppe bezahle. Ich habe eingewilligt.
Sperlings Frau, die dicke Fanni Borissowna, seufzt: 'Alles ist hin, und wir
sind auch hin', doch dabei passt sie auf, dass ihre ältere Tochter Ljuba,
ein gutherziges, liebes Geschöpf, nur ja niemandem eine Handvoll Bohnen oder
einen Kanten Brot gibt. Die jüngere aber, Mutters Liebling Alja, ist eine
wahre Teufelsbrut: herrisch, misstrauisch und geizig; mit Vater und
Schwester schreit sie ununterbrochen herum. Vor dem Krieg war sie aus Moskau
zu Besuch gekommen und ist dann hier hängengeblieben.
Mein Gott, was für ein Elend ringsum! Wenn die, die immer vom Reichtum der
Juden reden, die behaupten, dass sie immer etwas für den Notfall aufgespart
haben, nur einen Blick auf unsere Altstadt werfen würden! Jetzt ist er da,
der Notfall, schlimmer kann er nicht sein. In der Altstadt wohnen ja nicht
nur die Umsiedler mit ihren 15 Kilogramm Gepäck pro Kopf, hier haben schon
immer Handwerker, alte Leute, Arbeiter und Krankenschwestern gelebt. In was
für einer fürchterlichen Enge lebten und leben sie. Und wie sie sich
ernähren! Könntest Du nur einmal diese halb verfallenen, in die Erde
eingesunkenen Elendshütten sehen!
Vitjenka, ich sehe hier auch viele schlechte Menschen - gierige,
verschlagene, sogar welche, die bereit sind zum Verrat. Es gibt hier einen
furchtbaren Menschen, Epstein, den es aus irgendeinem polnischen Städtchen
zu uns verschlagen hat. Er trägt eine Armbinde, filzt mit den Deutschen
zusammen die Häuser, nimmt an Verhören teil, besäuft sich mit den
ukrainischen Polizisten, und die schicken ihn in die Häuser, um Wodka, Geld
und Lebensmittel zu erpressen. Ich habe ihn wohl zweimal gesehen - er ist
ein schöner, hochgewachsener Mann, trägt einen stutzerhaften, cremefarbenen
Anzug, und selbst der gelbe Stern, der auf seinen Rock aufgenäht ist, sieht
wie eine gelbe Chrysantheme aus.
Doch ich möchte Dir noch etwas anderes sagen. Ich habe mich nie als Jüdin
gefühlt; von Kindheit an bin ich im Kreise russischer Freundinnen
aufgewachsen. Von den Dichtern liebte ich Puschkin und Nekrassow am meisten,
und das Stück, bei dem ich gemeinsam mit dem ganzen Publikum, dem Kongress
russischer Landärzte, geweint habe, war 'Onkel Wanja' mit Stanislawski.
Früher einmal, Vitjenka, als ich ein Mädchen von vierzehn Jahren war, wollte
meine Familie nach Südamerika emigrieren. Damals sagte ich zu Papa: 'Aus
Russland gehe ich nirgendwohin fort, dann schon lieber ins Wasser.' Und bin
nicht fortgegangen.
Und jetzt, in diesen schrecklichen Tagen, hat sich mein Herz mit
mütterlicher Zärtlichkeit für das jüdische Volk gefüllt. Früher wusste ich
nichts von dieser Liebe. Sie erinnert mich an meine Liebe zu Dir, mein
teurer Sohn.
Ich mache Hausbesuche bei den Kranken. In winzigen Zimmerchen leben die
Menschen zu Dutzenden zusammengepfercht: halb erblindete Greise, Säuglinge,
Schwangere. Ich war gewohnt, in Menschenaugen Krankheitssymptome - eines
Glaukoms oder Katarakts - zu suchen. Jetzt kann ich den Menschen nicht mehr
in dieser Weise in die Augen sehen - in ihren Augen sehe ich nur noch das
Spiegelbild der Seele. Einer guten Seele, Vitjenka! Einer todtraurigen und
gütigen, spöttischen und verlorenen Seele, die von der Gewalt besiegt wurde
und zugleich über die Gewalt triumphiert. Ich sehe das Spiegelbild einer
starken Seele, Vitja!
Wenn Du sehen könntest, mit welchem Interesse mich die alten Männer und
Frauen über Dich ausfragen. Wie herzlich mich Menschen trösten, obwohl ich
über nichts klage, Menschen, deren Lage schlimmer ist als meine.
Mir kommt es manchmal so vor, als besuche nicht ich die Kranken, sondern im
Gegenteil, als heile der gütige Arzt Volk meine Seele. Und wie rührend sie
mir für die Behandlung ein Stück Brot überreichen, ein Zwiebelchen, eine
Handvoll Bohnen!
Glaub mir, Vitjenka, das ist nicht die Bezahlung für den Arztbesuch. Wenn
mir ein alter Arbeiter die Hand drückt, zwei, drei Kartöffelchen in die
Handtasche steckt und sagt: 'Schon gut, Frau Doktor, ich bitte Sie', dann
kommen mir die Tränen. Es liegt darin etwas so Reines, Väterliches und
Gütiges, dass ich es Dir mit Worten gar nicht wiedergeben kann.
Ich möchte Dich nicht damit trösten, dass ich diese Zeit leicht überstanden
habe. Du solltest Dich darüber wundern, dass mein Herz nicht vor Schmerz
zersprungen ist. Doch quäl Dich nicht mit dem Gedanken, dass ich gehungert
haben könnte, ich war diese ganze Zeit über nicht einmal hungrig. Und
außerdem - ich habe mich nicht einsam gefühlt.
Was soll ich Dir über die Menschen hier erzählen, Vitja? Die Menschen
verblüffen mich im positiven und im negativen Sinn. Sie sind unglaublich
verschieden, obwohl sie das gleiche Schicksal erfahren. Du kannst Dir
vorstellen, wenn sich bei einem Gewitter die meisten Leute vor dem Regenguss
in Sicherheit bringen wollen, dann heißt das ja auch noch lange nicht, dass
diese Leute alle gleich sind. Und außerdem schützt sich jeder auf seine
Weise vor dem Regen …
Doktor Sperling ist überzeugt, dass die Judenverfolgungen eine
vorübergehende Erscheinung sind und nach dem Krieg aufhören werden. Leute
wie ihn gibt es eine ganze Menge, und mir ist aufgefallen, dass die Menschen
umso kleinlicher und egoistischer sind, je mehr Optimismus sie noch haben.
Wenn irgendjemand während des Mittagessens kommt, verstecken Alja und Fanni
Borissowna gleich das Essen.
Sperlings sind gut zu mir, vor allem deshalb, weil ich wenig esse und mehr
Lebensmittel heimbringe, als ich verbrauche. Doch ich habe beschlossen, von
ihnen wegzuziehen, sie sind mir unangenehm. Ich werde mir einen Winkel
suchen. Je größer der Kummer im Menschen ist, desto weniger Hoffnung setzt
er auf das Überleben, desto großherziger, gütiger und besser wird er.
Die Armen - Klempner, Schneider, Näherinnen -, die zum Untergang verdammt
sind, sind bei weitem dankbarer, großzügiger und verständnisvoller als die,
die sich listenreich mit Lebensmitteln eingedeckt haben. Die jungen
Lehrerinnen, der verschrobene alte Lehrer und Schachspieler Spielberg, die
stillen Bibliothekarinnen, der Ingenieur Reiwitsch, der hilfloser als ein
Kind ist und davon träumt, das Ghetto mit selbstgebastelten Granaten
auszurüsten - was sind das alles für wunderbare, unpraktische, liebe,
traurige, gütige Menschen.
Hier erkenne ich, dass die Hoffnung fast nie etwas mit Vernunft zu tun hat,
sie wird wohl aus dem Instinkt geboren.
Die Menschen, Vitja, leben so, als hätten sie noch lange Jahre vor sich. Man
darf das weder als Dummheit noch als Klugheit auffassen, es ist einfach so.
Und auch ich unterwerfe mich diesem Gesetz. Zwei Frauen aus dem Marktflecken
sind hierhergekommen und erzählen das Gleiche, was mir mein Freund erzählt
hat. Die Deutschen vernichten im Umkreis alle Juden, ohne Kinder und Greise
zu schonen. Die Deutschen und die Polizei kommen in Autos angefahren und
holen ein paar Dutzend Männer zur Feldarbeit; die graben tiefe Gräben, und
zwei bis drei Tage danach treiben die Deutschen die jüdische Bevölkerung zu
diesen Gräben und erschießen alle ohne Ausnahme. Überall in den Marktflecken
um unsere Stadt herum wachsen diese jüdischen Hügelgräber aus dem Boden.
Im Nachbarhaus wohnt ein Mädchen aus Polen. Sie erzählt, dass Massaker dort
an der Tagesordnung seien; die Juden würden alle bis zum letzten Mann
abgeschlachtet, nur in ein paar Ghettos - in Warschau, Łodz und Radom -
hätten sich noch Juden erhalten. Als ich das alles überdachte, wurde mir
sonnenklar, dass man uns hier nicht versammelt hat, um uns zu erhalten, wie
die Wisente im Bjelowescher Naturschutzgebiet, sondern um uns zu schlachten.
Planmäßig werden wir in ein, zwei Wochen an die Reihe kommen. Doch stell Dir
vor, obwohl ich das begriffen habe, behandle ich die Kranken weiter und
sage: 'Wenn Sie die Augen regelmäßig mit der Medizin baden, werden Sie in
zwei bis drei Wochen gesund sein.' Ich beobachte einen alten Mann, dem man
in einem halben bis einem Jahr vielleicht den Star operativ entfernen muss.
Ich gebe Jura Französischunterricht und ärgere mich über seine falsche
Aussprache.
Und gleichzeitig brechen die Deutschen ins Ghetto ein und plündern, die
Wachposten schießen zum Vergnügen durch den Drahtverhau auf Kinder, und
immer neue Leute bestätigen, dass sich unser Schicksal jeden Tag entscheiden
kann.
So geht es eben - die Menschen leben weiter. Neulich hatten wir sogar eine
Hochzeit. Gerüchte kommen haufenweise auf. Einmal teilt der Nachbar, vor
Freude keuchend, mit, dass unsere Truppen zum Angriff übergegangen seien und
die Deutschen in die Flucht gejagt hätten. Dann entsteht plötzlich das
Gerücht, die sowjetische Regierung und Churchill hätten den Deutschen ein
Ultimatum gestellt und Hitler hätte befohlen, die Juden nicht umzubringen.
Dann wieder heißt es, die Juden würden gegen deutsche Kriegsgefangene
ausgetauscht.
Es zeigt sich, dass es nirgendwo so viel Hoffnung gibt wie im Ghetto. Die
Welt ist voller Ereignisse, und alle Ereignisse, ihr Sinn und ihre Ursache,
laufen immer auf ein und dasselbe hinaus - auf die Rettung der Juden. Was
für ein Reichtum an Hoffnungen!
Die Quelle dieser Hoffnungen ist allein der Selbsterhaltungstrieb, der sich,
bar jeder Logik, gegen die grauenhafte Unbedingtheit unseres spurlosen
Untergangs auflehnt. Ich sehe mich um und kann es nicht glauben - sind wir
wirklich alle zum Tode Verurteilte, die auf ihre Hinrichtung warten? Die
Friseure, Schuster, Schneider, Ärzte und Ofensetzer, alle arbeiten sie. Es
ist sogar ein kleines Entbindungsheim aufgemacht worden, vielmehr der
schwache Abklatsch eines Entbindungsheims. Wäsche trocknet, Wäsche wird
gewaschen, das Mittagessen wird gekocht, die Kinder gehen seit dem ersten
September in die Schule, und die Mütter erkundigen sich bei den Lehrern nach
den Noten ihrer Kinder.
Der alte Spielberg hat ein paar Bücher neu binden lassen. Alja Sperling
macht morgens Gymnastik und dreht sich vor dem Schlafengehen die Haare auf
Lockenwickler auf, streitet sich mit dem Vater herum, weil sie irgendwelche
Stoffe für zwei Sommerfähnchen haben will.
Auch ich bin von morgens bis abends beschäftigt, mache Krankenbesuche, gebe
Stunden, stopfe, wasche, bereite mich auf den Winter vor und unterlege
meinen Herbstmantel mit Watte. Ich höre mir Berichte an über Strafmaßnahmen,
die gegen Juden verhängt wurden: Eine Bekannte, die Frau eines
Rechtsberaters, wurde bis zur Bewusstlosigkeit verprügelt, weil sie ein
Entenei für ihr Kind gekauft hatte; einem Buben, dem Sohn des Provisors
Sirota, haben sie die Schulter durchschossen, weil er versucht hatte, unter
dem Stacheldraht durchzukriechen, um seinen weggerollten Ball zu holen. Und
immer wieder Gerüchte, Gerüchte, Gerüchte.
Was jetzt kommt, ist kein Gerücht. Heute haben die Deutschen achtzig junge
Männer zur Arbeit getrieben, angeblich zum Kartoffelgraben; einige haben
sich gefreut, sie könnten vielleicht ein paar Kartoffeln für die Angehörigen
mit heimbringen. Doch ich habe begriffen, von welchen Kartoffeln die Rede
ist.
Die Nacht im Ghetto ist eine besondere Zeit, Vitja. Weißt Du, mein Freund,
ich habe Dich immer dazu angehalten, mir die Wahrheit zu sagen; der Sohn
muss seiner Mutter immer die Wahrheit sagen. Doch auch die Mutter muss ihrem
Sohn die Wahrheit sagen. Denk nicht, Vitjenka, dass Deine Mama ein starker
Mensch sei. Ich bin schwach. Ich habe Angst vor Schmerzen und bin feige,
wenn ich im Zahnarztstuhl sitze. Als Kind hatte ich Angst vor dem Donner und
fürchtete mich vor der Dunkelheit. Als alte Frau fürchtete ich Krankheit und
Einsamkeit, hatte Angst davor, krank zu werden, weil ich dann nicht mehr
arbeiten könnte und Dir zur Last fallen würde und Du mich das vielleicht
spüren ließest. Ich hatte Angst vor dem Krieg. In den Nächten jetzt, Vitja,
packt mich solches Grauen, dass mir das Herz zu Eis erstarrt. Auf mich
wartet der Tod. Ich möchte Dich zu Hilfe rufen.
Als Kind bist Du einmal Schutz suchend zu mir gerannt. Und nun möchte ich in
schwachen Minuten meinen Kopf in Deinem Schoß verbergen, damit Du, der Kluge
und Starke, mich verteidigst, mich schützt. Meine Seele ist nicht immer
stark, Vitja, sie ist auch schwach. Oft denke ich an Selbstmord, ich weiß
nicht, was mich davon abhält - Schwäche, Stärke oder einfach sinnlose
Hoffnung.
Genug davon. Ich schlafe ein und sehe Traumbilder. Oft sehe ich meine
verstorbene Mutter und spreche mit ihr. Heute Nacht sah ich im Traum
Alexandra Schaposchnikowa, als wir zusammen in Paris lebten. Doch Dich habe
ich noch kein einziges Mal im Traum gesehen, obwohl ich ständig an Dich
denke, sogar in den schlimmsten Augenblicken der Angst. Ich wache auf und
sehe plötzlich diese Zimmerdecke, dann fällt mir ein, dass auf unserem Boden
die Deutschen sind, dass ich eine Aussätzige bin, und mir scheint, dass ich
nicht aufgewacht, sondern im Gegenteil eingeschlafen bin und träume.
Doch nach ein paar Minuten höre ich, wie sich Alja und Ljuba darüber
streiten, wer an der Reihe sei, zum Brunnen zu gehen, höre die Leute darüber
sprechen, dass die Deutschen nachts in der Nachbarstraße einem alten Mann
den Schädel eingeschlagen haben.
Eine Bekannte, Studentin an der Lehrerbildungsanstalt, kam zu mir und holte
mich zu einem Kranken. Es stellte sich heraus, dass sie einen Leutnant
versteckt hält, der an der Schulter verwundet ist und dessen Auge verbrannt
ist. Ein sympathischer und abgequälter junger Mann mit dem Akzent eines
Wolgarussen. Er hatte sich in der Nacht durch den Drahtverhau gearbeitet und
im Ghetto Zuflucht gefunden. Sein Auge war nicht allzu stark beschädigt; es
gelang mir, den Eiterungsprozess zu stoppen. Er erzählte viel über die
Kämpfe, über die Flucht unserer Truppen und hat mich damit traurig gemacht.
Er will sich erholen und dann durch die Frontlinie gehen. Es werden noch ein
paar junge Burschen mit ihm ziehen, einer davon war mein Schüler. Ach,
Vitjenka, wenn ich nur mit ihnen gehen könnte! Ich habe mich so gefreut, als
ich diesem jungen Mann helfen konnte; ich hatte dabei das Gefühl, dass auch
ich am Krieg gegen den Faschismus teilnehme.
Sie brachten ihm Kartoffeln, Brot und Bohnen, und ein altes Mütterchen hat
ihm Wollsocken gestrickt.
Heute geht es den ganzen Tag dramatisch zu. Am Tag zuvor hat Alja durch eine
russische Bekannte den Pass eines im Krankenhaus gestorbenen russischen
jungen Mädchens erhalten. In der Nacht wird Alja fortgehen. Und heute haben
wir von einem uns bekannten Bauern, der am Ghettozaun vorbeifuhr, erfahren,
dass die Juden, die zum Kartoffelgraben getrieben worden waren, vier Werst
außerhalb der Stadt, neben dem Flugplatz an der Straße nach Romanowka, tiefe
Gräben ausheben. Präg Dir diesen Namen gut ein, Vitja, dort wirst Du das
Massengrab finden, in dem Deine Mutter liegen wird.
Sogar Sperling hat alles begriffen; den ganzen Tag über ist er bleich, seine
Lippen zittern, und er fragt mich verstört: 'Gibt es eine Hoffnung, dass sie
Spezialisten am Leben lassen?' Man erzählt sich, dass tatsächlich in einigen
Flecken die besten Schneider, Schuster und Ärzte nicht hingerichtet wurden.
Und dennoch hat Sperling abends den alten Ofensetzer kommen lassen, und der
hat in die Wand ein Versteck für Mehl und Salz gemacht. Und ich habe abends
mit Jura die 'Lettres de mon moulin' gelesen. Erinnerst Du Dich, als wir
beide laut meine Lieblingserzählung 'Les vieux' lasen, einander ansahen,
lachten und uns beiden die Tränen in den Augen standen? Darauf habe ich Jura
Hausaufgaben für übermorgen aufgegeben. Es muss so sein. Doch wie war mir
zumute, als ich das traurige Gesicht meines Schülers betrachtete, seine
Finger, die in das Heftchen die Nummern der ihm aufgegebenen
Grammatikparagrafen eintrugen.
Wie viele dieser Kinder gibt es: wunderschöne Augen, dunkle Locken; es sind
wahrscheinlich künftige Gelehrte, Physiker, Medizinprofessoren, Musiker,
vielleicht auch Dichter unter ihnen.
Ich sehe zu, wie sie morgens in die Schule rennen, unkindlich ernsthaft und
mit weit aufgerissenen, tragischen Augen. Manchmal fangen sie an, zu toben
und zu raufen und lauthals zu lachen, doch das macht einen nicht froher, man
wird nur von Grauen gepackt.
Es heißt, Kinder seien unsere Zukunft. Doch was sagst Du zu diesen Kindern?
Es wird ihnen nicht vergönnt sein, Musiker, Schuster oder Zuschneider zu
werden. Heute Nacht habe ich mir ganz deutlich vorgestellt, wie diese ganze
lärmende Welt voller bärtiger, sorgenvoller Familienväter und griesgrämiger
alter Mütterchen, die Honigkuchen und weiches Konfekt zaubern, diese Welt
der Hochzeitsbräuche, Sprichwörter und Sabbatfeiertage für immer unter der
Erde verschwinden wird. Nach dem Krieg wird das Leben neu erstehen, doch uns
wird es nicht mehr geben, wir sterben aus wie die Azteken.
Der Bauer, der uns die Nachricht vom Ausheben der Gräber gebracht hat,
berichtet, dass seine Frau nachts geweint und laut gejammert habe: 'Sie
nähen und sind Schuster und verarbeiten Leder und reparieren Uhren und
verkaufen in der Apotheke Arznei … was wird nur sein, wenn man sie alle
umgebracht hat?'
Und ebenso deutlich sehe ich, wie jemand, an den Trümmern vorübergehend,
einmal sagen wird: 'Erinnerst du dich, hier wohnten mal Juden, der
Ofensetzer Boruch. Am Samstagabend saß seine Alte auf der Bank, und neben
ihr spielten Kinder.' Und der Zweite wird sagen: 'Und dort, unter dem alten
Birnbaum, saß immer die Ärztin, ich habe ihren Namen vergessen, ich hab mir
mal von ihr die Augen behandeln lassen, nach der Arbeit trug sie immer einen
Korbstuhl hinaus und saß mit einem Buch im Freien.' So wird es sein, Vitja.
Als habe ein Pesthauch die Gesichter gestreift, so spüren es jetzt alle,
dass es zu Ende geht.
Vitjenka, ich möchte Dir sagen … nein, das nicht, das nicht.
Vitjenka, ich beschließe diesen Brief, bringe ihn an den Ghettozaun und
übergebe ihn meinem Freund. Es fällt mir nicht leicht, diesen Brief
abzubrechen, er ist mein letztes Gespräch mit Dir. Wenn ich den Brief
übergebe, gehe ich endgültig von Dir, Du wirst niemals mehr etwas über meine
letzten Stunden erfahren. Dies ist unser allerletzter Abschied. Was soll ich
Dir zum Abschied vor der ewigen Trennung sagen? In diesen Tagen, wie auch in
meinem ganzen Leben, warst Du meine Freude. In den Nächten rief ich mir Dich
in Erinnerung, Deine Kinderkleider, Deine ersten Bücher, erinnerte mich an
Deinen ersten Brief, Deinen ersten Schultag; an alles, alles erinnerte ich
mich, von Deinen ersten Lebenstagen an bis zu dem letzten Lebenszeichen von
Dir, dem Telegramm, das ich am 30. Juni bekommen habe. Ich schloss die
Augen, und mir war, als nähmst Du mich vor dem heranrückenden Grauen in
Schutz, mein Freund. Und wenn ich mich wieder auf das besann, was um mich
herum geschah, dann freute ich mich, dass Du nicht an meiner Seite bist -
möge das furchtbare Schicksal an Dir vorübergehen!
Vitja, ich war immer einsam. In schlaflosen Nächten weinte ich vor Kummer.
Das hat wohl niemand gewusst. Ich fand Trost in dem Gedanken, dass ich Dir
einmal von meinem Leben erzählen würde. Ich wollte Dir erzählen, warum ich
mich von Deinem Vater scheiden ließ, warum ich lange Jahre allein gelebt
habe. Oft dachte ich: Wie wird sich Vitja wundern, wenn er erfährt, dass
seine Mutter Fehler gemacht, sich dumm angestellt hat und eifersüchtig war,
dass man auf sie eifersüchtig war, dass sie so war, wie alle jungen Frauen
sind. Doch es ist mein Schicksal, mein Leben einsam zu beschließen, ohne
mich Dir anvertraut zu haben. Manchmal glaubte ich, dass ich nicht so fern
von Dir leben dürfe. Allzu sehr liebte ich Dich und dachte, dass mir die
Liebe das Recht gäbe, im Alter bei Dir zu sein. Manchmal glaubte ich wieder,
dass ich nicht mit Dir zusammenleben dürfe, allzu sehr liebte ich Dich.
Na, enfin … Sei immer glücklich mit denen, die Du liebst, die um Dich sind,
die Dir näher als die Mutter geworden sind. Vergib mir!
Von der Straße ist das Weinen einer Frau und das Fluchen von Polizisten zu
hören; ich betrachte diese Seiten und habe das Gefühl, dass ich vor der
grauenvollen, leiderfüllten Welt geschützt bin.
Wie soll ich diesen Brief beenden? Woher soll ich die Kraft nehmen, mein
lieber Sohn? Hat der Mensch denn Worte, die meine Liebe zu Dir ausdrücken
könnten? Ich küsse Dich, Deine Augen, Deine Stirn, Dein Haar.
Denk daran, dass immer, in Tagen des Glücks und in Tagen des Kummers, die
Liebe Deiner Mutter bei Dir ist; diese Liebe vermag niemand zu ermorden.
Vitjenka … dies ist die letzte Zeile des letzten Briefes Deiner Mutter an
Dich. Lebe, lebe, lebe ewig … Mama."
Mit freundlicher Genehmigung des
Claassen Verlages
(Copyright Claassen Verlag)
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Wassili Grossman
Leben und Schicksal
Übersetzt aus dem Russischen von Madeleine von Ballestrem, Arkadi Dorfmann,
Elisabeth Markstein und Annelore Nitschke.
Mit je einem Nachwort versehen
von Jochen Hellbeck und Wladimir Woinowitsch
Claassen-Verlag, Berlin 2007
1088
Seiten
24,90 €
ISBN 3546004159
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