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 Glanz&Elend Literatur und Zeitkritik



Petits riens (50)
Von Wolfram Schütte

    


© R. Reifenrath

Verlagsverlegenheiten -„>Rohstoff< ist ein Verlag für neue deutschsprachige Texte: Prosa, Essay und Poesie zwischen Wagnis und Beharrung, moralisch experimentell, ästhetisch gewagt, unbeugsam, unangepasst. Diese Ressourcen fördert >Rohstoff< und bietet auch Raum für das Experimentieren mit Gattungen, Stilen und Wahrnehmungsweisen – mit all ihren Eigenheiten und Ausschweifungen, Brüchen und Möglichkeiten. Frei von Trends und den Ansprüchen der Gegenwart ist >Rohstoff< ein Ort, an dem neue literarische Horizonte und die Klassiker von morgen entstehen. >Rohstoff< ist ein gemeinnütziges Verlagsprojekt von Matthes & Seitz Berlin“.
Mit diesem Programm stellt sich „Rohstoff“, ein neuer Verlag, als „Imprint“ unterm Dach von „Matthes &Seitz“ vor.

Verwunderlich.

Zum einen, weil alle diese Charakteristika von „Rohstoff“ ja „das Alleinstellungsmerkmal“ von „Matthes & Seitz“ waren; zum anderen, weil der rhetorische Gestus (z.B. „gewagt, unbeugsam, unangepasst“) mittlerweile durch inflationären Gebrauch verbraucht ist. Dabei gehörte es ja zum Selbstverständnis eines Verlegers – in welchem Bereich, auf welchem geistigen Niveau oder mit welchem öffentlichen Renommee auch immer -, unbekannte Autoren zu „entdecken“- in der Hoffnung, dabei „den Klassiker von morgen“ als erster erkannt zu haben.
Was hier „Rohstoff“ genannt wird, dürften eigenwillige Texte von bislang Unbekannten sein, denen im „Rohstoff“-Verlag kollektiv zu einem Buchdebüt verholfen wird. Und zwar finanziell risikoloser als im (Haupt-) Programm des „Matthes & Seitz“-Verlages. Deshalb dürfte das Originellste an der Verlautbarung deren letzter Satz sein: “Rohstoff ist ein gemeinnütziges Verlagsprojekt“.

Als allgemein nützlich versteht auch Meike Rötzer ihren „Erzählbuchverlag“, derdie Tradition des mündlichen Erzählens aufgreift und Roman- und Theaterstoffe der Weltliteratur in lebendige Geschichten für heute verdichtet. Klassische Romane und Dramen werden in einer gegenwärtigen Sprache erzählt, ohne dabei ihren Entstehungskontext außer Acht zu lassen“. Als „gegenwärtige Sprache“ ist wohl ein Deutsch gemeint, wie es derzeit gesprochen wird &, in dem alle „altertümlichen“, „zeitbedingten“ Formulierungen des Originals getilgt sind, mit „Entstehungskontext“ ist wohl so etwas wie elaborierte Informationen eines Waschzettels gemeint & „verdichtet“ bedeutet entdichten, d.h. das Werk auf das Erzählenswerte eindampfen,

Was Meike Rötzer als Erzählerin zusammen mit zwei Kollegen aus der Hörbuchproduktion vorhat, betrifft Theaterstücke (!) wie „Dantons Tod“, „Die Räuber“, „Iphigenie“ oder „Penthesilea“ & Romane wie „Der Zauberberg“, „Das Paradies der Damen“, „Weiße Nächte“ oder „Die Fahrt zum Leuchtturm“.

Thomas Manns monumentaler Roman soll in nur 1:30 erzählt werden, wohingegen die Verlegerin & Vorleserin für den weitaus kürzeren Zola die doppelte Erzählzeit (2;58) ansetzt, wenn die beiden im März nächsten Jahres erscheinen sollen.

Ob für diese Eindampfungen nicht doch der Titel „Rohstoff“ zutreffender wäre? Denn darauf werden die Klassiker reduziert, wenn von ihnen als Stoff der Literatur erzählt wird. Für wen? (Denn es gibt ja durchaus Hörbücher, auf denen die Romane in toto vorgelesen werden.) Für die Schrumpfform des ehemaligen „Bildungsbürgers“, damit auch der Ignorant ohne den Zeitaufwand einer vollständigen Aneignung  mühelos mitreden kann?

Lässt man die Spekulation über das mögliche Zielpublikum offen, kann man über andere Motive für diese verlegerische Idee nachdenken. Offenbar hat das erstaunliche Geschäft mit den Hörbüchern etwas dazu beigetragen, dass die ehemalige Lektorin Rötzer sich mit ihrer wunderlichen Geschäftsidee „in die Tradition des mündlichen Erzählens“ zu versetzen meint. Dabei wird – wie das im Jargon der Digitalisierung heißt – der Literatur nur der jeweilige „Content“ entzogen. Der Rest - i.e. was daran durch Sprachgestalt, Dramaturgie, ästhetische Originalität als Manifestation der literarischen Kunst von den Autoren gestaltet worden war – wird als quantité négligeable weggeschmissen – wie Knochen, aus denen das Fleisch ausgebeint worden ist.

                                     *
Klare Aussprache – Ob sich einer der Produzenten des „schwarzhumorigen Thrillers“ mit dem Titel „Ach du Scheiße“ schon mal vorgestellt hat, wenn Kinobesucher gefragt werden, was sie sehen möchten, diesen Titel aussprechen müssten? Wahrscheinlich trifft er wie kein anderer für den so genannten Film zu. Warum aber sollte man ihn dann sehen wollen – es sei denn man sei ein neugieriger Liebhaber der witzdeutschen Analkultur.

                                      *

Kunst-Macht-Übernahme – Wenn man sich fragt, welche deutsche Kulturzeitschrift durch die Personen, die in ihr publizierten, den nachhaltigsten Einfluss in der deutschen Mediengeschichte hatte, wird man bestimmt nicht an die Zeitschrift „Filmkritik“(1957/84) denken. Und doch war sie es – nicht Schlegels „Athenäum“ & Schillers „Horen“ oder Ossietzky/Tucholskys „Weltbühne“ & Höllerer/Benders „Akzente“. Nein: es gibt nichts vergleichbar Nachaltiges als die „Filmkritik“, schon gar nicht, wenn man die Filmzeitschriften in europäischen Ländern zum Vergleich heranzieht - wie die weltberühmten „Cahiers du Cinema“ oder „Bianco e Nero“ & „Sight & Sound“.

Die von Enno Patalas & dem früh verstorbenen Habermas-Freund Wilfried Berghahn gegründete „Filmkritik“ (FK) war ein demonstrativ linkes Oppositionsorgan in der Bundesrepublik. Das einzige neben der „Anderen Zeitung“ & „konkret“, das von der DDR  finanziert wurde, wohingegen die „Filmkritik“ wahrscheinlich vom linken Flügel der IGMetall gestützt wurde. Ästhetisch orientierte sich die „Filmkritik“ an Brechts epischer Theater-Theorie & Kracauers sozialphilosophischen Untersuchungen „Von Caligari zu Hitler“. Viele der Mitarbeiter hatten in Münster bei dem Publizistikwissenschaftler Walter Hagemann studiert.

Die einflussreichen Berufs-Karrieren der FK-Autoren starteten Mitte der Sechziger Jahre, als die Öffentlich-Rechtlichen (Ö.-R.) Sender der BRD für das 1., 2. & die 3. Programme wesentliche Teile ihres Abendprogramms mit aktuellen & historischen Filmen zu bestücken begannen. Dafür suchten sie qualifizierte Filmjournalisten, die als Kuratoren in allen ihren Filmredaktionen tätig wurden & bald auch noch entscheidende Mitproduzenten wurden: für Film-Produktionen rund um den Erdball, z.B. von Argentinien über Australien bis Japan. Das war eine bis heute noch nicht beschriebene Erfolgsgeschichte des internationalen Off-Hollywood-Films,- eine andere Art & Weise der Globalisierung, die wesentlich gefordert & gefördert wurde durch die Filmpolitik der bundesdeutschen TV-Sender.

Im Lauf der Siebziger & Achtziger Jahre wurde der eine Teil der Gründungsgeneration der „Filmkritik“ zu festangestellten Scouts des F.-J. Strauß-Freundes Leo Kirch – Filmhändler & -produzent in München -; der andere Teil zu festangestellten Filmredakteuren des „Ö.-R. Fernsehens“. Andere FK-Autoren – wie Patalas & Gregor (die gemeinsam eine „Geschichte des Films“ geschrieben hatten) – leiteten das Münchner Filmmuseum oder das „Forum des Internationalen Films“ auf der Berlinale. Und der Frankfurter FKler, Filmhändler & -produzent Klaus Hellwig sorgte mit seiner Firma „Janus“ (!) dafür, dass (wie jeder wusste) mit diesem Imprint Leo Kirchs neue attraktive (Resnais, Losey, Godard) oder auch „sperrige“ Filme (Straub) auf höchstem künstlerischem Niveau hergestellt wurden. Die FK-Mitarbeiter Kotulla & das Duo Stempel/Ripkens drehten Spielfilme, die sie ohne die Kooperation von Kirch & den Ö.-R. Fernsehanstalten nie hätten realisieen können.

Für Verschwörungstheoretiker wäre diese enge „Kumpanei“ bundesdeutscher Filmfreunde bei der Bestückung der TV-Anstalten mit Filmen, die sich die Kopien wie Fußballer die Bälle zuspielten, ein „gefundenes Fressen“. Denn sie alle waren einander lang vertraute Duzfreunde & besaßen ein etwa gleiches Qualitätsbewusstsein für das, was Filmkunst war.

Die erfreuliche Folge war: rund zwei Jahrzehnte lang war dadurch das „Ö.-R. Fernsehen“ der BRD das kinematographisch beste TV der Welt. Es liefen in ihm u.v.a. z.B. Filme der Marx-Brothers & Tarkowskis, von Angelopoulos & Oshima, Saura & Kiarostami, Lubitsch & Glauber Rocha.

Da aus juristischen (????) Gründen die „Ö.-R.-Anstalten“ Filme anfangs nicht direkt kaufen durften, sondern sich eines Zwischenhändlers bedienen mussten (& der hieß in der Regel Leo Kirch), fütterten sie quasi automatisch „Onkel Leo“ auf. Indem sie sich aber z.B. immer häufiger als ARD-Filmredaktion schon an der Produktion neuer Filme beteiligten, untergruben sie jedoch langsam das Monopol des CSU-Filmmoguls. Noch später fochten sie jedoch gegen Leo Kirch durch, dass die ARD-Filmredaktion ihre Großeinkäufe in den Archiven der Hollywoodstudios direkt tätigen konnten.

Diese Zeit & ihre finanziellem Umstände, die gesättigt waren von einem mafiotischen Geflecht aus Korruption, Vorteilsnahme & Geheimnis-Verrat etc., sorgte aber für die weltoffenste, qualitativ hochwertigste Programmmierung des „öffentlich-rechtlichen Fernsehens“ in der Bundesrepublik. Auch das Kino der BRD profitierte davon – weil das Fernsehen ein halbes Jahr vor der Ausstrahlung der Filme kostenlos den Verleihen seine Synchronfassungen überließ, die bis heute auf DVD für viele Filme noch greifbar sind.

Die tollste Pointe dieses deutschen „Historischen Kompromisses“ bestand aber darin, dass das schwule linke FK-Paar Hans Stempel/Martin Ripkens sowohl für den CSU-Unternehmer & Kohl-Fütterer Leo Kirch um die Welt reiste & Filme sichtete als auch während des Algerienkriegs als klandestine Kofferträger der FLN in der BRD konspirierte.
Es war eine große Zeit – für die Filmkultur (in der BRD).


Artikel online seit 06.12.22
 

»Petits riens«,
nach dem Titel eines verloren gegangenen Balletts, zu dem der junge Mozart einige pointierte Orchesterstücke schrieb, hat der Autor seit Jahren kleine Betrachtungen, verstreute Gedankensplitter, kurze Überlegungen zu Aktualitäten des
Augenblicks gesammelt. Es sind Glossen, die sowohl sein Aufmerken bezeugen wollen als auch wünschen, die
»Bonsai-Essays« könnten den Leser selbst zur gedanklichen Beschäftigung mit den Gegenständen dieser flüchtigen Momentaufnahmen anregen.
»
Kleine Nichtse« eben - Knirpse, aus denen vielleicht doch noch etwas werden kann. 

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