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Glanz
&Elend
Literatur und Zeitkritik


 

Petits riens (28)
    

Von Wolfram Schütte


© Roderich Reifenrath

Vertrauen Sie sich mir an - Als Kunde der Postbank ist es mir nun schon mehrfach geschehen, dass ein Überweisungsauftrag nicht ausgeführt wurde, weil meine Unterschrift auf der Überweisung mit der hinterlegten angeblich nicht übereinstimme. Es handelte sich dann immer um die Überweisung größerer Geldbeträge über 1000 €, nie um kleinere Beträge. Mir ist auch nicht bekannt, dass ich ab 1000 € anders unterschriebe als wenn es um weniger Geld geht. „Soll Ihr Auftrag noch ausgeführt werden?“, werde ich dann in dem Schreiben der Postbank, in dem sie mir ihre Auftragsverweigerung mitteilt, gefragt & angewiesen: “Dann bitten wir Sie, uns einen neuen Überweisungsantrag zu senden. Denn die Originalaufträge vernichten wir, nachdem wir sie elektronisch erfasst haben. So stellen wir eine kostengünstige und schnelle Bearbeitung sicher. Für Ihr Verständnis vielen Dank“.
Über das irritierende Faktum der Abweisung & die Formulierungen dieses Textes habe ich nun zu oft Gelegenheit gehabt nachzugrübeln, als dass mir nicht das eine oder andere darüber durch den Kopf gegangen wäre. 1. Wieso fragt man mich, ob mein Auftrag „noch“ ausgeführt werden soll & nicht „dennoch“, will sagen: obwohl er von der Postbank storniert worden war? 2. Wieso ist das corpus delicti meines Originalauftrags, nämlich der handschriftliche Beweis dafür, dass meine Unterschrift angeblich mit der hinterlegten Form nicht übereinstimme, vernichtet worden? 3. Ich habe keine faktische bzw. rechtliche Möglichkeit, gegen die Falschbehauptung der Postbank mich zur Wehr zu setzen oder vorzugehen. 4. Der Fall provozierte wahrscheinlich erst dann eine juristische Klärung, wenn durch die fälschliche Zurückweisung einer terminlich fixierten Überweisung Säumniszuschläge o.ä. entstanden wären & ich deshalb gegen die Postbank klagen würde.
Ich würde diesen Prozess höchst wahrscheinlich verlieren. Denn die Postbank würde argumentieren, dass sie ja zu meinem Schutz & gegen einen erschlichenen Missbrauch meines Kontos durch Betrüger die aktuelle Unterschrift mit der von mir hinterlegten durch ein Gerät elektronisch „abgleichen“ lasse. Somit werde maximal sichergestellt, dass kein Fremder meine Unterschrift fälschen könne; ebenso werde damit auch der subjektive Faktor einer möglichen menschlichen Beurteilung beim Vergleich der beiden Unterschriften ausgeschlossen.
Der einzige Unsicherheitsfaktor dabei bin offenbar nur ich. Weil ich nicht meiner hinterlegten Vorgabe entsprochen habe: befindet der Apparat.
Günther Anders hat in seiner „Antiquiertheit des Menschen“ von der „prometheischen Scham“ gesprochen, wenn der Mensch erkennt, dass die von ihm erschaffene Maschine ihm überlegen ist & er sich seiner „Unterlegenheit“ schämt. Die Unterlegenheit besteht in den meisten Fällen darin, dass die Maschine exakter ausführt, womit sie mit dem Menschen, der sie dazu programmiert hat, in Konkurrenz tritt. In diesem Fall: sie hat meine Unterschrift – Ausdruck meiner Individualität - fixiert & kann sie exakt reproduzieren. Ich dagegen muss meine Unterschrift jeweils neu produzieren & dabei versuchen, meinem einmal niedergelegten graphischen „Urbild“ nahe zu kommen. Offenbar ist die Maschine, die meine Versuche, mir selbst unterschreibend nahezukommen, derart programmiert, dass ihre Toleranzbreite für die erkennungsdienstliche Vergleichung sich reduziert, wenn die damit verbundene Freigabe von Geld eine bestimmte Höhe überschreitet.
Wahrscheinlich könnte ich der Demütigung, der sie mich in diesen Fällen zufügt, glanzvoll entgehen, wenn ich mir aus meiner hinterlegten Unterschrift einen Stempel machen ließe & statt meine Überweisungen zu unterschreiben, sie jeweils stempelte. Womit der gefährliche Rest an punktuell möglicher subjektiver „Abweichung“ beseitigt wäre, weil ich mich selbst „maschinell“, als Stempler, „bewaffnet“ hätte.

                                               *

Schwarze Hefte – Unter diesem Titel machten kürzlich private Aufzeichnungen Martin Heideggers Skandalgeschichte. „In his own write“, um mit John Lennons Buch zu sprechen, geben die „Schwarzen Hefte“ Zeugnis von den tief sitzenden antisemitischen Ressentiments des Schwarzwälder Philosophen.
In sechs Schwarzen Heften hat die „Süddeutsche Zeitung“ jährlich seit 2013 bis zum 3. August dieses Jahres ein Protokoll der 438 Tage publiziert, an denen in München der NSU-Prozess verhandelt wurde. Die Reporter Annette Ramelsberger, Wiebke Ramm & Rainer Stadler haben etwas Einzigartiges verfasst: eine Dokumentation aller wesentlichen, substantiellen Aussagen aller an dem Prozess beteiligten Personen: vom Richter Manfred Götzl über die Angeklagten & deren Anwälte bis zu den Plädoyers der Nebenkläger. Das ist eine herausragende journalistische Arbeit, denn es galt, Unwesentliches, Redundantes etc. wegzukürzen oder zusammenzufassen – ohne die Nervenpunkte des Verlaufs & die zentralen Aussagen & Äußerungen im Gerichtssaal aus den Augen zu verlieren. Ramelsberger, die Gerichtsreporterin der SZ, ist für ihre Berichterstattung über den NSU-Prozess bereits 2014 mit dem Theodor-Wolff-Preis ausgezeichnet worden. Aber die drei Journalisten, die das sechsjährige Verfahren kontinuierlich verfolgt & zusammengefasst haben, hätten für das Kondensat dieser außergewöhnlichen „Langzeitbeobachtung“ ebenso eine Auszeichnung verdient wie Redaktion & Verlag der Süddeutschen Zeitung, die jährlich eines ihrer unterhaltsamen bunten Wochenendmagazine nahezu vollständig davon frei geräumt haben, um ausreichend Platz für diese fortlaufende Dokumentation in ihren Schwarzen Heften zu haben – als zeitgenössische Agora, auf der die aktuellen Mentalitäten aller am Prozess Beteiligten versammelt & ein für allemal festgehalten sind. Ein journalistisch-semantisches Zeugnis & historisches Dokument unserer Zeit.
Mehr noch: Man könnte sogar ohne Übertreibung der Meinung sein, dass das sechsfache SZ-Magazin damit sowohl symbolisch als auch faktisch im Raum der Öffentlichkeit für die beschädigte Würde der polizeilich heimgesuchten Familien & zum Gedenken von deren heimtückisch ermordeten Familienmitgliedern getan hat, als der Richtspruch, der am Ende des NSU-Pronzesses stand.
Das verdiente eine symbolisch deutliche öffentliche Würdigung, z.B. von dem höchsten Repräsentanten des Staates, der sich, zurückhaltend formuliert, im Blick auf den sogenannten „NationalSozialistischenUntergrund“ & dessen Verbindungen zum Verfassungsschutz auf der ganzen Linie versagt hat.

                                                  *

Vom Himmel hoch, da komm ich her – Rückblickend auf einen Dokumentarfilm über Zugvögel, der vor ein, zwei Jahren Furore machte, weil die Kamera auf Augenhöhe & in nächster Nähe der beobachteten Wildgänse z.B. auf ihrem Flug über die Alpen, mitflog, waren das womöglich die ersten filmästhetisch fündigen Drohnenbilder. Bis dato hatte man zwar von diesen technisch neuen, heimtückischen Instrumenten der US-Kriegsführung gegen einzelne mutmaßliche „Terroristen“ gehört, wofür besonders der Friedensnobelpreisträger Obama ein Faible hatte.
Nachdem militärisch mannigfaltig zu nutzende, unterschiedlich große Drohnen im politisch- militärischen Komplex eingeführt worden waren & mittlerweile bald jeder bei uns sich für seinen privaten Gebrauch & zum Vergnügen Drohnen leichter kaufen kann als Feuerwaffen, dringen die ferngesteuerten unbenannten kleinen Hubschrauber ohne viel Aufhebens in unseren Alltag. (Gewiss wird das zu mannigfachen Problemen führen, die mich jedoch augenblicklich nicht interessieren.)
Die Drohne mit Kamera ist mittlerweile zum geläufigen Instrument sowohl in der TV-Reportage als auch im Spielfilm geworden. Was bislang mit Hubschrauber, Teleobjektiv oder (stationär) Kranfahrten als weitläufige & rasante Fahrten im Raum oder durch Panoramaschwenks spektakulär von sich reden machte (& ebenso aufwendig wie teuer war), ist nun wesentlich leichter zu machen & billiger zu haben.
Nicht verwunderlich, dass die Drohnen mit Kamera im Augenblick in der audiovisuellen Produktion inflationär en vogue sind. Ich erinnere mich noch, dass es eine Zeit im Kinospielfilm gab, in der Regisseure wie z.B. Niklas Schilling besonders stolz auf ihre „Steadycam“-Fahrten waren. Sie suggerierten eine schwebend-fluide Bildlichkeit. Da die Kamera dabei aber an die Körperlichkeit des Kameramannes oder der Kamerafrau gefesselt war (obgleich sie dabei scheinbar frei sich zu bewegen schien), blieb der Suggestionsraum gewissermaßen nur auf „Augenhöhe“. Nun aber kann sich der Kamerablick von der „Augenhöhe“ mühelos im Raum bewegen & vor allem (wie ein Vogel) sich in die Höhe erheben: zur Überblicksperspektive & -totalen & scheinbar schwerelosen Blickfahrten im Luftraum. Kamera & Kameramann oder -frau sind nicht mehr mit ihrem optischen Aufzeichnungsgerät (erst recht beim Steadycam) physisch verbunden, sondern noch mehr getrennt voneinander als der Arzt, der eine Darmspiegelung mit einem Koloskop vornimmt: das verwandte optische Verfahren en miniature. Die Drohnenkamerafahrten erweitern zweifellos das Darstellungsrepertoire der audiovisuellen Medien & verändern damit auch deren bisherige Erzählformen. Bin gespannt, wann einer damit wirbt, seinen ganzen Film nur mit Drohnen gedreht zu haben; & wie das dessen Erscheinungsbild verändern würde.

Artikel online seit 15.08.18
 

»Petits riens«,
nach dem Titel eines verloren gegangenen Balletts, zu dem der junge Mozart einige pointierte Orchesterstücke schrieb, hat der Autor seit Jahren kleine Betrachtungen, verstreute Gedankensplitter, kurze Überlegungen zu Aktualitäten des
Augenblicks gesammelt. Es sind Glossen, die sowohl sein Aufmerken bezeugen wollen als auch wünschen, die
»Bonsai-Essays« könnten den Leser selbst zur gedanklichen Beschäftigung mit den Gegenständen dieser flüchtigen Momentaufnahmen anregen.
»
Kleine Nichtse« eben - Knirpse, aus denen vielleicht doch noch etwas werden kann. 

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