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Glanz
&Elend
Literatur und Zeitkritik


 


    

Petits riens (30)

Von Wolfram Schütte


© Roderich Reifenrath

Wahl-Korrektur – In einem der Notate, die er sich zwischen 2011 & 2013 gemacht hat, zitiert Peter Sloterdijk eine Einsicht des damaligen Bundespräsidenten Christian Wulf. Der habe in einem Interview der »Zeit« über die politische Situation in Deutschland geäußert:  »Die Grundlage des Vertrauens schwindet.« Der philosophische Schriftsteller kommentiert: »Keine geringe Erkenntnis bei einem Inhaber des Präsidentenamtes, dessen Nominierung, Durchsetzung und Wahl eine einzige vertrauenszerstörende Kombination gewesen war, vom Kanzleramt aus gesteuert und von einer latent korrumpierten, zum Jasagen verführten, unionsdominierten Bundesversammlung mitgetragen.«

Zwischen dieser Erkenntnis & den jüngsten alarmierenden Wahlverlusten der sogenannten »Volksparteien« liegen 7 Jahre. »In Hessen«, bemerkt die NZZ am 29.10. »haben die Wähler den beiden traditionell staatstragenden Parteien CDU und SPD weitere empfindliche Verluste beigebracht und der Alternative für Deutschland zum Einzug ins Landesparlament verholfen«.  Bei der Frage nach den Gründen für die derzeit prekäre Lage der  traditionellen deutschen »Volksparteien« dürfte ruhig auch einmal von den spekulierenden Analytikern bedacht werden, dass »das Volk«, will sagen die Mehrheit der Deutschen, in die den Staat »tragenden« Parteien ihr Vertrauen darauf, »dass sie´s schon richten werden«, grundsätzlich verloren hat. Verloren zum einen, weil  eine »Große Koalition«, die bei ersten (& auch beim jüngsten) Mal als »Notlösung« angesehen worden war, von den Volksparteien zwischenzeitlich als die Patentlösung installiert wurde, weil mit jeweiligem Fraktionszwang. parlamentarisch ungefährdet »durchregiert« werden kann.

Damit wurde das inhärente politische Versprechen der Demokratie – der durch Entscheid des »Wahlvolks« herbeigeführte Regierungswechsel - stillschweigend kassiert. Da die beiden »Volksparteien« nur für die Dauer des jeweiligen Wahlkampfs entschieden gegeneinander ag(it)ierten, danach aber die großkoalitionäre Regierung (Business as usual)  fortsetzten, waren jedes Mal die einzigen Düpierten die gegeneinander mobilisierten Wähler beider Parteien. In ihren Ohren musste es besonders höhnisch klingen, wenn ihnen jeweils versichert wurde, es gäbe zu diesem kommoden Zusammengehen der beiden Repräsentanten der politisch kontroversen Bevölkerungsteile »keine Alternative«.

Das stimmte insofern, als die Alternative, die jede der beiden »Volksparteien« für die andere für die Dauer des Wahlkampfs simulierte, nach der Wahl annulliert wurde. Will sagen: de facto haben beide den demokratischen Prozess stillgestellt – weil keiner von beiden das temporäre Risiko, sprich den Versuch einer Minderheitsregierung eingehen, bzw. die Rolle der größten Oppositionspartei ergreifen wollte (& sie dabei »von den Medien« nahezu ausnahmslos unterstützt wurden.)

Beim Scheitern einer solchen parlamentarisch prekären Regierung hätte der dadurch politisierte »Wahlbürger« eine klare Wahlmöglichkeit unter den »Volksparteien« gehabt: er hätte den Mut zum parlamentarischen »Wagnis« mehrheitlich honorieren oder aufgrund der überzeugenderen Oppositionsarbeit für eine demokratische »Wachablösung« sorgen können.. Erst wenn aufgrund der numerisch prekären Wahlergebnisse erneut keine alternative Wahl mehr möglich gewesen wäre, - erst dann hätte eine erneute Große Koalition zur Wahl gestanden.

Diese Möglichkeit der selbstregulativen Korrektur einer arithmetisch entstandenen Patt-situation im Parlament haben die beiden »Volksparteien« jedoch willentlich vor aller Augen vergeben. Sie haben das Wähler-Vertrauen in den demokratischen Prozess des Machtwechsels qua Wahlentscheid dadurch enttäuscht! Durch die Arroganz, mit der sie dekretierten, dass es für zu ihrer  »GroKo« politisch-demokratisch »keine Alternative« gäbe, haben sie beide das ursprünglich trotzköpfige politische Sammelbecken der »Alternative für Deutschland«  ins Leben gerufen. Und was immer von der AfD politisch vertreten, geäußert oder gefordert wird, automatisch für undenkbar, inakzeptabel, illiberal erklärt. Dämlicher kann man sich selbst nicht politisch fesseln & in zwangshafter Immobilität kaltstellen!

Nachdem die »Volksparteien« gemeinsam den reaktionären Balg gezeugt hatten, empfehlen sie nun ihre fortschwärende (groß)koalitionäre Existenz als »demokratischer« Wall gegen die AfD. Einzig ihr wiederholtes »Weiter so« – in welcher Konstellation auch immer (CSU/Freie Wähler in Bayern & Fortsetzung der Koalition von CDU/Grüne in Hessen) – sei die einzige »demokratische Alternative« zur AfD. Eine politische self fullfing profecy

Nicht verwunderlich, dass ihre einstmaligen »Stammwähler«  - offensichtlich mobil- »demokratischer« als die »Volksparteien«? – politische Alternativen zu ihnen suchen: sei´s bei den Grünen, sei´s in der AfD – je nach der sozialen, kulturellen & ethischen Grundausstattung der Wanderwähler. Bei den einen führen die liberal-bürgerlichen »Realos« das große Wort, bei den anderen sind es die offen reaktionären Rechtsnationalen, die im Sammelbecken der AfD die Macht ergreifen & den Ton angeben.

                                               *

Sponti-Adé – Ob einem schon mal aufgefallen ist, wie sehr die Spontaneität am Verschwinden ist? Vor allem das Vorkommen »spontaner Entscheidungen«, mit denen man für sich & andere plötzlich völlig neue Situationen herstellte oder andere Richtungen einschlug. Spontaneität galt einmal als Ausdruck einer aktiven, lebensfreudigen individuellen Selbstbestimmung: anarchistisch-momentaner Ausbruch aus dem verordneten Zwang der Lebensumstände. Mit Spontaneität verband sich Lebenslust, Offenheit für das Risiko, Entscheidungsstärke – ein existenzielles Verhalten, das sowohl von Launen provoziert sein konnte, als auch mit quicker Phantasie & mobiler Intelligenz den vorgefundenen Gegebenheiten unerwartbare Gewinne »abluchste«.

Vor allem, wenn sich heute die Spontaneität im öffentlichen Raum äußert, ist sie entweder folgenlos oder sie kommt einen teuer zu stehen. Ich denke da z.B. ans Reisen, an den Urlaub oder an Museumsbesuche. Wer »früher« plötzlich auf die Idee kam, zu verreisen – ob mit Zug oder Flugzeug -, fand so gut wie immer einen Platz & immer zu gleichen Preis. Das mit dem immer gleichen Preis stimmt heute so wenig, wie daß man noch »so gut wie immer« einen Platz findet.

Denn seit durch die Dynamisierung der Preise auch die Dynamisierung der Platzausnutzung sprunghaft zugenommen hat, können sich zwar wesentlich mehr Menschen Reisen erlauben, aber nur durch eine alle involvierende Reglementierung von Zeit & Platz. Je früher einer seine Reise festlegt, desto billiger ist sie, so dass er sich womöglich eine zweite erlauben kann, die sich ebenfalls verbilligt, wenn er wieder den sogenannten »Frühbucherrabatt« nutzt.

Der Reiseveranstalter hat damit früh einen Überblick über den Bedarf an Plätzen, bzw. er kann ggf. einen Reisewunsch frühzeitig absagen.  So kommt es dazu, dass z.B. manche Gruppenreisen schon viele Monate zuvor vollständig ausgebucht sind, bevor der »Spontanreisende« bemerkt, dass er »out of time« ist. Gleiches kann einem auch passieren in Museen & Ausstellungen. Auch hier empfiehlt es sich, sich frühzeitig für einen Besuch zeitlich festzulegen, um sicher zu sein, in diesem Zeitraum auch Zutritt zu haben. Gewissermaßen ist jene Eigenart, deutscher Badetouristen, vorzeitig einen Strandplatz für sich zu reklamieren, indem man ihn vor allen anderen mit eigenen Badetüchern belegt, ubiquitär geworden. Wie oft appelliert die Werbung heute damit, sich etwas zu »sichern«, will sagen: den anderen wegzuschnappen! Frühentscheidung ist die Grundlage der Schnäppchenjägerei. Oder um Gorbatschows berühmtes Diktum abzuwandeln: Wer sich spontan entscheiden will, den bestraft unsere Lebensweise.
Kurz: fürs Spontane gibt’s bald keinen Platz & keine Zeit mehr – zumindest im Alltag der meisten von uns.

                                               *

Brioche mit Aktien - Der Satz: »Wenn sie kein Brot haben, sollen sie doch Brioche (Kuchen) essen« wurde Marie Antoinette zugeschrieben, um die selbstbezogene Weltfremdheit der französischen Königin zu charakterisieren, als man ihr vom Hunger der Pariser Bürger gesprochen hatte. Ob sie den zynischen Satz, der ihr Charakterbild in der Geschichte entscheidend negativ geprägt hat, wirklich geäußert hat, ist zweifelhaft.

Nicht zweifelhaft dagegen ist, dass Friedrich Merz – Aufsichtsrats-Chef bei »Black Rock« & Bewerber um den Posten des CDU-Partei-Chefs -, geäußert hat, die Deutschen sollten mit Aktien-Spekulationen ihre zu geringen Alters-Renten ergänzen & der Staat solle solchen individuellenTanz auf dem Börsenparkett durch steuerliche Freibeträge anreizen – was, by the way, ja bedeutete, dass der Staat dabei auf Steuereinnahmen verzichtet (& »die Börse« damit verdient).

So absurd die berühmt-berüchtigte historische Empfehlung an Hungernde wäre, die das Geld zum Brotkauf nicht haben, stattdessen doch »Brioche« zu essen, ist heute der Vorschlag an deutsche Lohnabhängige, die jetzt schon kaum finanziell über die Runden kommen, ihre absehbare Altersarmut durch Aktienkäufe während ihres Arbeitslebens zu beheben. Auf diese Idee kann man nur als Wirtschaftsanwalt der internationalen Hochfinanz & Aufsichtsrats-Chef eines Multimilliardenschweren international agierenden Vermögensverwaltungsunternehmens kommen, das auch wg. dubioser staatsschädigender Geschäfte augenblicklich im Fokus deutscher Steuerbehörden steht. Die Börse als Esel, der Dukaten scheißt: Ein Sauerländer Märchen für alle Dummen, ihnen zuliebe erzählt von Friedrich Merz.

Was das Christliche des aus dem Sauerland stammenden Multimillionärs betrifft, der sich um den Vorsitz der »Christlich Demokratischen Union« bewarb: dafür hat er kürzlich das Beispiel für eine zeit-, bzw. ihm gemäße Sankt-Martins-Haltung gegeben.

Nachdem zwei Berliner Arbeitslose sein verlorenes Adressbuch (mit entsprechend heiklen telefonischen Adressen) gefunden & bei der  Polizei abgegeben hatten, speiste er sie nicht – wie jeder andere von uns - mit einem (womöglich: fürstlichen) Geldbetrag ab, über den sich die beiden Habenichtse doch nur bloß gefreut hätten.

Nein, der Heilige Martin aus dem Sauerland belehrt sie lieber, indem er den beiden ehrlichen Findern zwei Belegexemplare eines Buchs über sich mit persönlicher Widmung(!) schenkte, damit selbst sie gefordert seien, ihm beruflich nachzueifern. Das ist die großzügige Pädagogik eines modernen Christenmenschen, der nichts zu verschenken hat – außer Belehrungen über sich, sein Weltverständnis & seinen Charakter.

Die Mehrheit der CDU-Delegierten hat Friedrich Merz & seine Selbstdarstellung verstanden.

Artikel online seit 10.12.18
 

»Petits riens«,
nach dem Titel eines verloren gegangenen Balletts, zu dem der junge Mozart einige pointierte Orchesterstücke schrieb, hat der Autor seit Jahren kleine Betrachtungen, verstreute Gedankensplitter, kurze Überlegungen zu Aktualitäten des
Augenblicks gesammelt. Es sind Glossen, die sowohl sein Aufmerken bezeugen wollen als auch wünschen, die
»Bonsai-Essays« könnten den Leser selbst zur gedanklichen Beschäftigung mit den Gegenständen dieser flüchtigen Momentaufnahmen anregen.
»
Kleine Nichtse« eben - Knirpse, aus denen vielleicht doch noch etwas werden kann. 

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