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Seitwert


Unter Verdummungsverdacht

Nicolas Carr misstraut dem Internet und sorgt sich um unsere geistige Frische, wenn wir zuviel surfen

Von Rudolf Maresch

Wer ständig oder zu viel online ist, verblödet auf Dauer. Das ist kurz und prägnant zusammengefasst die Behauptung, mit der der US-Journalist und Blogger Nicolas Carr vor zwei Jahren im »Atlantic« für Furore gesorgt hat. Damals richtete er den Finger noch auf die Firma »Google« und deren Ambitionen im Netz. Mittlerweile hat er dem Artikel eine Langversion zur Seite gestellt und den »Verdummungsverdacht« auf die gesamte Digitalkultur ausgeweitet.

Verdummungsrisiko
Laut Carr lesen wir, seitdem das Netz und seine Applikationen unseren Alltag, unser berufliches Leben und unsere Kommunikation bestimmen, nicht nur oberflächlicher, lernen schlechter und erinnern uns schwächer. Auch die Fähigkeit, sich für längere Zeit auf einen Text oder eine Sache zu konzentrieren, fällt uns zusehends schwerer. Statt uns entlang der Konstruktion einer Erzählung oder der Argumentationskette eines Autors zu bewegen, hangelten wir uns meist nur noch von Link zu Link, wobei der Textfluss als solcher verloren geht.

Zwar stärkten wir dabei unsere visuellen und taktilen Fertigkeiten. Zugleich würden wir durch das ständige Klicken auf neue Webseiten, das Abfeuern und Empfangen neuer Mails, SMS oder Tweets oder das permanente Gucken in unser Postfach aber immer hibbeliger, zerstreuter und ablenkbarer in unserem Tun.

Um das zu belegen, führt der Autor eine Vielzahl hirnphysiologischer Studien an. Sie sollen zeigen, wie formbar das menschliche Gehirn imgrunde ist. Der Umbau des Hirns findet danach auf einer tieferen biologischen Ebene statt und betrifft die Art, wie sich Nervenzellen oder Neuronen miteinander verbinden. Carr ist überzeugt, dass übermäßiger Netzverkehr die Synapsen des Gehirns neu verknüpft und dazu führen wird, dass gründliches Lesen von Texten in naher Zukunft zu einer aussterbenden Kulturtechnik wird.

Zu belegen versucht Carr das aber auch durch eigene Erfahrungen. Als er sich beispielsweise eine »Netzpause« gönnte und seinen Netzkonsum für mehrere Wochen und Monate auf Eis legte, wurde er rasch wieder ruhiger. Er wurde ausgeglichener, »atmete freier«, wie er sagt, und konnte sich auch in einem Buch verlieren; er konnte Gedankengänge nachvollziehen und in längere Prosa-Passagen abtauchen, ohne sogleich in Gedanken abzuschweifen. Nur so sei es ihm überhaupt möglich gewesen, eine schlüssige Argumentation zu entwickeln und sie für dieses Buch niederzuschreiben.  

Widerstreitende Aussagen
Auf den ersten Blick scheinen Carrs Beobachtungen zu überzeugen. Wer sich häufig auf Flughäfen, an Bushaltestellen und anderen Terminals aufhält oder sich auf Konferenzen, Tagungen oder anderen Meetings bewegt, wird massenhaft Leute beobachten, die ständig mit der einen Hand hastig etwas in ihr Handy hineintasten, während sie mit der anderen am Laptop herumscrollen oder angestrengt versuchen, ihrem Nachbarn beim Erzählen zuzuhören.

Und wer in jüngerer Zeit mal mit jungen Menschen gearbeitet hat, der wird nicht nur wissen, dass ADS und ADHS sowie der damit verbundene Ritalin- und Medikinetkonsum, den Pädagogen und Psychologen meist auf exzessiven Medienkonsum zurückführen, den Lernalltag in den Klassenzimmern zunehmend erschweren; der wird auch wissen, dass das Bedienen von Touchscreens oder das Übermitteln von Popsongs oder Botschaften zwar bestens beherrscht werden, das Lesen und Denken, insbesondere das verstehende oder deutende, das eigenständige und exakte, aber nicht mehr.

Schließlich sind auch Verlage, Zeitungen und Magazine dazu übergegangen, die Länge ihrer Artikel zu kappen, ihnen Zusammenfassungen oder Navigationshilfen an die Seite zu stellen und sie mit Schlagzeilen, Bildern und Tönen aufzuhübschen, damit sich Inhalte leichter verdauen oder überfliegen lassen. An diesen Stellen beobachtet Carr durchaus etwas Richtiges.

Guckt man sich hingegen einschlägige US-Studien zum Internetverhalten an, dann wird man auch Gegenteiliges erfahren. Danach weisen Surfer im Schnitt einen Intelligenzquotienten von um die 100 auf, einen Wert, der von dem der realen Gesamtbevölkerung nicht entscheidend abweicht. Und zieht man noch den so genannten »Flynn-Effekt« zurate, der zeigt, dass der Intelligenzquotient der Bevölkerungen in den reicheren Gesellschaften stetig gewachsen ist, dann relativiert sich Carrs Behauptung in dramatischer Weise.

Der Eindruck, dass wir durch Facebook, Google und Co. irgendwie dümmer würden, lässt sich dann jedenfalls weder halten noch erhärten. Eine von Internet-Diensten irgendwie genervte oder gestresste Gesellschaft, laut Umfragen verbringen Bundesbürger im Schnitt zweieinhalb Stunden im Netz, scheint mit höheren IQ-Werten folglich durchaus kompatibel zu sein. So düster, wie Carr die Lage malt, kann sie mithin nicht sein.

Analogieschlüsse
Zweifellos leben wir in einer Zeit großer kultureller Umbrüche. Daran ist das Internet mit Sicherheit nicht ganz »schuldlos«. Vernetzte Computer verändern unser Verhalten, unsere Expressivität und die Art zu kommunizieren. Gewiss hält das Netz so manchen User von wesentlicheren Dingen ab. Die Netzkultur zerstäubt seine Gedanken, er liest hastiger, flüchtiger und sie hindert ihn vielleicht sogar daran, über gewisse Dinge intensiver nachzudenken. Vor allem, wenn es dabei noch ständig fiept und piept, der iPod in der Nähe tobt und man in steter Habachtstellung auf das nächste »Hallo« oder »Hi, my love« wartet, im irrigen Glauben, die nächste Botschaft könnte das Leben entscheidend verändern.

Aber dass ein exzessive User dadurch gleich sein Einfühlungsvermögen verliert, wie Carr behauptet, und weniger leidenschaftlich wird als im analogen Leben, kann man aus all dem sicherlich nicht ableiten. Genau das Gegenteil scheint vielmehr der Fall zu sein. Liest man all die Messages, die in Blogs, auf Foren, in Chatrooms oder über Twitter und Facebook abgelegt werden, so hat der Beobachter eher den umgekehrten Eindruck.

Gerade auf diesen Plattformen kann von Entfremdung oder gar seelischer Verkümmerung keine Rede sein. Häufig würde man sich gern weniger Empathie, Vitalität und Emotionalität, dafür mehr Verstand, Abgeklärtheit und Nachdenklichkeit wünschen, wenn mal wieder über die Schlechtigkeit der Welt, die Verschlimmerung der Verhältnisse oder die Bösartigkeit der anderen gejammert, geheult oder voller Inbrunst gestritten wird.

Alter Wein in neue Schläuche
Freilich ist das Internet nicht die erste Kultur, die diese vermeintliche »Deformierung« des Gehirns anrichtet. Dank Platons »Phaidon« wissen wir, dass der Philosoph Sokrates, von dem nichts Schriftliches übermittelt ist, seinerzeit befürchtet hatte, dass das Gedächtnis der Menschen immer lückenhafter würde, sollten sie ihre Gedanken veräußerlichen und sich zunehmend auf das geschriebene Wort verlassen.

Zwar erhielten die Menschen via Schrift eine Unzahl an Informationen, die sie als überaus wissend erscheinen lassen. Weil sie aber nicht über die nötigen Instruktionen verfügten, wie damit zu verfahren sei, würden sie, so der Philosoph, über kurz oder lang zu Nichtwissenden. Statt daran zu reifen, klug und weise zu werden, erlangten sie beides nur noch in eingebildeter Form.

Seit dieser Zeit, dem Übergang von der Sprache zur Schrift, kam es, wenn ein neues Medium, ein neuer Stil oder eine neue Mode die Menschen ereilte, auch immer wieder zu neuen Abgesängen auf die vorherrschende Kultur. Bei der Einführung des Fernsehens, der Comic- oder Heftchenkultur war das nicht anders wie beim Twist, Petticoat oder Rock’n’Roll. Warum sollte das bei der Internetkultur plötzlich anders sein?

Auch muss man weder ein Fan von Marshall McLuhan sein, den Carr sehr verehrt, noch muss man den Turing-Test oder die Anekdote um Nietzsches Schreibgerät kennen, um zu wissen, dass Medien- und Netztechnologien an unseren Gedanken mitschreiben, wir, wenn wir den Befehlsketten der Computer und Programme folgen, selbst in gewisser Weise zu Rechen- und Schreibmaschinen werden.

Doch so wie Carr diese medienwissenschaftliche »Binsenweisheit« mit der Hirnforschung vermanscht, genauso könnte man sich darüber auslassen, dass Autofahren oder Glattrasur, Schachspiel und die Pille danach unseren Denkapparat transformieren. Auch wenn dem so wäre, käme wohl trotzdem kaum jemand auf den irrigen Gedanken, für eine Einschränkung solcher Kulturtechniken zu plädieren. Insofern mutet die Übertragung hirnpsychologischer Erkenntnisse auf unser Online-Dasein schon etwas bizarr an.

Filtern und richtiger Gebrauch
Längst wissen wir, dass das Leiden an der »Informationsflut« zuallererst eine Frage der intelligenten Filterung ist. Niemand wird gezwungen, bei Twitter.com einen Account zu haben, bei Flickr.com Bilder hochzuladen oder sich bei Facebook.com zusätzliche Freundschaften zu suchen. Niemand fordert, dass man alle fünf Minuten seinen Mailbox checken, eine nichtssagende SMS versenden oder ankommende sofort lesen muss. Und niemand verlangt, dass man Dutzende von Graswurzelblogs abonnieren oder sich mit Videos, Spielen oder Onlinechats die Zeit vertreiben muss.

Wer nicht weiß, wie er sich des Netzes bedient oder sich darin richtig bewegt, wird dort wie auch im Straßenverkehr, im Betrieb oder an der Börse Schaden erleiden. Kognitiver Schaden entsteht nicht durch die Vielfalt neuer Medientechnologien, sondern auch dann, wenn man sein Tun nicht im Griff hat. Auch im Alltag, im Umgang mit Drogen, Frauen oder Haushalt, muss jeder Einzelne Tag für Tag Verantwortlichkeiten beweisen, beim Einkaufen und im Konsumieren von Alkohol genauso wie beim Sex oder im Fitnessstudio.

Kommen einige Leute damit nicht zu Rande, heißt das im Umkehrschluss nicht, dass andere daran verzweifeln müssen. Funktionieren die Filter, verschwindet auch schnell das Gefühl des Schwindels, des Unwohlseins und des ständigen Überfordertseins. Wer daran scheitert oder laut darüber klagt, verrät mithin auch viel über seine Unfähigkeit, Ordnung, Organisation und Sinn in seinen Alltag zu bringen. Man geht daher sicher nicht fehl in der Annahme, dass kluge Leute auch in diesen Dingen Talent und Disziplin nachweisen müssen.

Um auf dem Stand der Dinge zu sein, reichen ein paar ausgewählte, kulturpolitisch ebenso relevante wie unterschiedlich eingefärbte Netzadressen aus, denen man einigermaßen Vertrauen und Glaubwürdigkeit entgegenbringt. Werden diese enttäuscht oder untergraben, dann ist es dank der neuen Medientechnologien ein Leichtes, diese Adresse aus seinem Speicher zu löschen und rasch zu einer anderen weiterzuziehen.

Längerfristige Bindungen wie früher muss man dafür nicht mehr eingehen. Wenn es dem geneigten User an etwas fehlt, dann sicherlich nicht an Menge oder Masse, sondern an virtuellen Leuchttürmen, die Qualitäten vermitteln und ihm Vertrauen und Verlässlichkeit signalisieren. Es liegt an Nicolas Carr oder auch an Frank Schirrmacher, der viele seiner Erkenntnisse, die er in seinem Buch »Payback« zitiert und verarbeitet hat, dem Autor Carr verdankt, dafür ein Zeichen zu setzen.
 

Nicholas Carr
Wer bin ich, wenn ich online bin … und was macht mein Gehirn solange?
Aus dem Amerikanischen von Henning Dedekind
Blessing, München
384 Seiten
19,95 Euro

Leseprobe


 


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