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Unterwegs
in die Walachei
»Tschick«. Eine Geschichte in Bewegung von Wolfgang Herrndorf.
Der Roman ist für den Preis der Leipziger Buchmesse vorgeschlagen worden und der
Autor wurde gerade mit dem
Clemens Brentano Förderpreis
für Literatur der Stadt Heidelberg
ausgezeichnet.
Von Sigrid Lüdke-Haertel
Man möchte mit dem Hammer
draufschlagen. Laut schreien. Sich die Haare ausreißen. Wolfgang Herrndorf, ein
wirklich wunderbarer Schriftsteller. Witzig, leicht und locker kommen seine
Geschichten daher, oft mit leisen, nicht bitterem, eher tragischem Unterton, ein
begabter Fußballspieler, Klagenfurt-Preisträger, gerade 45 Jahre alt, ein
unglaublich sympathischer Typ, er muß sterben. Das ist keine Geschichte von ihm,
sondern sein Schicksal. Im Februar 2010 erhält er die Diagnose: Hirntumor,
unheilbar. »Ich werde noch ein Buch schreiben«, sagt er sich. Egal, wie viel
Zeit ihm bleibt, drei Monate, oder – »purer Luxus« – ein Jahr.
Das Buch ist bereits fertig geworden. »Tschick«, ein schmaler, wiederum
humorvoll-witziger, auch abgründiger Roman. Man möchte sich beim Lesen
totlachen. Man möchte schreien.
Er fängt mit dem Ende an. »Vollgesifft und blutig auf der Station der
Autobahnpolizei sitzen und Fragen nach den Eltern beantworten ist auch nicht
gerade der ganz große Bringer.« Es ist ein starker Anfang, noch dazu wenn man
bedenkt, daß dieser Held gerade mal vierzehn ist und eine Odyssee durch
Ostdeutschland hinter sich hat, mit einem geklauten Lada, von dem ein
Schrotthaufen übrig bleibt. Aber der Reihe nach:
Maik Klingenberg, der Ich-Erzähler, Schüler in einem Gymnasium im Osten Berlins,
ist ein völlig unauffälliger Typ. Daß er keinen Spitznamen hat, hatte zwei
Gründe: »Entweder man ist wahnsinnig langweilig ... oder man hat keine Freunde«.
Auf Maik trifft leider beides zu. Er wohnt mit Mutter und Vater in einer
hübschen Villa mit Pool. Die Mutter geht ab und zu auf eine »Beautyfarm«,
genauer gesagt in eine Entzugsklinik. Der Vater vergnügt sich derweil auf einer
Geschäftsreise mit seiner »Assistentin«. Maik ist unsterblich verliebt in
Tatjana Cosic. Sie ist Klassenkameradin und einfach »superporno«, würdigt ihn
aber keines Blickes. Alles wird anders, als Tschick, eigentlich Andrej
Tschichatschow, neu in die Klasse kommt. Ein »Assi«, der in einer
Plattensiedlung in Marzahn wohnt, unmöglich angezogen ist und nicht selten, dann
aber immer streng, nach Alkohol riecht. Die beiden sind die einzigen, die bei
Tatjana nicht zur Geburtstagsparty am Ferienanfang eingeladen sind, und das
schweißt zusammen. Als Maik sich so richtig in seine Trauer vergraben will, die
Eltern sind verreist, es scheinen schrecklich langweilige Sommerferien zu
werden, kommt Tschick mit einem geklauten Lada vorgefahren. Sie werfen Zelt,
Schlafsäcke und ein paar Konserven in den Kofferraum, und ab geht es. Das Ziel
scheint klar: die Walachei, zu Tschicks Großvater.
»Ich habe einen Großvater in der Walachei“
»Und wo wohnt der?«
»Wie, wo wohnt der? In der Walachei.«
»Hier in der Nähe oder was?“
»Was?«
»Irgendwo da draußen?«
»Nicht irgendwo da draußen, Mann. In der Walachei.«
»Das ist doch dasselbe.«
»Was ist dasselbe?«
»Irgendwo da draußen und Walachei ist dasselbe.«
Dann fahren sie los, ohne Plan und Karte. Sie treffen auf aberwitzige, schräge,
komische und äußerst liebenswerte Typen. Wie Isa von der Müllkippe, die
ungeheuerlich stinkt, aber Maik sehr gerne geküßt hätte. Auf Busladungen von
Rentnern, die »alle braune oder beige Kleidung« tragen. Maik ist erschüttert,
daß die alle jetzt so häßlich sind, wo doch früher bestimmt auch ein paar von
denen hübsch gewesen waren. Sie treffen auf eine Gruppe, die stolz verkündet,
sie seien »Adel auf dem Radel« und würden von Gut zu Gut fahren. Die beiden
kontern fröhlich, sie seien »Proleten auf Raketen«. Sie werden von Polizisten
verfolgt, in einem verlassenen Dorf sogar von einem verrückten Rentner
beschossen. Sie fahren durch Wälder und Felder, der Lada pfeift auf dem letzten
Loch, sie kommen in schwere Gewitter und genießen herrliche Sonnenaufgänge.
Immer trifft Herrndorf den richtigen Ton. Die Vorbilder, auf die er sich stützt,
läßt er weit genug hinter sich. Er erzählt von unserer Gegenwart, mal poetisch,
mal komisch, oft witzig, manchmal traurig und nachdenklich. Die Dialoge sind
schlicht und trocken:
»Das Buch hieß, glaube ich, ›Der Seebär‹. Oder ›Der Seewolf‹.
Du meinst ›Steppenwolf‹. Da geht es auch um Drogen. So was liest mein Bruder.
›Steppenwolf‹ ist zufällig eine Band, sagte ich.«
Und irgendwann ist der Lada so demoliert, daß nichts mehr geht. Die Odyssee
endet im Krankenhaus, aber wohin die beiden auch kommen, sie treffen nette,
hilfsbereite, verständnisvolle Menschen. Und sie sind richtige Freunde geworden.
Herrndorf entwirft eine echte Idylle, allerdings, das macht seinen Rang aus, auf
einer sehr brüchigen Grundlage. Das Buch beginnt stark. Es endet stark. Und
dazwischen erzählt Wolfgang Herrndorf seine letzte starke Geschichte.
Sigrid
Lüdke-Haertel
Dieser Beitrag erschien zuerst im Strandgut - Kulturmagazin für das Rhein_Mein
Gebiet.
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Wolfgang Herrndorf
Tschick
Roman
Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2010
254 Seiten
16,95 €
Leseprobe
Herrndorfs Blog:
Arbeit und Struktur |