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Der lange Weg zu »Shoah«

Claude Lanzmanns »Erinnerungen«:
ein literarisches Monument

Von Wolfram Schütte

Bis zur deutschen Uraufführung seines neuneinhalbstündigen Dokumentarfilms »Shoah« im Jahre 1985 (auf dem »Internationalen Forum des jungen Films« während der Berlinale) war der 1925 in Paris geborene Claude Lanzmann diesseits des Rheins ein Unbekannter. Danach aber weltbekannt. Nur frankophile langjährige deutsche Leser von Jean-Paul Sartres Zeitschrift »Les Temps modernes« könnten dort Lanzmanns Namen  (erst als Autor, später als Mitherausgeber) zuvor begegnet sein.

Dabei hatte der (offenbar) draufgängerische Enkel nach Frankreich eingewanderter osteuropäischer Juden, nicht nur als achtzehnjähriger Schüler 1943 in Clermont-Ferrand an der Résistance gegen die Deutschen teilgenommen, sondern er war auch schon vier Jahre später zum Philosophie-Studium nach Tübingen und 1948/49 als Lektor an der »Freien Universität Berlin« nach Deutschland gekommen.

In (West-) Berlin hat Lanzmann zum Missfallen des französischen Stadtkommandanten, aber auf Wunsch seiner Studenten, ein bald darauf von diesem untersagtes Seminar über den Antisemitismus geleitet - anhand von Sartres Essay »Überlegungen zur Judenfrage». Außerdem publizierte der Fünfundzwanzigjährige einen kritischen Artikel über einen ehemaligen Nazi an der gerade neu gegründeten »Freien Universität» in der (Ost-)»Berliner Zeitung«, weil ihn keine westberliner Zeitung drucken wollte. Und als er 1950 nach Paris zurückkehrte, schrieb er für »Le Monde« eine Serie von Berichten über »Deutschland hinter dem Eisernen Vorhang«, aufgrund deren Jean-Paul Sartre den über Leibniz an der Sorbonne promovierten jungen Journalisten zur Mitarbeit an den »Temps modernes« einlud. Das war der Beginn einer langen Freundschaft; und als sie sich über Israel zerstritten, blieben beide doch bis zuletzt loyal zu einander.

Lanzmann hatte also von Jugend an mit den Deutschen & Deutschland auf vielfache Weise zu tun - bevor er, während seiner zwölfjährigen  Recherche & Arbeit an »Shoah«, die Bundesrepublik mehrfach aufsuchen musste, um dort »Willige Helfer« der »Endlösung der Judenfrage« zur Zeugenschaft ihrer Tätigkeiten subversiv zu überführen.

Bis 1970 war er (z.T. unter Pseudonym) Reporter, Essayist und Kolumnist großer französischer Zeitschriften wie »Paris-Match« und »L´Express«. Nachdem er während des Sechs-Tage-Kriegs (1967) die Wehrhaftigkeit der jungen Israelis im ersten jüdischen Staat der Moderne bewundert hatte, wechselte der Schriftsteller 1973 mit seinem ersten Film (»Pourqoi Israel«) das Darstellungsgenre. Ab 1974 schlug er den langen, mühsamen, von vielmaligem Scheitern bedrohten Weg ein, an dessen glücklichem Ende sein kinematographisches Meisterwerk stand: die imaginative Vergegenwärtigung des nazistischen Menschheitsverbrechens der »Shoah«.

Der ungläubige Jude Claude Lanzmann hatte eine metaphysische Abwesenheitsbeschwörung zustande gebracht, indem er ausschließlich heute die Orte des tätlichen Zivilisationsbruchs ebenso aufsuchte wie deren letzter überlebende Zeugen - seien sie Opfer, Täter oder Zuschauer gewesen - zum Sprechen brachte: durch seinen unzweifelhaften persönlichen Charme, seine investigativen Kenntnisse & die scheinbare Unschuld seines Fragens oder die Hartherzigkeit seines insistierenden Verlangens.

Das abenteuerliche Leben vor »Shoah« kann sich sehen lassen

Nur so: durch das unausgesprochene Tabu, kein  historisch »kontaminiertes« Bild- Material zu verwenden, wahrte Claude Lanzmanns einzigartige Recherche von »Shoah« sowohl ethisch wie ästhetisch den Respekt vor den millionenfachen Opfern des in seiner bodenlosen Bösartigkeit unvorstellbaren industriellen Verbrechens. Sein Film, an dem er allein fünf Jahre schneidend & montierend arbeitete, ist ihm (trotz seines Selbstbewusstseins) zu einem Glücksfall  geworden. Ihm nicht nur; auch für die Filmgeschichte oder die Geschichtsschreibung insgesamt ist »Shoah« ein einzigartiges Dokument der Zeugenschaft.

Der amerikanische Regisseur Steven Spielberg hat, davon angeregt, sein gigantisches Projekt verwirklicht, die Zeugen des Holocaust vor der Kamera ihre Erinnerungen an das Grauen und Verbrechen in Wort & Bild für eine Nachwelt festzuhalten, in der keine Überlebenden mehr anwesend sein werden. So entstand ein Arsenal der Oral History.

Es versteht sich gleichwohl von selbst, dass Claude Lanzmann Steven Spielbergs Spielfilm »Schindlers Liste«, wiewohl auf  historischen Dokumenten basierend, als Fiktionalisierung des Verbrechens in jeder Hinsicht inakzeptabel fand.

Obwohl »Shoah« der alles zusammenfassende Höhepunkt seines öffentlichen Lebens als Intellektueller & Künstler war, kann sich Lanzmanns Leben davor durchaus »sehen lassen«. Oft hat er es wohl im Kreis von Freunden beschworen, die ihm rieten, seine Autobiografie zu schreiben.

Spät in seinem abenteuerlichen Leben - gewissermaßen als dessen autorisiertes Resümee - hat der Achtzigjährige sich entschlossen, seine »Erinnerungen« als sein »Nachruf zu Lebzeiten« (Musil) zu diktieren. Der »Mann der Feder«, der zum Monteur filmischen Materials geworden war, verband beide Tätigkeiten seines beruflichen Lebens, indem er die seiner »Temps-Modern«-Kollegin Juliette Simont oder seiner Sekretärin Sarah Strelski in den Computer diktierten Sätze augenblicklich auf dem Bildschirm vergegenständlicht sah. Gleicht damit nicht das gesprochene Wort dem aufgenommenen Bild & Ton des Films?

Es ist jedenfalls dieser erstmals von ihm beschrittene mediale Weg, auf dem ihn - wie könnte es bei einem Homme à Femmes anders sein? - zwei Frauen begleiteten, der zu diesem unerwarteten & unvorhersehbaren literarischen Meisterwerk der modernen Selbstbiographistik geführt hat.

Claude Lanzmann, der sich nach einer Erzählung der argentinischen Schriftstellerin Silvina Ocampo »Der patagonische Hase« nennt, hat die 667 Seiten verfasst, als habe ihm einer seiner erklärten Lieblingsautoren dabei zur Seite gestanden & gelegentlich sogar seinen mitreißenden Rhythmus und seine erzählerische Verve eingehaucht. Ich jedenfalls fühlte mich bei der Lektüre des »Patagonischen Hasen« an die erotische Dynamik und das Glücksgefühl erinnert, das Stendhals Roman »Die Kartause von Parma« wie kein zweites seiner Werke provoziert.

Genauso souverän wie Stendhal mit dem ungestümen, leidenschaftlichen Leben & Lieben Fabrizio del Dongos im nachnapoleonischen Italien erzählerisch umgeht, verfährt Lanzmann mit seinem autobiografischen Erlebnismaterial. Im Großen und Ganzen geht er zwar chronologisch vor; aber in den 21 Kapiteln seines Buches lässt er  seinen Stoff jeweils episch, anekdotisch oder essayistisch um einzelne Stationen, historische Augenblicke, Personen oder Themen sich ansetzen: zu Knotenpunkten eines exemplarischen französischen Intellektuellen-Lebenslaufs in der Zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Liebe & Tod unter den »Mandarins von Paris«

»Der patagonische Hase« ist ein einziger Hymnus an das (männliche) Leben & die erotische Leidenschaft. Was immer Lanzmann von gefährlichen Aufträgen während der Résistance bis zur Recherche für »Shoah« unternommen hat: eine Frau ist immer an seiner Seite & die Liebe befeuert ihn. Besonders stolz darauf ist er, dass er als einziger ihrer Liebhaber sechs Jahre lang »eheähnlich« mit der  siebzehn Jahre älteren Simone de Beauvoir zusammengelebt hat, die er (wie Sartre) »nur »Castor« nennt - & sie ihn im Briefwechsel mit Sartre "das kleine Subjekt".

In wieweit er eine intellektuelle Liaison mit dem von ihm bewunderten Sartre einging, den er jedoch bei seinen späten linksradikalen, maoistischen, propalästinensischen Optionen nicht mehr gefolgt ist, bleibt unausgesprochen. Zumindest Lanzmanns mehrfacher Rekurs auf seine individuelle Verantwortung für Entscheidungen oder Versäumnisse seines Lebens, deutet auf eine existenzialistische Moral hin.

Geistig nahe intellektuelle französische Zeitgenossen wie Albert Camus, der gegen die Guillotine oder Jorge Semprun, der über seine Buchenwaldzeit geschrieben hat, sind in Lanzmanns »Erinnerungen« jedoch nicht präsent. Da zeigen sich dem außenstehenden deutschen Leser, wie stark doch die Querelles francaises unter den »Mandarinen von Paris« (de Beauvoir) die »Erinnerungen« ihrer Beteiligten zensieren.

Andererseits sieht sich der fünfundachtzigjährige Autor noch immer genötigt, der üblen Pariser Nachrede entgegen zu treten, »die Lanzmanns« hätten sich durch ihre erotischen Verbindungen mit der Prominenz der beiden Existenzialistenhäupter parasitären Ruhm erschlafen. Denn Claudes Schwester, die Schauspielerin Évelyne Rey, die zuerst ein tiefgreifendes Verhältnis mit Lanzmanns Studienfreund Gilles Deleuze (!) hatte, fiel dann aber - ohne dass ihr ahnungsvoller Bruder es hindern konnte - auch vorübergehend in die Hände seines erotisch wildernden Freundes Jean-Paul Sartre.

Der promiskuitive Liebes-Strudel, in den die offensichtlich hochbegabte Évelyne unter den Pariser Intellektuellen gerät, ähnelt auf verblüffende Weise den tragischen Erfahrungen, die Heinrich Mann mit den unglücklichen Liebschaften seiner Schauspielerschwester Carla erlebte. In beiden Fällen suchten die Frauen früh den Freitod. Lanzmann macht sich Vorwürfe, die labile Schwester nicht genug geschützt zu haben.

Dagegen ist ihrer beider heftig stotternde Mutter Pauline, die sich 1934 vom Vater abrupt getrennt und ihn mit den Kindern sitzen gelassen hatte, ein Ausbund an Tollkühnheit und Mut. Sie hat nur Dank ihrer brillanten Kaltblütigkeit & geistesgegenwärtigen Chuzpe in der von den Deutschen besetzten Zone Frankreichs überleben können. Der Sohn ist zurecht mächtig stolz auf sie - obwohl er von ihr eine zutiefst peinliche Anekdote erzählt: für sie & für ihn.

Der verrückte Schuhkauf  der Mutter im besetzten Paris

Sie hatte sich in den Kopf gesetzt, mit dem unter Gefahren auf ihren Wunsch hin aus der von Pétains Vichy-Regierung verwalteten  Süden heimlich nach Paris gekommenen Claude, in einem berühmten Geschäft des Zentrums Schuhe zu kaufen. Nur: keine der unzähligen, von den stöhnenden Verkäuferinnen angeschleppten Schuhe gefielen ihr, bzw. »Meine Mutter war nicht im Stande, etwas auszusuchen, sie wollte alles«. Denn, reflektiert der Philosoph seine eigene, von der Mutter ererbte »Inkompassibilität«: eine Wahl zu treffen »versagt der anderen die Existenz. Alles Wählen ist Mord«.

Der aus Scham in Panik & Wut geratene Sohn floh am Ende aus dem Geschäft, wo er seine stotternde Mutter, die ihn nicht zu Wort kommen ließ, im Kreise der ausgepackten Herrenschuhe sitzen ließ: »Sie machte mir Angst, ich schämte mich ihretwegen, und habe mich an jenem Nachmittag wie ein echter Antisemit aufgeführt (ja, in dessen, wie ich meine, widerlichsten Form, nämlich als antisemitischer Jude)«. Noch heute wirft er sich seine Feigheit vor, mit der er seine Mutter in äußerste Gefahr gebracht hatte.

Es sind zahllose solcher mit erzählerischer Verve und sinnlicher Lebendigkeit heraufbeschworener Episoden des persönlichen Lebens im Licht & Schatten der von Frankreich aus erlebten Zeitgeschichte in der zweiten Hälfte des 20.Jahrhunderts, welche den Autor als leidenschaftlichen politischen Zeitgenossen, von Frauenschönheit hingerissenen Liebhaber und als Hemigwayschen Helden uns vorführen.

Lanzmann agiert seine physische Lust am Leben, das er »wie wahnsinnig liebt«, auf alle nur möglichen Weisen aus: als Reiter, Segel- & »Phantom«-Flieger, als Bergsteiger (mit »Castor«), Taucher und Schwimmer - manchmal bis an die Grenze zum Tod. Es ist zweifellos »Ein Heldenleben«, das er vor uns in aufsteigender Linie bis zum Gipfel von »Shoah« erzählend und reflektierend entstehen lässt.

»Die Frage nach Mut und Feigheit ist der rote Faden, der dieses Buch und mein Leben durchzieht«, schreibt er einmal, wobei erwähnt sein muss, dass sich dieser »Herkules« der Tat zugleich in manchen Zuständen der Schwäche, des Versagens & der Feigheit porträtiert - aber auch als der loyale Freund Sartres, dessen öffentliche Beerdigung er organisiert und vor allem als treu sorgender Begleiter »Castors« auf ihrem schweren Weg in den Tod. Eine unabweisbare Ehrung für »Shoah« in Los Angeles hat jedoch dazu geführt, dass er dennoch in der allerletzten Stunde Simone des Beauvoirs nicht bei ihr sein konnte.

»Neben der Todesstrafe wird die Vergegenwärtigung (...) die wichtigste Angelegenheit meines Lebens gewesen sein«, resümiert Claude Lanzmann sein literarisches Selbstporträt. Denn mit einer grandiosen Ouvertüre beginnt der »patagonische Hase« seinen Zickzack-Lauf durch die Zeit.

Darin erzählt  Lanzmann, wie ihn ein frühes Kinoerlebnis mit 12 Jahren - das herabfallende Beil der Guillotine - für sein weiteres Leben traumatisierte und er danach oft schweißgebadet mitten in der Nacht als Guillotine-Opfer aus Albträumen aufwachte. Später war daraus eine psychische Störung mit dem Namen Koenästhesie geworden. Als Erwachsener stellte er sich halluzinativ & obsessiv die letzten Stunden & Minuten von zum Tode Verurteilten vor. In dem mörderischen Jahrhundert und aufgrund der weltweit verbreiteten Todesstrafe hatte Claude Lanzmanns psychisches Leiden ständig Ursachen, um auszubrechen.

Das grauenhafteste Foto der Welt

Er selbst, der sich mit den deutschen, algerischen oder spanischen Widerstands-Helden beschäftigte, suchte auf seinen Reisen Dokumentationsstätten der Tötungsbarbarei auf: z.B. »ein chinesisches Yad Vashem« in Nanking, wo 1937 die japanische Armee auf die grausamste Weise 300.000 Soldaten und Zivilisten ermordet hatte.

Am meisten aber hat ihn ein Foto im Kriegsmuseum von Canberra erschüttert. Es ist eine Aufnahme von »unerhörter Kühnheit«, weil sie sowohl den zum Enthauptungshieb ausholenden japanischen Scharfrichter wie auch das vor ihm kniende australische Opfer zeigt. In einem Brief »an seine Nächsten in Japan« erzählt der Henker »die Einzelheiten der Heldentat, wobei er die außerordentlichen Fähigkeiten herausstreicht, die er aufbieten musste und konnte, um sie zu vollbringen«.

Von solchen historischen Beispielen schlägt Lanzmann bei seinem Rundblick auf die Geschichte der Hinrichtungen einen Bogen in unsere unmittelbare Gegenwart: zu den »Amateurvideos« von Geiselhinrichtungen islamischer »Schlächter«. Sie würden jedoch in den westlichen Medien »im Namen einer zweifelhaften Moral zensiert, so dass ein bisher nie da gewesener qualitativer Sprung in der Geschichte der weltweiten Barbarei verschwiegen wurde, das Auftreten einer Mutation in der menschlichen Beziehung zum Tod«.

Es ist dieser dunkle Grundton der Angst & des gewaltsamen, grausamen Todes, gegen den Claude Lanzmann mit seiner »geradezu verrückten« Liebe zum Leben rebelliert hat. Und es war seine empathische Solidarität mit allen jenen ermordeten Opfern & seine erstaunliche Fähigkeit, sich (wie ein Dramatiker) in die Psyche ihrer Mörder hineinzuversetzen, welche ihm gestattete, sein grandioses Werk der Vergegenwärtigung der »Shoah« zustande zu bringen.

Die durch ihre Tempuswechsel geradezu dynamisch »atmende« literarische Vergegenwärtigung seines Lebens verdichtet sich fast genau in ihrer Mitte zu einer Liebesgeschichte, wie es keine zweite gibt. Es ist eine unerfüllte Liebe zwischen dem dreiunddreißigjährigen Lanzmann - Mitglied einer französischen Journalistengruppe, die als erste aus dem Westen 1958 Nordkorea besuchen durfte - und der jüngeren Krankenschwester Kim Kum-sun in Pjöngjang.

Das auf den ersten Blick einander verfallene Paar kann sich nur osmotisch durch Gesten & Blicke verständigen, ohne je zu einer intimen Zweisamkeit zu kommen. Lanzmann beschreibt seinen amour fou unter den Augen & der Beobachtung & Missbilligung aller anderen Nordkoreaner mit einer erzählerischen Wucht, dass man unmittelbar an die immer wieder verhinderte Liebe in Bunuels einstigem Skandalfilm »L´Age d´Or« denken muss.

Und um beim Surrealismus zu bleiben: die zwei einzigen  Illustrationen im »Patagonischen Hasen« sind die Reproduktionen einer Postkarte. Auf deren Vorderseite sieht man einen Tempel hinter vereisten Baumzweigen und auf ihrer Rückseite einen Brief in Koreanischer Schrift. Kim Kum-sun hat ihn ihrem verhinderten Liebhaber ein halbes Jahr später geschrieben: » Lieber Herr und großherziger Freund, der Sie für den Frieden kämpfen, ich wünsche Ihnen Gesundheit und große Erfolge in Ihrer Arbeit. Frankreich ist weit weg von meiner Heimat, aber wenn der Weltfrieden einmal gesichert ist, werden sich alle Menschen, die den Frieden lieben, treffen, ich bin mir ganz sicher«. Bis zum St. Nimmerleinstag wartet diese politische Utopie auf ihre Erfüllung. Claude Lanzmann aber hat seiner »Vorübergehenden« (Baudelaire) - »ich liebte sie, ich hätte sie geliebt, die Unendlichkeit der Möglichkeiten stand uns offen« - ein tief bewegendes Andenken bewahrt.
 

Claude Lanzmann
Der patagonische Hase
Erinnerungen.
Aus dem Französischen von Barbara Heber-Schärer, Erich Wolfgang Skwara, Claudia Steiniz. Rowohlt-Verlag Reinbek bei Hamburg 2010
682 Seiten
Personenregister, Lesebändchen
24.95 €

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