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Christoph Schlingensief, 1960-2010
Der
Worst-Case-Künstler wird uns fehlen:
Von Peter V. Brinkemper
Mit
Christoph Schlingensief verliert die deutsche Kultur einen multi-personalen
Typus des hypertheatralischen Schock-Intellektuellen, einen genialen Produzenten
subversiver Anti-Spektakel, wie er in der angepassten Medien- und
Kulturlandschaft selten anzutreffen ist. Schlingensief ist nicht der Erlöser von
den Problemen der heutigen digitalen Kulturindustrie, aber er hat in seinem bis
zuletzt spürbaren jungenhaft-naiven Drive viele Spuren ausgelegt für den
benötigten Weg aus der fortschreitenden mediokratischen Verblödung
der trägen Wohlstands- und Wellness-Gesellschaft.
Schlingensief hat für sich und für alle eine facettenreiche, aufreibende und
hingebungsvolle Gesamt-Performance gegeben; mit überhöhter Geschwindigkeit hat
er forciert von Projekt zu Projekt zwischen Passion, Provokation, Politik und
Publikum produziert, indem er die eigene und die bei anderen vorhandene Energie
gegen das System kontrollierter Konventionen und Erwartungen einsetzte, auch
gegen die vielleicht angesagten Grenzen einer gesünderen Lebensführung.
Kritische und destruktive Unbequemlichkeit war in seiner extremen
Risiko-Bereitschaft immer ein Thema, in der Authentizität des personifizierten
Ausnahmezustandes, eines auf zahlreichen Flippern parallel spielenden Sisyphos,
der an vielen Steigungen fingerschnipsend mit allem möglichen Geröll zugleich
arbeitete, es in erstaunliche Bewegung brachte und dabei spontane Einfälle und
querschießende Ideen und scheinbar schlechte Gags mitten im Worst-Case-Szenario
glücklich einfing, damit das Dysfunktionale, das Peinliche, das Verdrängte, das
Unmögliche der theatralischen Situation zwischen Kunst und Leben, der reale
Slapstick zwischen Gesellschaft und Alltag zum involvierenden Drama, zum
greifbaren und ergreifenden Prozess wurde, um das unwahrscheinliche Gelingen und
das absehbare Scheitern im tragikkomischen Sinn einer mitmenschlichen Katharsis
zu bündeln.
Seine Etablierung durch unmittelbaren Erfolg und verbürgerlichte Verhältnisse
war ihm ein Graus. Öffentlichkeitswirksame Triumphe wie sein Trashfilm „Terror
2000 - Intensivstation Deutschland“, 1992, der TV „Talk 2000“ oder die Wiener
Festspielwochen Aktion „Ausländer raus!“, 2000, waren ihm nicht genug. Aus tief
auch bei sich selbst angezweifelten Routinen und Vorgaben sollten freigesprengte
Erlebnisse, Leidenschaften, Augenblicke der erfüllten Selbsteinholung werden.
Die eigene Zerrissenheit Schlingensiefs war Außenstehenden nicht immer deutlich.
Sein Drive war auch für TV-Zuschauer zu spüren, etwa, als er in Johannes B.
Kerners Abschieds-Sendung von SAT1 1996, bevor dieser zum ZDF wechselte, die
Talkshow-Regie der vorgeführten Sozialcharaktere im Happening-Modus
durcheinander wirbelte. Harald Schmidt sagte in „Talk 2000“ warnend zum und über
Kurzzeit-Gastgeber Schlingensief: „>Ich kann nicht< liegt auf dem Friedhof und
>Ich will nicht< liegt daneben.“ Aktionist und Autor, dekonstruktiver Film- und
Theater-Regisseur, Schauspieler und Street-Actor, pan-mimetischer Provokateur
mit einer oft verwirrenden Art, Kunst und Rezeption, Planung und Chaos, Drehbuch
und Einfall, Entlarvung und Befreiung miteinander zu verquirlen.
In dem 1998 gegebenen 3Sat-Interview erläutert Christoph Schlingensief in einer
Anekdote, wie er als junger Ministrant, unter dem Gelächter seiner amüsierten
Mutter, beim Gottesdienst alles mögliche falsch machte. Der Pfarrer duckte ihn
hinterher vor dem Altar, Christoph bekam Angst, der Geistliche meinte nur, er
solle, vor Gott, immer den Diener machen und ansonsten für sich selbst davon
ausgehen: Egal, was du
falsch machst in deinem Leben, egal welchen Fehler, eines steht fest: Der Papst
bleibt bei seinem Glauben. Schlingensiefs Strategie der
Fusion: von Happening und Dramatisierung, von riskanter Enthemmung und oft auch
bedrückender Angstbewältigung, von Inspiration und Verletzung haben also
infantil-religiöse Wurzeln. Sie sind eine Art intellektuell versteckter
Schamanismus, ein negativer, später ins Ungläubig-Nihilistische,
Ketzerisch-Aufrüherische, Weltlich-Politische, Künstlerisch-Terroristische oder
Pazifizierend-Buddhistische gedrehter überkonfessioneller Kultur-Gottesdienst,
eine Religions-Zaubershow im irritierenden Kirmes-Format einer ungedeckten
Selbstermächtigung im manischem Vollblutcharakter auf Zeit. Die Zumutung einer
Art Mega-Therapeutikum mit einer fast heilsgeschichtlichen Katharsis, die alle
aus ihren egoistischen Alltagskokons und dem parzellierten Kulturkonsum
herausholt, und sie ans Kreuz der Ungewissheit schlägt, zwischen Hoch und
Niedrig, Pure and Dirty in der divergenten Gesamt-Kunst, bis es sie erwischt
hat. So viel Zauberlehrling, so viel absichtlicher Kontrollentzug auf der
rationalen Ebene, so viel arbeitsintensive Improvisationswut im Emotiven,
verbunden mit bisweilen nervig-gewaltsamer Leidenschaft - bis hin zur
langwierigen kämpferischen Umbiegung von Wagners hybridem kunstreligiösem
Spätwerk „Parsifal“ in Bayreuth (2004-7) zur multimedialen Bühne mit nomadischen
Figuren – das musste auch eine spezielle Form des Martyriums, eine
Medien-Kultur-Folter sein. Auch zu einer Zeit, als dies noch nicht in der
Öffentlichkeit richtig erkannt war.
„Toleranz“ war für Schlingensief nicht nur ein moralischer Begriff, vor allem
kein Phänomen fragloser Unschuld, sondern ein katastrophen-technisches Modell
für den Testfall, also für den kritischen Punkt, an dem die Komponenten einer
vorgegebenen Einheit zwischen Individuum und Umwelt, Kunst und Leben gerade noch
zusammenhalten oder schon auseinander gerissen und umgerodet werden. Als der
längst an Krebs erkrankte Schlingensief als Berlinale-Jury-2009-Mitglied sich
Kokoschkas Adenauer-Porträt in den Berliner Amtsgemächern der einladenden
Kanzlerin Angela Merkel näherte, soll diese gesagt haben: „Bitte nicht berühren.
Sie wollen das ja sicher kaputt machen.“ Das Gespür für diesen Zerreißpunkt war
ein Siegel für die Qualität eines messerscharf anzweifelnden Denkers, Menschen
und Künstlers, der sich nicht scheute, sich in seinen oft schulbubenartigen
Eskapaden wie ein Ruhrpott-Malocher unter Tage selbst zu zerreißen:
„Wir sind nicht so stabil, wie uns
dieser Globalismus oder diese Gesellschaft uns permanent erzählt. Wir sind nicht
so stabil.“ Seine
Devise: „Wer seine Wunde zeigt, wird geheilt“ steht völlig quer zur PR-Botox-Society. Neben Beuys und etwas weiter weg von Fitzcarraldo wird
Schlingensief auf einer Ruß-Wolke durch den Himmel des erweiterten
Kunstbegriffes surfen und alles andere als das langweilige Harfenspiel der
zeitgenössischen Arschkriecher betreiben. Christoph Schlingensief starb am 21.
August 2010.
Die Familie bittet um Spenden für das Projekt Festspielhaus bzw. Operndorf
Afrika.
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