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»Die
deutsche Bildungskatastrophe« Über 13.000 Stunden ihres Lebens verbringen Gymnasiasten hierzulande auf der Schulbank, hinzu kommen noch einmal geschätzte 7000 Stunden an Hausaufgaben und anderen schulischen Verpflichtungen. Vielfach damit verbunden sind Prüfungsstress, Dauerbelastung und hohe Frustration bei Schülern, Eltern und Lehrern. Doch was ist das Resultat dieses gewaltigen Aufwandes an Steuermitteln, Zeit und Mühen? Welche Bildungserfolge erreicht überhaupt das deutsche Schulsystem, die zentrale Sozialisationsinstanz einer schrumpfenden Nation, die außer Wissen keine strategische Ressource aufweisen kann? Folgt man dem Psychologen und Bildungsforscher Thomas Städtler, ist das Ergebnis jahrlanger Bildungsanstrengungen an deutschen Schulen trotz pausenloser Reformansätze ernüchternd und deprimierend. Allenfalls eine leicht verbesserte allgemeine Sprach und Denkfähigkeit ließe sich konstatieren. Die zentrale These seines Buches über die deutsche Bildungsmisere lautet daher: Vor der Herstellung eines garantierten Bildungsminimums für alle versage die Schule kläglich. „Die absurde Idee, aus normalen Kindern und Jugendlichen wahrhaftige geistige Giganten zu machen, die, wenn sie alle gymnasialen Lernziele erreichten, eine Allgemeinbildung besäßen, um die sie ein Leibnitz oder Humboldt beneidet hätte, schlägt ins Gegenteil um.“ Von den theoretisch überfrachteten Lehrplänen deutscher Schulbehörden bleibt bei den später im Berufsleben stehenden Erwachsenen nur ein verschwindend geringer Teil übrig. Städler schätzt das nachhaltige Wissensresiduum im Durchschnitt sogar nur auf höchstens 1 Prozent des Lernstoffes und erläutert sein alarmierendes Resümee: „Man mag darüber streiten, ob meine 1 Prozent-Hypothese zutrifft, wer Wissensfetzen, meist holprig formulierte einzelne Schlagwörter und weitgehend leere Phrasen als Wissen bezeichnen will, mag auch von 5 Prozent verbleibenden Stoffes ausgehen.“ Zur Untermauerung seiner provozierenden These kann der Verfasser auf eine Fülle von Tests mit Erwachsenen und Erwerbstätigen verweisen, deren Resultate er mit dem Satz kommentiert: „Um eine Versagensquote bis zu 90 Prozent zu erreichen, genügt elementarer Hauptschulstoff.“ Wiche man auch noch von der üblicherweise praktizierten Multiple Choice -Methode ab, ergäbe sich etwa für den gesamten Gymnasialstoff von der 5. bis zur 12/13. Klasse ein noch verheerenderes Ergebnis. Würde man, so Städler, ehemaligen Gymnasiasten die Fragen so konkret stellen, dass zu ihrer Beantwortung auch ein „wenig Verständnis“ notwendig wäre, lägen die Versagensquoten vermutlich bei 95 bis sogar 100 Prozent. Schon bei minimalen Anforderungen ließen sich so maximale Defizite offen legen, erklärt Städler und vergleicht seinen Testansatz, den er Minimax-Prinzip nennt, mit der technischen Prüfung eines Automobiles. Ein Auto, bei dem Bremsen und Motor nicht funktionierten, sei bereits vollkommen „falsifiziert“. Es brauche nicht weiter untersucht zu werden. Schuld an dem Wissensdesaster sei in erster Linie ein System, das Schüler zwingt, den Schulstoff auf den Prüfungszeitpunkt genau präsent zu haben, um ihn dann sofort wieder zu vergessen. Anders wäre es für die Mehrheit gar nicht möglich, den nächsten Stoff aufzunehmen, der mit dem zuvor durchgenommenen oft gar nichts zu tun hat. Hier ließe sich, so Städler, sogar von Bulimie-Lernen sprechen: Der Lehrstoff wird hastig und schlecht gekaut herunter geschluckt und für die Prüfungen weitgehend unverdaut wieder erbrochen. Das Selbstbild der Gesellschaft als Wissensgesellschaft erweist sich somit ebenso wie ihr Wissensideal als „hochstaplerisch“. Damit gelangt Städtler zu dem zentralen Paradox seiner Studie: Erstens sei diese Gesellschaft „viel dümmer, als sie glaubt“, zweitens aber funktioniere sie dennoch ziemlich gut und zwar viel besser als sie eigentlich angesichts ihres ängstlich gehüteten Bildungsmythos funktionieren dürfe. Wie ist das möglich? Eine Antwort darauf könnte lauten: Für relevantes und lebenspraktisches Wissen sorgen nach wie vor andere Institutionen wie Universitäten und Betriebe. Schulisches Wissen in seiner jetzigen „verkopften und oft theoretisierten Form“ ist dagegen für die Praxis vollkommen ungeeignet, ja sogar überflüssig. Das „auf absurde Weise hoch gezüchtete Wissen- und Bildungsideal“ bundesdeutscher Schulbehörden erreichen nur wenige Prozent der Schüler, der Rest täuscht mit enormem Fleiß Wissen vor. So sei etwa historische Bildung außerhalb der Fachwissenschaft ein „Phantom“. Fast jeder befragte Normalbürger scheitere schon an den einfachsten Aufgaben, ganz zu schweigen von einem breiter angelegten Verständnis historischer Zusammenhänge. Dasselbe lässt sich analog für biologische, physikalische und geographische Fragestellungen ermitteln. Gleichzeitig verlässt die große Mehrheit der jungen Menschen die Schule als „ökonomische Analphabeten.“ Eine Gesellschaft aber, die derart ökonomisiert und zugleich in ihrer Mehrzahl ökonomisch so ahnungslos sei, habe, so spottet Städler, etwas Faszinierendes und Groteskes. In ihrer jetzigen Form indes, und dies ist Städlers Haupteinwand, verhindere die Schule sogar weitgehend die Aneignung eines elementaren und fundamentalen Wissensfundus, den Menschen und Staatsbürger nach seiner Ansicht in ihrer täglichen Praxis gleichwohl benötigten, um die Geschehnisse in der Welt wenigstens halbwegs zu verstehen und zu bewerten. Versagte etwa das Gesundheitssystem auf dieselbe Weise wie das deutsche Schulsystem, dann wäre es normal, wenn 50 Prozent der Säuglinge stürben und die allgemeine Lebenserwartung kaum über 45 Jahre reichte, da die meisten Menschen wie in vormodernen Zeiten allen erdenklichen Infektionskrankheiten erliegen würden. Die Schule verschwendet Zeit, Geduld und den guten Willen ihrer Schüler, in dem sie utopische Ziele zu erreichen versucht. Niemand hat sie bisher ernsthaft in Frage gestellt. Ohne wohlfeile Polemik gegen ein überfordertes und überforderndes System plädiert der Verfasser für ein Bildungsminimum, das die Schule mit ihren eingeschränkten Mitteln tatsächlich noch einer breiten Schicht von Schülern zuverlässig vermitteln kann. Aus seiner Sicht aber ist dies nicht möglich, ohne die bisherigen ambitionierten Lehrpläne um glatte 90 Prozent zu reduzieren. Es sollte nur noch „Elementares und Fundamentales“ vermittelt werden. Was das sein könnte, versucht der Verfasser auf Dutzenden von Seiten zu erläutern, indem er die schulische Wissenslandschaft neu absteckt. Sein Buch ist hier nicht ohne Unterhaltungswert, da Städtler immer wieder den Leser auffordert, sein eigenes Wissen an Hand der vielfältigen Fragestellungen selbst zu überprüfen. Auf Dauer wirkt das vielleicht oberlehrerhaft. Ist es nun aber tatsächlich so, dass alle Schulen zugleich an dieser Aufgabe scheitern? Gibt es denn nicht bereits Schulen, die in die angegebene Richtung marschieren? Ist es wirklich der breiten Masse von Generationen bisher verborgen geblieben, dass ihnen der Schulbesuch im Grunde nichts gebracht hat? Warum wurde diese Einsicht, die doch millionenfach vorliegen müsste, nicht längst artikuliert? Hat es vielleicht etwas mit einer tradierten Ehrfurcht vor der ehrwürdigen Institution Schule zu tun oder verweigern sich viele schlicht der peinlichen Einsicht, neun Jahre ihrer Jugend einfach nutzlos vertan zu haben und gleiches nun ihren Kindern zuzumuten? Den präzisen empirischen Beleg für seine Thesen muss Städtler allerdings schuldig bleiben, seine 1 Prozent-Hypothese versteht er lediglich als „quantitative Metapher“ und hofft, mit seinem Streifzug durch die deutsche Wissenslandschaft seine Aussagen wenigstens hochplausibel gemacht zu haben. Konsequent zu Ende gedacht erscheint sein Ansatz jedoch nicht. Weshalb überhaupt noch Nebenfächer an den Schulen, könnte man fragen? Wäre nicht eine Beschränkung auf Deutsch, Mathematik und Englisch die naheliegendste Lösung in der gegenwärtigen Bildungsmisere? Städtler scheint das auch einzuräumen, wenn er anmerkt, dass es außerhalb der genannten Fächer kein wirklich kanonisches Wissen gibt. Doch die Aussichten auf eine tatsächliche Remedur sind eher gering. Denn es müssten dafür nicht nur die Lehrpläne radikal geändert, sondern auch eine grundsätzliche Reform der Lehrerausbildung in Angriff genommen werden, ganz zu schweigen von dem hohen Bedarf an beruflicher Fortbildung für die bereits in der Pflicht stehende Lehrerschaft.
Bis dahin aber dürfte sich
die deutsche Bildungslokomotive, betrieben mit ideologischem Dampf, auf ihrem
toten Gleis fortquälen und unter gigantischer Verschwendung von Ressourcen, Zeit
und Chancen weiteren Generationen von Schülern das Leben oft unerträglich
machen. Völlig zu Recht spricht Städtler von der „deutschen
Bildungskatastrophe.“ Sein Buch muss man einfach gelesen haben.
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Thomas Städtler |
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