Impressum  І   Mediadaten 

suche diese Seite web
site search by freefind



Glanz&Elend Magazin für Literatur und Zeitkritik

Anzeige
Versandkostenfrei bestellen!

Die menschliche Komödie
als work in progress


Ein großformatiger Broschurband
in limitierter Auflage von 1.000 Exemplaren
mit 176 Seiten, die es in sich haben.

 

Home  Termine  Literatur  Blutige Ernte  Sachbuch  Quellen   Politik  Geschichte  Philosophie  Zeitkritik  Bilderbuch  Comics  Filme  Preisrätsel  Das Beste



Bücher & Themen


Jazz aus der Tube
Bücher, CDs, DVDs & Links

Schiffsmeldungen & Links
Bücher-Charts l Verlage A-Z
Medien- & Literatur l Museen im Internet

Weitere Sachgebiete
Tonträger, SF & Fantasy, Autoren
Verlage


Glanz & Elend empfiehlt:
20 Bücher mit Qualitätsgarantie


Klassiker-Archiv
Übersicht
Shakespeare Heute, Shakespeare Stücke, Goethes Werther, Goethes Faust I, Eckermann, Schiller, Schopenhauer, Kant, von Knigge, Büchner, Marx, Nietzsche, Kafka, Schnitzler, Kraus, Mühsam, Simmel, Tucholsky
, Samuel Beckett

Berserker und Verschwender
Honoré de Balzac
Balzacs Vorrede zur Menschlichen Komödie
Die Neuausgabe seiner
»schönsten Romane und Erzählungen», über eine ungewöhnliche Erregung seines Verlegers Daniel Keel und die grandiose Balzac-Biographie von Johannes Willms.
Leben und Werk
Essays und Zeugnisse mit einem Repertorium der wichtigsten Romanfiguren.
Hugo von Hofmannsthal über Balzac
»... die größte, substantiellste schöpferische Phantasie, die seit Shakespeare da war.»

Anzeige
Edition Glanz & Elend

Martin Brandes

Herr Wu lacht
Chinesische Geschichten
und der Unsinn des Reisens
Leseprobe

Andere Seiten
Quality Report Magazin für Produktkultur
Elfriede Jelinek Elfriede Jelinek
Joe Bauers
Flaneursalon
Gregor Keuschnig
Begleitschreiben
Armin Abmeiers
Tolle Hefte
Curt Linzers
Zeitgenössische Malerei
Goedart Palms Virtuelle Texbaustelle
Reiner Stachs Franz Kafka
counterpunch
»We've got all the right enemies.»



Seitwert


Ende oder Wiederkehr der Landschaft?

Die verheerenden Folgen des Raubbaus an der Natur durch den Menschen führt der Fotograf Alex MacLean eindrucksvoll vor Augen. Seine Luftaufnahmen von Venedig und Las Vegas sollten Mahnung genug sein, um endlich den Lebensstil der Moderne in Frage zu stellen und nach einer Versöhnung von Mensch und Natur zu suchen.


Von Thomas Hummitzsch

Jede Zeit hat ihr geistiges Zentrum. Babel, Athen, Rom, Paris – sie alle sind historische Stätten von Weltbedeutung. Gibt es eine solche Verortung des Zeitgeists auch noch in der Zeit der Globalisierung? Glaubt man dem Philosophen Wolfgang Scheppe, dann heißt dieser Ort, dem die Globalisierung wie nirgendwo sonst ihren Stempel aufdrückt, Venedig. 2009 zeigte Scheppe im Rahmen des epochalen Projektes Migropolis, wie die Stadt Stück für Stück unter die Räder der Globalisierungsphänomene gerät. Venedig ist zur Kulisse einer Inszenierung geworden. Touristenmassen überlaufen die Lagunenstadt, während die Bewohner Venedig in Scharen den Rücken kehren. Die Festung Europa hat ihre Zäune hochgezogen, während dahinter der Bedarf an Billigkräften zur Bespaßung der Reisenden steigt. Die historischen Mauern der Stadt werden zum Blendwerk einer nicht mehr existenten Authentizität. Venedig ist zu einer Ikone des klassischen Europa verkommen, die nur noch von ihrem Ruf, jedoch nicht mehr von der Realität profitiert. Und wenn Donna Leon ihren Commissario Brunetti mit Gondel in historisch aufgeladener Atmosphäre ermitteln lässt oder der deutsche Starregisseur Florian Henckel von Donnersmark seinen aktuellen Film The Tourist zu weiten Teilen in Venedig spielen lässt, dann ist das nur ein Beleg dafür, dass die Stadt immer noch von ihrer historischen Mythologie profitiert. Fast wunder man sich darüber, dass WikiLeaks-Gründer Julian Assange in London und nicht in Venedig festgenommen wurde.

Dieser Mythos aber ist fragil, Venedig droht täglich im Meer zu versinken. Die historische Begradigung der Kanäle in der Lagune und damit einhergehend ihr langsames und stetiges Kippen aus dem ökologischen Gleichgewicht, die Vertiefung der Wasserstraßen zugunsten der Befahrung mit riesigen Kreuzfahrtschiffen der vergangenen Jahre sowie der steigende Meeresspiegel bringen die Stadt an den Rand eines absehbaren Untergangs. Ein gigantisches Dammprojekt namens M.O.S.E. soll die Stadt vor der Überflutung bewahren.

In seiner Abhängigkeit vom Wasser hat Venedig eine Partnerstadt, die das komplette Gegenteil darstellt. Las Vegas, die Ikone der „Sin City“ droht ebenfalls unter den Touristenmassen zu kollabieren. Das täglich aufgeführte Spektakel inmitten der Wüste verschlingt die ohnehin schon knappen Wasserressourcen. In dieser Konstellation stellen beide Städte „diametrale Außenposten der Urbanistik“ dar, denen der selbst verschuldete Untergang droht.

Einen Vergleich dieser beiden Städte hat 2009 der Fotograf Alex MacLean angestellt. Dabei zeigt er nicht nur eine bis dato kaum wahrgenommene Parallelität der Stadt- und Landschaftsstrukturen auf, sondern macht auch deutlich, wie ähnlich in beiden Ökoregionen Raubbau an den vorhandenen Ressourcen betrieben wurde. Noch nie war die ökologische Katastrophe der Metropolen Venedig und Las Vergas derart greifbar und begreifbar, wie auf den nun vorliegenden, beeindruckenden Luftaufnahmen. Für seinen Bildband OVER. Der American Way of Life oder Das Ende der Landschaft erhielt der amerikanische Pilot und Fotograf Alex MacLean 2009 den internationalen Buchpreis Corine. Seine soziologisch-ökologisch unterfütterten Fotografien gehören zu den derzeit interessantesten weltweit. Gleich zwei Bildbände rücken seine neuen Aufnahmen erneut in den Mittelpunkt der Betrachtung.

Am stärksten geschieht dies im Band Las Vegas – Venedig. Fragile Mythen. Nach einer sprachlich und analytisch grandiosen Einführung durch Wolfgang Kemp, die zugleich auch ein intellektuelles Lesevergnügen darstellt, kann man die sichtbaren Zeichen des drohenden Untergangs beider Städte auf 150 Seiten nachvollziehen. Kemps Einführung stellt die Grundlage eines vertieften Verständnisses der Bilder dar, indem sie zu einer historischen Einordnung der aktuellen Situation führt. Denn sowohl Venedigs als auch Las Vegas’ ökologische Misere hat historische Ursachen. Die Stadt im Wasser erhielt immer wieder den Ruf, eine Keimschleuder zu sein, auch die Trockenlegung der Lagune zugunsten landwirtschaftlicher Nutzflächen wurde immer wieder diskutiert. Entscheidend war aber die Angst vor der Versandung der Lagune, die Begradigung und Vertiefung der Kanäle war die nahe liegende Lösung. Diese Geschichte hat im Natur- und Kulturraum Venedig tiefe Spuren hinterlassen.

Gleiches gilt für Las Vegas, der vor 105 Jahren gegründeten Stadt, die inmitten der Wüste von Anfang vor das Problem der Wasserversorgung gestellt war. Die Stauung des Colorado-Flusses mittels des gigantischen Hoover-Staudamms war die Lösung. Doch das rasante Wachstum der Bevölkerung und die idiotischen Träume der Gründung einer grünen Oase mit Golfplätzen und noblen Seegrundstücken in der Wüste hat dazu geführt, dass das Wasserreservoir längst nicht mehr ausreicht. Ein gigantischer, 30 Meter breiter „Badewannenrand“, ein kalkweißer Verdunstungsstreifen an den Ufern des Stausees, ist sichtbarstes Zeichen dieses Raubbaus. Die subtileren Anzeichen sind die in der Luft schwebende Wasserentnahmeanlage, eine auf ausgetrocknetes Sumpfgebiet führende Bootsrampe oder der weit über dem Wasserpegel mündende Entlastungstunnel des Stausees. Anschließend folgen die zahlreichen Fotos, die den menschlichen Raubbau an den ohnehin knappen Ressourcen der Ökoregion Mojave-Wüste zeigen: Die Anlage des Lake Las Vegas zugunsten irrsinniger Spekulationsimmobilien mit toskanischen Landvillen, die Zerstörung der einstmals funktionierenden Ökolandschaft Wüste für nie genutztes Bauland oder die Anlage saftig grüner Golflandschaften unter der brütenden Sonne. Die über die Wüste gelegten Erschließungsraster für Spekulationsgrundstücke oder die über die Jahre zurückgelassenen Fahrspuren wilder Wüstenausflüge, die wie Buzz Aldrins Fußabdruck auf dem Mond auf ewig den Wüstenboden zerschneiden, machen die zeitlose Fatalität des menschlichen Wirkens in dieser Region deutlich.

Im Zentrum von Las Vegas gewinnt die Parallelität zwischen der amerikanischen Wüstenstadt und der italienischen Wasserstadt ein konkretes Bild. Die gewaltige Hotelanlage The Venetian kopiert Venedigs ikonische Gebäude, wenn auch in anderer Anordnung. Dieser Themenpark ist ein Potpourri an Zitaten der europäischen Kulturgeschichte ohne Anspruch auf Authentizität. Nichts macht dies deutlicher, als folgende Aussage des Bauherrn: „Wir werden kein falsches Venedig bauen. Was wir bauen, ist essentiell das wahre Venedig. Was wir hier haben, ist die Romantik von Venedig, gekreuzt mit dem Luxus von Beverly Hills und den Reizen von Las Vegas.“ Es ist eine eigene Originalität – originale Kopiertheit – die hier deutlich wird und global Nachahmung findet. Zum Beispiel bei der Errichtung des Venetian Macao 2007, als man auf der Projektwebsite lesen konnte: „Bringing the charme of Venice and the glamour of Las Vegas to Macao.“ Rückte hier Las Vegas schon an die Seite von Venedig als nachzuahmende Stadtikone, löst die künstliche Wüstenmetropole Venedig in dieser Funktion inzwischen ab. Denn Dubai plant einen Las Vegas Strip. Sollte dort Venedig vorkommen, dann nur als Zitat des Zitats. Sperrige Originalität ist nicht gewünscht.

Venedigs Bauweise hat keiner besser beschrieben als John Ruskin. In seiner Studie der venezianischen Architektur The Stones of Venice sieht Wolfgang Kemp auch eine direkte Vorläuferanalyse zu MacLeans Venedig-Aufnahmen. Ruskins zwischen 1851 und 1853 entstandene Studie in Bild und Schrift ist heute nur noch wenigen Experten sowie Studenten der Kunstgeschichte und Architektur ein Begriff. Noch viel weniger die mehr als 1.200 Seiten umfassenden Notizbücher, die die Grundlage seiner Untersuchung darstellen. Insofern ist Wolfgang Scheppes DONE.BOOK von doppelter Relevanz. Denn darin zeigt er nicht nur Auszüge aus diesen Notizbüchern, sondern stellt diesen noch nie veröffentlichte, historische Fotografien aus dem Privatarchiv von Alvio Gavagnin, einem ambitionierten Hobbyfotografen aus der venezianischen Arbeiterschicht, gegenüber. Die vorwiegend aus den siebziger und achtziger Jahren stammenden Fotografien wirken teilweise wie ein Kommentar auf MacLeans Aufnahmen des Kulturraums Venedig, weil sie ebenso wenig wie die Bilder des Amerikaners die touristischen Hot Spots ins Zentrum rücken. Sie präsentieren aber auch kein Panorama wie MacLean, sondern Details, Randphänomene und übersehbare Petitessen. Über die Gegenüberstellung von Detailskizzen Ruskins und Detailaufnahmen Gavagnins gelingt es Scheppe, die dort fixierte Zeitlosigkeit der venezianischen Architektur zu dokumentieren. Dieses Picturing the City of Society, also das Bebildern der Ruskin’schen Stadt der Gesellschaft, ist der historische Kommentar zu Scheppes Migropolis-Projekt – weit ausholend und tiefsinnig, dabei aber auch weniger leicht zugänglich.

Gavagnins Schwarz-Weiß-Aufnahmen machen aber deutlich, von welchem Mythos Wolfgang Kemp in seiner Einführung erzählt und auf den sich das moderne Venedig mit dem Aufbau und der Sanierung des Historischen immer wieder verzweifelt beruft. Angesichts zahlloser solcher Wiederaufbauprojekte mache es den Anschein, als habe „das imaginäre Venedig des Mythos die Hegemonie über die Steinerne Stadt des Alltags errungen“, wie Kemp schreibt. Wie sich dies konkret zeigt, demonstrierte Scheppes fast 1.400 Seiten dicker Band besser, denn er erlaubte sich dreist das verlieren in den zahlreichen Situations- und Detailaufnahmen, Statistiken und Einzelfällen – wie der Mensch in der globalisierten Welt. MacLeans Ansatz, den historisch zu erklärenden Raubbau Venedigs panoramisch und aus der Luft gesehen einzufangen, kann dies in der Form nicht leisten. Seine Venedig-Aufnahmen können dies nicht so überzeugend aufzeigen, wie es die Fotografien aus der Mojave-Wüste vermögen. Ihnen fehlt die den Las Vegas Bildern inhärente Chronologie bzw. die Ursache-Wirkung-Reihung, jedoch ohne dass sie für sich betrachtet etwas von ihrer Faszination verlieren.

Das Projekt, Venedig und Las Vegas aus der Luft zu fotografieren, entstand 2009 nach einem Auftrag durch die Berliner Akademie der Künste. Die Kuratorin der 2010 gezeigten Ausstellung Wiederkehr der Landschaft Donata Valentien beauftragte den Amerikaner, Bilder zur Zerstörung der menschlichen Lebensgrundlagen zu liefern. Der Ausstellungsband nimmt seine Fotografien zum Anlass, zum einen die Ursachen des Raubbaus genauer zu untersuchen und zum anderen, nach Lösungsmöglichkeiten aus dem Dilemma des verheerenden Lebensstils der Moderne zu suchen. Aus unterschiedlichen Blickwinkeln – sozial, architektonisch, ökologisch, künstlerisch, entwicklungstechnisch u.v.m. – nähern sich darin verschiedene Autoren der Problematik nach der Zukunft der Stadt. Insofern ist der Band ein intellektuelles Update der notwendigen gesellschaftlichen Debatten. Dabei sind die Autoren durchaus zeitkritisch, etwa wenn die Kuratorin in ihrem Vorwort die folgenlosen Absichtserklärungen der politischen Klasse kritisiert, während die Menschen die Notwendigkeit von Einschnitten und Beschränkungen längst eingesehen hätten. Zwar kann man an der Allgemeingültigkeit dieser Aussage Zweifel haben, was die geäußerte Kritik jedoch um keinen Deut schmälert. Valentien ist nicht die einzige der Autoren, die eine solche Kritik am Zeitgeist äußern. Insofern belegt der Band auch die Gegenwartsorientierung der Kunst- und Architekturszene unserer Zeit.

Um die ikonische Bedeutung von Las Vegas und Venedig im Zusammenhang einer weitergehenden Debatte um den Lebensstil der Moderne deutlich zu machen, soll hier noch einmal die Kuratorin der Ausstellung zu Wort kommen: „Beide Städte liegen in zersiedeltem, zerschnittenem und hoch belastetem Umland, beide haben existenzielle wirtschaftliche und ökologische Probleme, beide eine ungewisse Zukunft. Und beide suchen ihr Heil in bekannten Rezepten, im Wachstum zur Lösung der wirtschaftlichen Probleme und in Erfindungen der Ingenieurskunst, um der Umweltprobleme Herr zu werden.“ Vor dem Hintergrund dieser Analyse, in der sich die Abgründe der neoliberalen Globalisierung bündeln, sind beide Städte als ikonische Vertreter der sich weltweit durchsetzenden Siedlungsform des Urbanen zu verstehen – auch und erst recht in ihrer künstlichen Themenpark-Gestalt. Las Vegas und Venedig, beide sind mehr Inszenierung als Realität und stehen damit ebenso exemplarisch für die in Asien und im Mittleren Osten entstehenden Millionenmetropolen, wie für die schon erfolgreichen Weltstädte.

Die Zähmung und Inszenierung der Natur zum Zwecke des menschlichen Amüsements hat historische Vorläufer, so etwa im malerischen Rheintal, wie David Blackburn in der Begradigung des Rheinverlaufs durch Johann Tulla zeigt. Das Ganze ergibt dann „Natur nett verpackt und leicht konsumierbar“ – eine Inszenierung? In diese und andere Landschaften sind Städte eingebettet und insbesondere Las Vegas und Venedig, die als Metropolen in eine siedlungsfeindliche Natur gezwungen sind, sind in ihrer Bedeutung ohne ihre jeweilige hosting region nicht denkbar. Insofern sind Städte mehr als nur ein Konglomerat von Behausung und Verkehrswegen, sondern sie sind im Sinne Thomas von Aquins auch Klima, Luft, Wasser, Boden und vor allem das Resultat des Strebens nach natürlicher Anmut als Lebensnotwendigkeit. „Denn ohne eine gewisse Schönheit kann das Leben des Menschen nicht lange bestehen.“

Was aber ist Landschaft, von dessen Wiederkehr Ausstellung und Band erzählen wollen, wenn dies alles schon Stadt ist? Was bleibt dann noch? Diese Frage ist Ausgangspunkt der begrifflichen Auseinandersetzung von Brigitte Wormbs. „Fragt man mich, was Landschaft ist, so weiß ich es nicht. Fragt man mich nicht, so weiß ich es“, stellt sie eingangs Russell’sch fest, um dann anhand der Landschaftskonzepte von Humboldt, Praz, Blumenberg, Marx, Benjamin, Negt und Kluge den Landschaftsbegriff als Kulturlandschaft zu fixieren, die inzwischen insbesondere eines sei: Das Produkt einer „physisch-räumlichen Gegenstandswelt, die sich immer mehr als ungeheure Warensammlung präsentiert, bestimmt vor allem von der Unsichtbaren Macht des Geldes, die alles Sichtbare verwandelt.“

Geld ist auch der Grund, den Thomas Sievert für das rasante Wachstum einer Siedlungsform verantwortlich macht, die er „Zwischenstadt“ nennt. Darunter fasst er das „von der Kernstadt emanzipierte Suburbia“, die gepflegten Vorstadtsiedlungen mit Stichstraßen für den individuellen Zugang, wie sie MacLean rund um den Lake Las Vegas fotografiert hat. Sievert vergisst jedoch, dass zu diesem Suburbia auch die gigantischen Favelas, Bantustans und Banlieues gehören. Die Entstehung der Zwischenstadt ist das Drängen der Gutbetuchten in die Weite des Raums, um dem Moloch Stadt zu entgehen, und das Verdrängen der „störenden Bevölkerungsschichten“ durch die Gutbetuchten an den Rand. Die Pariser Stadtstruktur ist ein Paradebeispiel dieser Prozesse. Korrekt ist aber Sieverts Feststellung, die Zwischenstadt sei „in ökologischer Sicht eher problematisch: Der Anteil an Infrastrukturnetzen pro Einwohner ist hoch, deren Zerschneidungswirkungen ökologisch ungünstig und ein öffentlicher Nahverkehr mit großen Fahrzeugen ist kaum zu organisieren.“ Denn um diese Schwierigkeiten zu überwinden, müssen weitere Ressourcen verbrannt werden. Aber dennoch boomt diese Zwischenstadt, meint Sievert, weil sie Freiraum bietet, unbebaute Fläche vorhält und damit Luft zum Atmen gibt.

Jörg Siewecke würde dem nur bedingt zustimmen. Natürlich führt die Schaffung von Freiraum und die Entstehung von natürlichen Rückzugsgebieten in der Stadt zur Versöhnung von Mensch und Natur, wie er sie dringend für erforderlich hält, um Stadtarchitektur und Stadtplanung zukunftsfähig zu gestalten. Aber die miserable Ökobilanz der „emanzipierten Suburbia“ muss in seiner Lesart zu ihrem Scheitern führen. MacLeans Fotografien aus der Mojave-Wüste stützen diese Annahme. Die Kulturlandschaft der Zukunft muss sich in Sieweckes Augen an historischen Vorgängern orientieren, um 1. Fließende Übergänge und Mischformen von Stadt und Land zuzulassen, 2. Infrastrukturen an den natürlichen Zyklen auszurichten und 3. Natur auch wieder als selbst schaffend und werdend wahr- und anzunehmen.

Dies muss dann natürlich ein gesellschaftliches Umdenken zur Folge haben, bei dem Lebensstile überprüft und Konsumverhalten korrigiert werden. Statt Klimaforschern, Ingenieuren und Ökonomen müssen daher endlich auch Soziologen, Architekten, Stadtplaner und Kulturwissenschaftler über den Klimawandel debattieren und die dringend notwendige soziokulturelle Debatte aufnehmen, die diesem Umdenken ihre sozio-philosophische Basis verleiht.

Für die Kulturlandschaft Stadt aber spricht, dass sie zahlreiche Chancen zur Effizienzsteigerung besitzt und somit den Grad der Umweltinanspruchnahme erheblich reduzieren kann. Betrachten wir aber Venedig und Las Vegas auf MacLeans Fotografien, kommen unweigerlich Zweifel an dieser Möglichkeit auf. Die Stadt im Wasser und die Stadt in der Wüste scheinen nur auf den ersten Blick atypische Beispiele der globalisierten Stadt zu sein. Auf den zweiten Blick führen sie uns die Herausforderungen unserer Zeit exemplarisch vor Augen, schreibt Fritz Russwig. Aus Venedig Lernen heißt daher, die Entwicklung der Stadt als Warnung zu verstehen, weil sie zur Ware degeneriert und sich die Hyperrealität der Inszenierung vor die Realität des Alltags schiebt. Aus Las Vegas Lernen heißt, vom Modell des Überflusses Abschied zu nehmen, insbesondere in ariden Regionen. Und hier wird deutlich, warum MacLeans Fotografien aus der Wüste eine größere Überzeugungskraft besitzen, als seine Venedig-Aufnahmen. Die Ergebnisse des Überflussmodells lassen sich aus der Luft einfach anschaulicher zeigen, als die Umwidmung einer Stadt zu einem Geschäftsmodell.

Aus Las Vegas Lernen bedeutet auch, für Dubai oder Kuala Lumpur zu lernen. Oder aber auch für die zahlreichen chinesischen Millionenmetropolen, wie Kongjian Yu deutlich macht. Denn Chinas rasante Urbanisierung konnte nur auf Kosten einer katastrophalen Ökobilanz erfolgen: „Zwei Dritte der 662 Städte Chinas leiden unter Wassermangel, 75 Prozent der Oberflächengewässer des Landes und 64 Prozent der Wasser führenden Schichten sind kontaminiert. Ein Drittel der Chinesen trinkt verschmutztes Trinkwasser, fast die Hälfte aller Feuchtgebiete ist in den vergangenen 50 Jahren verschwunden.“ Daher fordert er eine Rückkehr zur „Guten Erde“, eine neue „Ethik des Landes“, die sich der Wichtigkeit der Natur bewusst ist.

Wie diese Ethik aussehen könnte, zeigen Shlomo und Barbara Aronson. „Wer passende Lösungen für unterschiedliche Standorte und Vorhaben sucht, muss von den Mustern traditioneller Landnutzung und alter Bewässerungsmethoden lernen.“ In der Rückkehr zur Tradition und historischen Erfahrung liegt nicht mehr und nicht weniger, als eine Rückkehr zu einem ganzheitlichen Ansatz, der Landschaft und Natur wieder in ihren Interdependenzen wahrnimmt und nicht mehr länger auf den kurzfristigen Nutzen einzelner Naturschätze zählt. Die Texte in dem Band appellieren immer wieder daran, die der Landschaft immanenten Kräfte, Zyklen und Materialien konsequent und bewusst zu nutzen. Nur so kann bewusst werden, dass ihr räuberischer Abbau den Untergang der menschlichen Zivilisation herbeiführt. Nicht heute und auch nicht morgen, aber eher früher als später.

Die Wiederkehr der Landschaft ist daher ohne Alternativen. Selbst wenn weltweit die Urbanisierung voranschreitet, wird sich dieser Prozess nicht ohne die Rückbesinnung auf die Landschaft und die Versöhnung mit den Prinzipien der Natur vollziehen können. Ansonsten sägen wir am Ast, auf dem wir sitzen. Die Fotografien von Venedig und Las Vegas, die Alex MacLean aus der Luft gemacht hat, dokumentieren das eindrucksvoll.
 

Alex MacLean
Las Vegas – Venedig
Fragile Mythen
Mit einem Text von Wolfgang Kemp
Schirmer/Mosel-Verlag. München 2010
192 Seiten, 155 Duotone-Tafeln
49,80 EUR
ISBN: 3829605048.

Donata Valentien (Hrsg.) & Alex MacLean (Fotografie)
Wiederkehr der Landschaft | Return of Landscape (Deutsch | Englisch)
jovis Verlag. Berlin 2010.
272 Seiten, 52 farbige Abbildungen
38,- EUR
ISBN: 3868590560.

Wolfgang Scheppe (Hrsg.)
DONE.BOOK.
Picturing the City of Society

An Inquiry into the Depth of Visual Archives
Hatje Cantz Verlag.
Stuttgart 2010
368 Seiten, 399 Abbildungen
39,80 EUR
ISBN: 3775727736.


 


Glanz & Elend
- Magazin für Literatur und Zeitkritik

Home   Termine   Literatur   Blutige Ernte   Sachbuch   Politik   Geschichte   Philosophie   Zeitkritik   Bilderbuch   Comics   Filme   Preisrätsel   Das Beste