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Foto: Matthes & Seitz
Warlam
Schalamow hat fast 20 Jahre seines Lebens in den Lagern der Kolyma, im
nordöstlichsten Teil Sibiriens verbracht. 1953, nach Stalins Tod, wird er
entlassen, lebte erst bei Kalinin und kehrte einige Jahre später zurück nach
Moskau. Schreiben, um zu vergessen – das Vergessen hat Schalamow nicht
geschafft, das Lager ließ ihn zeitlebens nicht mehr los. Bereits kurz nach
seiner Entlassung beginnt er, das Erlebte in eine Vielzahl von Erzählungen zu
transformieren. In einem Zeitraum von reichlich zehn Jahren - die frühesten
Erzählungen sind auf das Jahr 1954 datiert, die späten stammen aus den
Sechzigerjahren - entsteht mit dem Kolyma-Zyklus ein Werk, das in seiner
Behandlung des Themas – von Gabriele Leupold vortrefflich ins Deutsche
übertragen –einzigartig in der Literaturgeschichte ist. Die Werke beider Autoren unterscheiden sich im Stil fundamental. „Der Archipel Gulag“ trägt den Untertitel „Versuch einer künstlerischen Bewältigung“. Es handelt sich um kommentierende, Fragen aufwerfende Prosa, Solschenizyn unternimmt den Versuch, Motive zu verstehen und aufzuzeigen. Ironie findet sich ebenso wie Spott, da ist vom »herzallerliebsten Staatsanwalt« die Rede, da wird angesichts der Tatsache, dass die Häftlinge auf den Transporten Salziges zu essen, aber kaum Wasser bekamen, sarkastisch die Frage an den Leser gerichtet »Nicht um die Menschen zu quälen, aber – wüssten Sie was besseres vorzuschlagen? Womit hätte man das Pack unterwegs füttern sollen?« Nichts davon bei Schalamow. Durchgehendes Stilmittel der Erzählungen ist die sprachliche Reduktion und das Fehlen jeglicher Empathie. Der Künstler ist im Lager, erfroren, verhungert, das Kunstvolle wurde gestohlen,erschlagen. Schalamow kann dem Erlebten nicht mit den Mitteln der tradierten literarischen Form begegnen, einem Erlebten, dass keinen Millimeter Platz für sprachliche Verzierung lässt. Aber: Gerade im Verzicht auf jegliche moralische Kommentierung des Systems, jegliche (Be-)Wertung des Handelns, jegliches Mitgefühl für die Protagonisten der Erzählungen zwingt den Leser gedanklich in die Welt des Gulags, einem Zwang, dem man sich während der Lektüre oft entziehen möchte, es aber nicht kann. Die Lektüre ist quälend und „quälend“ ist das höchste Lob, dass man dieser Prosa aussprechen kann. Das Unbehagen steigert sich langsam. Die Szenen kommen ohne drastische Effekthascherei aus, ohne allzu detailliert beschriebene Grausamkeit. Es ist die Aneinanderreihung, die ein komplexes Bild der Ausweglosigkeit und des Verlusts der Moral entstehen lassen.
Schalamow
bietet dem Leser keine Fluchtmöglichkeiten, keine Katharsis deutet sich an. Der
Mensch ist seinem Schicksal ausgeliefert und um es ertragen zu können, hört er
auf, Mensch zu sein. Es bleibt nur seine äußere Hülle, deren Handeln allein auf
das Überleben ausgerichtet ist. Ein Überleben, das von vielen kleinen Faktoren
und Zufällen abhängt. Ob man einen wärmeren Schlafplatz ergattert oder die
Suppenkelle bei der Essensausgabe nicht nur Wasser, sondern auch etwas Einlage
aus dem Kessel fischt. Die Krankenstation wird zum Sehnsuchtsort, hier findet
man ein paar Tage Ruhe.
»Und ich wäre
gern ein Klotz.«
Eine der
eindrucksvollsten Textpassagen findet sich am Schluss der Erzählung „Die
Grabrede“. Die Erzählung nimmt ihren Anfang mit dem Satz »Alle sind sie tot …«
Es folgt eine Aufzählung, die jeweils mit den Worten »Tot ist« beginnt. Am
Schluss sitzen Häftlinge beieinander und überlegen, was sie tun würden, wenn sie
nach Hause kämen. Von wartenden Ehefrauen, vom Sattessen wird geträumt.
Schlussendlich ist noch ein Häftling an der Reihe, seinen Traum vom
Nachhausekommen zu erzählen. »Und ich wäre gern ein Klotz. Ein menschlicher
Klotz, versteht ihr, ohne Arme, ohne Beine. Dann würde ich in mir die Kraft
finden, ihnen in die Fresse zu spucken für alles, was sie mit uns machen.«
Verzichtet
Schalamow in den „Erzählungen“ auf jegliche Wertung, verleiht er seiner
Verachtung gegenüber der Verbrecherkaste in den „Skizzen“ in aller Deutlichkeit
Ausdruck. Im Eingangskapitel rechnet er mit der Romantisierung des Verbrechers durch die russische Literatur ab. Er hat die Verbrecher überlebt und hat nichts romantisches finden können. Nur Unmenschlichkeit.
So enden die
„Skizzen aus der Verbrecherwelt“ auch mit dem Ausruf»Karthago muss zerstört
werden!
Dem
Verlag Matthes & Seitz für die Veröffentlichung zu danken – ach, geschenkt!
Matthes & Seitz muss man sowieso immer danken. Ein Glücksfall für jeden, der
unter Literatur nicht Nicholas Sparks versteht. Dessen neuester Erguss ist bei
Thalia aktuell „Buch des Monats“ (Kostenpunkt für den Titel „Buch des Monats“:
50 000 EUR). Verlagsvertreter von Matthes & Seitz
werden bei Thalia nicht mehr empfangen. Keine Vampire
im Programm und überhaupt zu wenig massenkompatibel. Und hätte diese Einstellung
nicht auch finanzielle Auswirkungen – ein größeres Lob kann ein Verlag doch
eigentlich nicht bekommen! |
Warlam
Schalamow
Warlam Schalamow |
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