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Neues
vom Heimatdichter
Über Andreas Maiers Kolumnensammlung
»Onkel J. Heimatkunde«
In den letzten Jahren habe ich vielleicht zwei oder drei Ausgaben der
Literaturzeitschrift
"Volltext" gekauft. Einmal weiß ich es ganz genau, weil dort Alban Nikolai
Herbsts Roman
"Meere" abgedruckt war. Tatsächlich der ganze Roman. Volltext eben. Die
anderen Male weiß ich die Kaufgründe nicht mehr. Die Ausgabe mit "Meere" hatte
ich nach der Lektüre kurze Zeit später einer Freundin geschickt. Die anderen
Ausgaben finde ich nicht mehr, was eigentlich ungewöhnlich ist, da ich
eigentlich so schnell nichts wegwerfe. Neulich habe ich sogar noch zwei Ausgaben
von "Literaturen" gefunden, die drei, vier Jahre alt waren.
Da ich nun offensichtlich so oberflächlich die wenigen Ausgaben von "Volltext"
gelesen habe, ist mir entgangen, dass dort Andreas Maier Kolumnen geschrieben
hat. Vielleicht schreibt er dort noch immer Kolumnen. Jedenfalls sind nun
dreiundzwanzig Kolumnen, die Andreas Maier von 2005 bis 2010 in "Volltext"
geschrieben hat, in einem Büchlein erschienen. Es heißt "Onkel J." und im
Untertitel "Heimatkunde". Es ist sehr schön, dass diese Kolumnen jetzt
zusammengefasst erschienen sind.
Von Andreas Maier hörte ich zum ersten Mal beim Bachmannpreis im Jahr 2000. Er
las dort
die Erzählung "Diagnosestunde", die manchmal an Thomas Bernhard erinnerte,
was die Jury (meist ganz toll ausgebildete Germanisten) natürlich sofort
erkannte. Maier fiel schon vorher auf, weil es über ihn keinen Film wie von
allen anderen gab, der ihn vorstellen sollte. Er lehnte es ab, einen Film über
sich zu drehen. Die Filme benutze ich oft, um einen Kaffee zu holen. Maiers
Lesung überstand ich ohne Kaffee. Obwohl ohne Vorstellungsfilm bekam er den
dritten Preis, der aber nicht "dritter Preis" hieß, sondern damals "Ernst-Willner-Preis".
Ich erinnere mich noch: Als Andreas Maier den Preis überreicht bekam, konnte man
hören, wie er den Überbringer der Urkunde fragte, wer Ernst Willner gewesen war.
Man konnte aber die Antwort nicht verstehen, weil das Publikum applaudierte.
Und neulich habe ich (etwas verspätet) ein
Radiogespräch auf hr2 mit Andreas Maier gehört. Dort sagte er, die
Fernsehsendung "Die Familie Hesselbach" sei für ihn sehr wichtig gewesen (er
erwähnt dies auch in einer Kolumne). Auch und vor allem ästhetisch. Da erinnerte
ich mich an "Wäldchestag", seinen Erstling über ein Volksfest und die Ereignisse
drumherum. Den Dorfklatsch zum Beispiel. "Klausen" hatte ich noch gelesen, aber
dieses Buch kam irgendwie nicht an "Wäldchestag" heran. Danach habe ich nur noch
eine Besprechung von Andreas Maier in der
"Zeit" über Grass'
"Die Box" gelesen (hier gab er zu, vorher noch nie ein Buch von Grass ganz
gelesen zu haben, höchstens vielleicht ein paar Seiten). Und, Jahre vorher, eine
Art Reportage, ebenfalls in der "Zeit", über
das Wendland und die Atommülltransporte.
Neulich…
Andreas Maiers Kolumnen begannen (beginnen?) immer mit Neulich. Manchmal
tragen sie ganz komische Titel, wie "Neulich las ich die Reise nach Petuschki
und träumte von Gerhard Schröder". Oder "Neulich habe ich mir eine
Kamelhaarstrickjacke gekauft". Das erinnert schon wieder an Thomas Bernhard (die
Dramolette) oder einer Geschichte aus
"Meine Preise", die Maier aber gar nicht kennen konnte, da sie damals noch
gar nicht erschienen war, es sei denn, jemand von Suhrkamp hätte ihm davon
erzählt. Auch sein Besuch der JVA Butzbach erinnert ein bisschen an Thomas
Bernhard, weil im Theaterstück "Der Theatermacher" die Titelfigur Bruscon von
einer Vorstellung in einem Ort namens "Utzbach" erzählt und jeder (auch
diejenigen, die nicht unbedingt studiert haben) weiß, dass mit "Utzbach"
eigentlich "Butzbach" gemeint ist und als Metapher für das von Bernhard so
verhasste deutsche Stadttheater steht, welches für ihn ein "Provinztheater" war.
Einmal erzählt Andreas Maier wie er "Mein Kampf" gelesen hat, in einem
mobilen Bucheinband mit einem Hirschgeweih, damit man in der
Straßenbahn nicht angesprochen und/oder beäugt wird. Ja, er rezensiert es
fast. Es wäre nicht langweilig gewesen, schreibt er (ich fand es langweilig) und
er wird am Ende das Gefühl nicht los, alles das, also zum Beispiel diese
Beschimpfungsvirtuosität und Übertreibungsvirtuosität des Autors
Adolf Hitler, schon mal ganz ähnlich bei einem anderen österreichischen Autor
gelesen zu haben. In einer der nächsten Kolumnen schreibt er dann dezidiert,
dass ihn die Sätze Adolf Hitlers an Thomas Bernhard erinnern. Was natürlich eine
kleine Provokation ist, denn es gab in der österreichischen Literatur kaum
jemanden, dem der Hitlerismus und Nationalsozialismus derart verhasst war als
Thomas Bernhard.
Oder Maier erzählt von seinen Lesungen. In Moskau. Oder in Karlsruhe. In
Karlsruhe sagte ich auf die Frage, ob ich Heimatdichter sei, ja. Und war für
einen Moment plötzlich sehr glücklich. Auch hier präzisiert Maier in einer
späteren Kolumne. Der Fragesteller habe ein sadistisches Lächeln gezeigt.
Er habe ihn damit bloßstellen wollen. Aber es ist natürlich klar, dass Andreas
Maier ein Heimatdichter ist. Ein Heimatdichter wie Uwe Johnson einer war. Oder
Heinrich Böll. Hermann Lenz. Monika Maron und Uwe Tellkamp (um auch lebende
Schriftsteller zu nennen). In Grenzen auch Thomas Bernhard (der eher ein
Anti-Heimatdichter war; der Name sei jetzt zum letzten Mal in dieser Besprechung
erwähnt). Maier nennt Peter Kurzeck und Arnold Stadler (er scheint beide zu
beneiden).
Andreas Maier ist der Dichter der Wetterau. Der Wetterauer sei der Schweizer
Deutschlands. Eine Gegend, die im fast wörtlichen Sinne verschwindet. Maier
schreibt sogar, das sie nicht mehr existiert. Stattdessen existieren
Ortsumgehungsstraßen. Und diese Ortsumgehungsstraßen zerstört eine Landschaft;
sie zerstören die Orte, die durch sie geschützt werden sollen. Ein Paradoxon:
Die Wetterauer spazieren über die mit Sand aufgeschüttete Trasse der
Umgehungsstraße, von Friedberg, vom alten Promenadenweg aus, der nicht mehr
existiert, über die Felder, die nicht mehr existieren, nach Ockstadt, das noch
existiert und das zukünftig ebenfalls umgangen wird, das heißt umfahren, und wo
man den alten Ockstädter Kirschberg bald bei einhundertdreißig Stundenkilometern
aus dem Autofenster betrachten kann.
Die Heimat wird zur Ortsumgehungsstrasse
Und so geht die Welt langsam zugrunde. Meine Heimat wird jetzt zu einer
Ortsumgehungsstraße, unser Kurpark wird durch die Landesgartenschau vernichtet,
niemand trinkt mehr Apfelwein, und ich sitze, mit neununddreißig offenbar schon
vergreist und zum alten Eisen und zur alten Welt gehörend, irgendwo mitten im
Nichts einer mir nicht mehr verständlichen Umgebung, durch die ich desorientiert
tappe und die, wie zum Hohn, immer noch Bad Nauheim und immer noch Wetterau
heißt.
Aber immer wieder besucht Maier die Wetterau, die eigene Vergangenheit,
die ihm da auf Schritt und Tritt begegnet, die aber immer seltener wird, weil
alles verschwindet, Ortschaften, Häuser, Kneipen, Apfelweinstuben. Dafür sind
die Erinnerungen umso stärker, besonders an den geburtsbehinderten Onkel
J., den er und alle anderen nicht mochten, diesen stinkenden, zurückgebliebenen
Mann und nach all den Jahrzehnten stellt Maier fest, dass er dem Onkel immer
ähnlicher wird, er wohnt in dessen Haus, sucht ähnliche Lokale auf und spricht
beim Gänseessen schon so wie der Onkel zu Weihnachten. Onkel J. wird zum Dreh-
und Angelpunkt in Maiers Leben und seinen Kolumnen um sein Leben.
Es gibt wunderbare Persiflagen in diesen Kolumnen, etwa über den
Literaturbetrieb und die Vergabe von Stipendien im Literaturbetrieb (er rechnet
aus, dass er in knapp zwei Jahren Stipendiatentum minus 80 Seiten geschrieben
hat [er hat ein größeres Textkonvolut vernichtet] und somit für jede vernichtete
Seite 250 Euro bekam). Es gibt ein bisschen Posieren über das ultimativ letzte
Buch (mit dem Titel "Ortsumgehung"), welches auf 3.000 Seiten eine Wegstrecke
von 500 Metern beschreiben soll (auch das eine Anspielung auf ein Interview des
bekannten österreichischen Schriftstellers, dessen Name nicht mehr erwähnt
werden soll).
Oder die tragikomische Geschichte von Tante Lenchen, deren bruchloses Leben von
der NSDAP-Mitgliedschaft in die Deutsche Bauernpartei der DDR und die
Vernichtung all ihrer Aufzeichnungen durch die nächsten Verwandten nach ihrem
Tod: Da schrieb sie siebzig Jahre an ihrem privaten Echolot, und anschließend
sofort weg. Entsorgt. Es gibt humorvolle Beschreibungen aus dem Wendland,
einem offensichtlich ganz eigenen Menschenschlag in ihren Rundlingen,
jeder ein Asterixdorf und die Männer haben allesamt Bärte. Es gibt
bisweilen komische Sätze wie Die Liebe ist sehr laut im Pferdestall. Und
manchmal ist Maier auch ein bisschen moralisch, etwa wenn er auf den
"Willy-Brandt-Platz" in Frankfurt hinweist, der früher Theaterplatz hieß, und
auf die Tatsache, dass man Willy Brandt in Frankfurter Gastwirtschaften hier
und da nach wie vor als Deutschlandverräter bezeichnet.
"Vom Neulich ins Einstmals planiert"
Aber in keinem dieser Themen erreicht Maier die Intensität und durchaus auch das
Pathos all dieser Wetterau- und Kindheitsgeschichten, einer Heimat, die vom
Neulich ins Einstmals geradezu planiert wird. Und das alles, obwohl
Maier bekennt, Vergangenheit habe ihn noch nie interessiert, nur die
Gegenwart. Die Vergangenheit war auch nie besser…aber man kann die Vergangenheit
wunderbar gegen die Gegenwart verwenden, denn das versteht immer jeder, auch
wenn er gar nicht merkt, dass das bloß ein Trick ist. Maier verwendet sich
ausdrücklich gegen ein "früher war alles besser" und die Zustimmungen von der
"falschen" Seite. Die Friedensbewegung, das links-sein, die Phase des
anstrengenden Anti-Spießertums – alles überstanden. Er verteufelt das
alles nicht, beschwört aber auch nicht die vergangene Zeit, sondern meditiert
nur der Möglichkeit hinterher, unter den gleichen Bedingungen wie all die
Verwandten (inklusive Onkel J.) leben zu können (und es vielleicht ein bisschen
besser machen zu können). Maiers Abgesang auf die Wetterau ist die Trauer um die
Möglichkeit, seiner Herkunft gemäß zu altern. Es sind Protokolle einer Schwermut
um ein ihm vorenthaltenes Weiter-Leben.
Und was bleibt? Die Wetterauer Malerin, die mit einer hartnäckigen Konsequenz
malt, obwohl es keine Ausstellungen, keine Dokumentation, keine
Öffentlichkeit, nichts gibt, ihr Name ist niemandem bekannt (auch
Maier nennt ihn nicht) und nicht einmal den Wetterauer Kulturpreis hat sie
bekommen. Und der Wichsbusch, ein Busch neben dem Friedberger
Sportfeld, aus dem, wenn die Zehntkläßlerinnen trainieren, alle paar Minuten
kleine weiße Papierchen herausfliegen. Heißt es. Es gibt ihn noch, den
Wichsbusch, und manchmal finden sogar Bundesjugendspiele direkt neben ihm statt.
Zehn Meter hinter ihm beginnt die Trasse der Umgehung. Der Wichsbusch hat es
geschafft, Gerade noch so.
Andreas Maiers Kolumnen sind geballte Heimatkunde. Vom Feinsten. Darauf einen
Apfelwein. Gregor Keuschnig
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Begleitschreiben
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Andreas Maier
Onkel J. Heimatkunde
Suhrkamp
131 Seiten
17,80 €
ISBN 9783518421345
Leseprobe
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