Andere über uns Impressum  |  Mediadaten |


search engine by freefind


Glanz & Elend Magazin für Literatur und Zeitkritik

Anzeige
Jetzt Versandkostenfrei bestellen:
Glanz&Elend - Die Zeitschrift
Großformatiger Broschurband in einer
limitierten Auflage von 1.000 Ex.
176 Seiten, die es in sich haben:

»Diese mühselige Arbeit an den Zügen des Menschlichen«
Dazu exklusiv das interaktive Schauspiel
»Dein Wille geschehe« von Christian Suhr & Herbert Debes

Home   Termine   Literatur   Blutige Ernte   Sachbuch   Politik   Geschichte   Philosophie   Zeitkritik   Bilderbuch   Comics   Filme   Preisrätsel   Das Beste    

Bücher & Themen

Links
Bücher-Charts l Verlage A-Z
Medien- & Literatur l Museen im Internet

Weitere Sachgebiete
Quellen Biographien, Briefe & Tagebücher
Ideen Philosophie & Religion
Kunst
Ausstellungen, Bild- & Fotobände
Tonträger Hörbücher & O-Töne
SF & Fantasy Elfen, Orcs & fremde Welten
Autoren Porträts, Jahrestage & Nachrufe
Verlage Nachrichten, Geschichten & Klatsch

Klassiker-Archiv
Übersicht
Shakespeare Heute, Shakespeare Stücke, Goethes Werther, Goethes Faust I, Eckermann, Schiller, Schopenhauer, Kant, von Knigge, Büchner, Marx, Nietzsche, Kafka, Schnitzler, Kraus, Mühsam, Simmel, Tucholsky
, Samuel Beckett

Honoré de Balzac
Berserker und Verschwender
Balzacs Vorrede zur Menschlichen Komödie
Die Neuausgabe seiner
»schönsten Romane und Erzählungen«, über eine ungewöhnliche Erregung seines Verlegers Daniel Keel und die grandiose Balzac-Biographie von Johannes Willms.
Leben und Werk
Essays und Zeugnisse mit einem Repertorium der wichtigsten Romanfiguren.
Hugo von Hofmannsthal über Balzac
»... die größte, substantiellste schöpferische Phantasie, die seit Shakespeare da war.«

Anzeige
Edition Glanz & Elend

Martin Brandes

Herr Wu lacht
Chinesische Geschichten
und der Unsinn des Reisens

Leseprobe


Andere Seiten
Quality Report Magazin für Produktkultur
Elfriede Jelinek Elfriede Jelinek
Joe Bauers
Flaneursalon
Gregor Keuschnig
Begleitschreiben
Armin Abmeiers
Tolle Hefte
Curt Linzers
Zeitgenössische Malerei
Goedart Palms Virtuelle Texbaustelle
Reiner Stachs Franz Kafka
counterpunch
»We've got all the right enemies.«

Add to Technorati Favorites Seitwert
 

Schuld und Wahn

Christiane Pöhlmann über Ennio Flaianos wiederaufgelegten Roman »Alles hat seine Zeit«

Der Name Mussolini wird nicht ein einziges Mal erwähnt. Auch Kriegshandlungen im engeren Sinne werden nicht beschrieben. Im Grunde ist nicht einmal klar, ob der Roman während des eigentlichen Abessinienkriegs zwischen Oktober 1935 und Mai 1936 oder in der anschließenden Besatzungszeit spielt. Der historisch-politische Kontext, die italienische Kolonialpolitik in Äthiopien, wird weitgehend ausgeblendet, um archetypische Fragen nach Schuld und Verantwortung zu stellen. Um aber auch, wie sich am Ende zeigen wird, nicht nur ein Buch gegen den Krieg, sondern gegen die Armee, gegen das Militär zu schreiben; diese Unterscheidung sollte nicht unterschätzt werden.

Ein namenloser italienischer Oberleutnant sucht wegen Zahnschmerzen einen größeren Ort auf. Unterwegs hat er einen Unfall, er lässt seinen Beifahrer und den fahruntüchtigen LKW im Stich und schlägt sich auf eigene Faust durch. Natürlich verirrt er sich. An einem Bach trifft er auf eine Äthiopierin, Mariam, die er vergewaltigt. Danach versuchen beide, sich gestisch und mit Zeichnungen zu verständigen, er bietet ihr Geld an, sie lehnt ab, eine undurchschaubare, fürsorgliche Beziehung spinnt sich zwischen ihnen an. Als sie von der Nacht überrascht werden, suchen sie unter einem Felsvorsprung Schutz. Der Mann fühlt sich von einem Tier belauert, schießt, ein Querschläger trifft Mariam, die er dann mit einem gezielten Schuss tötet.
Während er überlegt, ob er ihr den "Gnadenschuss" gewähren soll, offenbart sich, welche Gefühle in ihm widerstreiten: Hilfsbereitschaft versus Rassismus, Mitleid versus Angst vor den bürokratischen Folgen. "Deine Schuld wird erst an dem Tag zu einer solchen, an dem du die Kommandostellen zwingst, einen neuen Fragebogen in Umlauf zu setzen." So einfach ist das. Und eben doch wieder nicht.

Denn die Geschichte ist als Ich-Erzählung gestaltet, folglich sollte dem Protagonisten einiges Misstrauen entgegengebracht werden, und zwar nicht erst ab dem Zeitpunkt, als klar wird, dass er Realität und Imagination nicht mehr klar zu trennen weiß, als er sich immer stärker in den Fallstricken der eigenen Psyche verfängt. Nein, auch jene scheinbar noch wahnfreie Figur ist schwer zu fassen. Flaiano lotet das Innenleben seines Ich-Erzählers in einer Tiefe aus, über welche dieser selbst gar nicht verfügt, ohne ihm dabei jedoch Tiefe anzudichten. Der ganz und gar durchschnittliche Mann, Italiener und Soldat, der auf den Unterwerfungsausweis und die geziemende Anrede durch die Eingeborenen besteht, wird hier differenziert vorgeführt, sympathisch und kleinmütig, unglückselig und selbstbezogen.

Über seinen Zahn vergisst der Protagonist Mariam vorübergehend, wird aber schon bald von einem Strudel aus Schuldgefühlen und Wahnvorstellungen mitgerissen. Er wittert eine Verschwörung, fürchtet, man könne ihm auf die Spur kommen, obwohl er alle Spuren kalt und systematisch beseitigt hat. Er begeht weitere Verbrechen, um einer etwaigen Entdeckung zu entgehen. Schließlich wächst sich seine Paranoia zu einem doppelten Wahn aus, denn er meint, sich bei Mariam mit Lepra infiziert zu haben. Nun flieht er auch vor der medizinischen Anzeige.

Am Ende seiner Kräfte landet er schließlich bei Johannes, den er für Mariams Vater hält. Zu Selbstmord wie Flucht gleichermaßen unfähig, bleibt er immer länger bei ihm. Irgendwann kommt es zu einem Kampf zwischen beiden, damit auch zu einem Rollenwechsel, denn nun pflegt er Johannes – was ihn jedoch nicht daran hindert, Mordabsichten zu entwickeln. Schließlich erlebt er einen ersten Moment echter innerer Größe, denn er fragt Johannes direkt nach Mariam und der Krankheit. Johannes lacht nur und legt ihm Verbände auf. Er gesundet und kehrt, dies der zweite Moment von Größe, zu seiner Einheit zurück. Ob er seinen Vorgesetzten seine Taten gesteht, bleibt unklar, vermutlich nicht, denn er stößt auf hartnäckiges Desinteresse. Immerhin erzählt er einem Leutnant alles, und es könnte sich bei dieser Geschichte durchaus um den Roman selbst handeln.

Damit bleibt jedoch auch ungewiss, welche Entwicklung der Protagonist wirklich durchlebt, ob er eine Katharsis erfährt oder eben nur zwei Momente innerer Größe. Nur diese beiden Male ist er fähig, mit sich selbst im Einklang zu handeln, zu vergessen, dass man nach Afrika geht, "um das Gewissen von sich abzuschütteln". Anschließend scheint er sehr rasch wieder bereit, auf gesellschaftliche Konventionen zu vertrauen, gibt das individuelle Schuldgefühl zugunsten des Verbrechensbegriffs auf, noch dazu bei Kriegs- oder Besatzungsrecht. "Es scheint mir unnütz, von Verbrechen zu reden, zumal ja niemand mich sucht." Gleich darauf heißt es jedoch: "Allerdings hat man kein Recht, so großzügig zu sein." Auch greift er in seiner Erzählung der Handlung, nie aber der inneren Entwicklung vor.

Doch nichts steht der optimistischen Lesart von der Katharsis so entgegen wie der Schluss. Während seiner Flucht hat er immer wieder den Geruch nach Fäulnis wahrgenommen, damals für ihn ein sicheres Indiz seiner Lepra-Erkrankung. Am Ende, als es heißt, sie würden in vier Tagen abziehen, nimmt er diesen Geruch am Leutnant wahr. "Ich beschleunigte meinen Schritt, doch die Spur jenes Gestanks zog vor mir her." Die Einheit kehrt zurück nach Italien – und mit ihr jenes Armeerecht auf die Überlegenheit des Weißen, auf Vergewaltigung und Mord. Mit ihr der Oberleutnant in seinem nunmehr legitimierten Wahn. Geschichte wiederholt sich doch. Grausamer kann ein Buch nicht enden.

Ennio Flaiano, Jahrgang 1910, hat selbst am Äthiopienfeldzug teilgenommen, obwohl er ein erklärter Anti-Militarist war und den Kriegsdienst verweigern wollte (das ist in Italien erst seit 1972 möglich). Er hat sich in der Nachkriegszeit vor allem als Drehbuchautor einen Namen gemacht, u. a. mit "La Strada". "Alles hat seine Zeit" ist sein einziger Roman, für den er 1947 den damals erstmals verliehenen Premio Strega bekam. Sein erstes Drehbuch stammt aus dem Jahr 1942, insgesamt hatte er also noch kaum schriftstellerische Erfahrung. Umso erstaunlicher ist es, wie vollendet er Ton und Inhalt voneinander scheidet. Die Hitze Afrikas und die Monotonie des Soldatenlebens sind deutlich spürbar, ohne dass die Lektüre je zäh oder monoton wäre. Es passiert im Grunde wenig, die Sprache scheint extrem sachlich, doch am Ende zeigt sich, wie viel vage – aber nie beliebig – bleibt. Der Roman ist einer dieser paradoxen Glücksfälle: Er lädt zu einer Lektüre ein, die in einen zutiefst pessimistischen Widerhall ausläuft, einen Schmerz, der jede Zeile lohnt. Christiane Pöhlmann
 

Ennio Flaiano
Alles hat seine Zeit
Aus dem Italienischen von Susanne Hurni
Mit einem Nachwort von Elke Heidenreich
Manesse
512 Seiten, € 22,95



 


Glanz & Elend
- Magazin für Literatur und Zeitkritik

Home   Termine   Literatur   Blutige Ernte   Sachbuch   Politik   Geschichte   Philosophie   Zeitkritik   Bilderbuch   Comics   Filme   Preisrätsel   Das Beste