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Glanz & Elend Magazin für Literatur und Zeitkritik

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Halluzinatorisches Erzählen

Peter V. Brinkemper über Manfred Iwan Grunerts Mammutwerk »Amerikanskij Wolp«


»Amerikanskij Wolp« von Manfred Iwan Grunert ist eine erzählerische Gratwanderung zwischen Abenteuer-,  Agenten- und Spionageroman, Wirtschaftskrimi, Liebes-Sex-Melodram und Dostojewskijscher Schuld-und-Sühne-Literatur aus deutscher Sicht. Vorsicht, alle diese Gattungskreise erweisen sich so kompatibel wie in einem gemischten Wett-Trinken: teurer Whiskey gegen billigeren Wodka, gepflegtes Aroma gegen hartes alkoholisches Destillat. Das geht nur mit einem gerüttelt Maß an Pulp und Kolportage, die nicht zurückschreckt vor dem aktuellen Raubzug in der globalen Wirklichkeit von Politik und Finanzwelt mit ihrer medial aufgeheizten Gier und Schamlosigkeit.

Innere und äußere Purgatorien
Grunerts abenteuerliche Reiseschilderung von Berlin, über London, Plymouth-on-Sea, Tokyo bis Magadan, einer Hafenstadt und gleichnamigen früheren Gulag-Region am Ochotskischen Meer und das Kolyma-Fluss-Gebiet im äußersten subarktischen Osten Sibiriens ist ein globaler Cocktail im Eisglas mit heißer Wolfspfote und einer Zitrone mit nachstalinistischem Goldminen-Schimmer. Ost und West werden von dem aus Thüringen gebürtigen Autor kräftig durcheinander gerührt. Wölfin Kalypso weist den Weg. Die angelsächsische Eleganz von Action, Thrill, Crime und Sex wird nicht erreicht, der Rhythmus ist nicht Flemings umstrittenes »Live and let die«, sondern Bauers »Soweit  die Füße tragen«, nur in umgekehrter Richtung, ab nach Sibirien. Dafür wird der gute, alte Bildungsroman revitalisiert, zum schizophrenen Überlebenstraining in der Rekonstruktion und Eroberung eigener und fremder Genealogien mit biographischen Knicken, Kreuzungen und Entartungen. Der deutsche Kriegs- und Krisenreporter Michael Gernow und der aus der Ferne intrigierende US-Finanzmogul Stanley Tomski liefern sich eine mörderische Schlacht um ein zufällig geteiltes Weib und dann um Macht und Geld und Gold zwischen Berlin und Dworin. Und der eine lernt vom anderen, zum Pac-Man zu werden. Gernow ist die zunächst die nicht unsympathische personale Erlebnisinstanz des Romans, Tomski die personifizierte kalte globale Intrigengewalt, die aus der Ferne immer wieder zuschlägt und Gernow in dunkle Machenschaften mithineinzieht und ihn zu verschlingen droht. Wer sich auf die wilden globalen Turbulenzen und inzestuösen Verstrickungen der historisch grundierten Familien-Dynastien im Roman einlässt, erfährt im Laufe der halben Welt- und Epochenumrundung eine seltsame Form der Seelenläuterung, die auch Seelenvergewaltigung ist, eine Purga, zwischen Schneesturm und politisch-ideologischer Säuberung, mitten durch die Risse des 20. und frühen 21. Jahrhunderts und das Packeis der alt-neuen Klischees und Vorurteile, in Extremfällen von totalitärem Kapitalismus, Sexismus, Rassismus, Bolschewismus und Faschismus. Und nebenbei beansprucht der unterschätzte Osten, die russische Organisazija, die mafiose Elite des ehemaligen Sowjetreiches, in ihrer Treue zum Gold, den Titel des währungsstabilisierenden Retters aus der postkapitalistischen Welt-Finanzkrise des Konfetti-Dollars und der Hedge-Fonds. Dass eine internationale Finanzkrisenkonferenz mit Vertretern der Mafia aus aller Welt in Ostsibirien stattfindet, ist eine der schönsten Pointen des Romans.

Alpträume, seltsame Vorbilder, misogyne Konstellationen
»Amerikanskij Wolp« entgeht dem Hauptproblem des heutigen Agenten- und Spionageromans, der Suche nach einem handfesten Gegner und einer effektiven Ideologie, aber auch der Leere der Internetgesellschaft, durch den Gattungsmix archaischer Abenteuer- und Lust-Muster in Hotelbars und unter freiem Himmel mit den Versatzstücken eines stark ramponierten Bildungsromans. Grunerts Stärke ist die Detailrecherche seiner Stationen, vor allem in den sibirischen Provinzen: als Höhepunkt die einfühlsame Schilderung des weltabgelegenen Aufenthalts bei noch nicht sesshaften Jakuten und Ewenken  im Kontrast zum neostalinistischen Willkürregime der Kaditkaja-Goldmine und zum kollektiven Wohlstandsrausch in Magadan. Der Verlust von klaren staatlichen Autoritäten und symmetrischen Konfliktszenarien wird ersetzt durch multilaterale Szenarien, interkulturelle und psychische Transgressionen. In diesem Roman wimmelt es von kurz angerissenen regionalen politischen und sozialen Facetten, Anmaßungen, Verschwörungen und Verflechtungen, unentsorgten Altlasten, nur lose flankiert von der sonst prätendierten weltbürgerlichen Inversion alter ideologischer Werte in Richtung auf eine neue pragmatische Indifferenz oder einen Hauch von utopistischer Offenheit. Im Vater des skrupellosen Stanley Tomski, dem polnischen Altbanker Ladislaw Tomaszewki Senior, einem verhinderten Maler mit Krallenfingern, und in seiner ewigen  Distanzliebe, der deutschstämmigen Jüdin und Schauspielerin Clara Singer, die als blondes Kätchen von Heilbronn und Gretchen auf Bühnen in der Weimarer Zeit brilliert und die zugunsten ihres Ticks für blondes Germanentum Juden und Polen verachtet, erwächst eine von mehreren misogynen Konstellationen im diesem Buch. Und die gruseligen Alpträume im britischen Finanzsitz des »Vogelmenschen«-Schatten-Bankers Tomaszewski Senior breiten sich über das gesamte Werk aus. Welchen literarischen Ton kann dies alles annehmen? Eine nachgereichte  Fusion von Jules Verne, Karl May, Jack London, B. Traven und Henry Miller? »In achtzig Tagen um die Welt oder bloß um die Erde«? »Ruf der Wildnis«? »Das Totenschiff«? Ein »Kara Ben Nemsi« und ein bedrohter ewenkischer  »Winnetou«, oder »Zobeljäger und Kosak«? Oder ein modernistischer Osip Mandelstam, der unter Stalin die Ehre hatte, als politischer Lyriker und rebellischer Essayist in einem Lager bei Wladiwostok ums Leben zu kommen? Also eher doch: »Das Waldröschen oder die Verfolgung rund um die Erde« (nochmals May)? In den Adern des Buches fließt viel Blut von Wunscherfüllungsliteratur, weniger dagegen Problematisierungs- und Verweigerungsprosa, trotz aller Schelte auf die marode kapitalistische Finanzwelt. Grunert spielt, in der Krudität der Ereignisse, manchmal ein wenig schüchtern auf der Klaviatur des deutschen und internationalen Kolportage-Pulp, er zerlegt und arbeitet seine Hauptgestalten nur bis zu einem gewissen Grade um. Zuviel literarischer Respekt? Als Slawistik-Experte (und Lektor für das frühere Kindler Literatur Lexikon, das noch nicht den Verstand verloren hatte) profitiert er von der weiten Kenntnis niederer und höherer literarischer Etagen, auch von den weniger konfektionierten, stärker künstlerischen Ausgaben des Abenteuer-, Krimi- und Agentenplots, wie Joseph Conrads spätimperialem Nihilismus. Grunert kokettiert in den ersten Teilen, bei der Affäre Gernows mit der noch nicht familiengeschichtlich identifizierten Kersty McKay, mit dem Abgleiten in den antihumanen Dschungel künstlich angeheizter Ekstasen, bevor Aufklärung und Läuterung beim Helden und Leser einsetzen. Die Welt ist einfach zu rund geworden für ein totales Finale im »Herz der Finsternis«. Grunert streift das mögliche Bond-Muster nur, lässt die Option einer eiskalten und dabei egoistisch agierenden Auftrags-Killermaschine im Dienste ihrer Majestät hinter sich, den nützlichen Idioten mit dem kleingeschraubten Angestellten-Selbstbild eines weltläufig-urbanen Cold-War-Einzel-Helden.

Killen, Thrillen, Wimmern
Die Dostojewskijsche Seite geht Grunert mit Bedacht an: Seit »Raskolnikow - Schuld und Sühne« weidet sich die einfühlsame Verbrechens-Introspektion an der terroristischen Ich-Spaltung zwischen religiöser Hybris und gefühlter sozialer Inferiorität, zaristisch-agrarischem Intellekt und prä-bolschewikischer Action directe, manischem Durchbruchs-Wahn und wimmerndem Schuldkomplex. Der kleinbürgerliche Tatort und das sibirische Lager, die Fata-Morgana von moralischen Echt- und Scheinliquidationen scheinen von der späteren mondänen Londoner Job- und Touristikbörse des MI-6 »meilenweit" entfernt, aber in »Amerikanskij Wolp« geht es um einen angemessenen Wechselkurs der Literaturen und Politikmuster, um die analoge strukturelle Grundspannung zwischen hündischer Loyalität und abtrünnigem Aufbegehren im Rahmen der Licence to Kill and The Power to Deceive. Grunert legt die Hauptfigur Michael Gernow sogleich als ein gespaltenes Wesen zwischen Krieg und Frieden an. Aber vielleicht ist diese Männerphantasie, die auf Sex mit dem Tod persönlich aus ist, dann doch ein bisschen übertrieben:
»Nachdem wir gegessen, getrunken und uns gereinigt hatten, breiteten wir auf dem Dach des Hauses Decken aus. Seit Monaten hatten wir einander entbehrt, und über uns war nichts als die riesige azurblaue Scheibe des Himmels. Die Farbe der Ferne, der Ewigkeit, des Nichts .... Die MIG kam geräuschlos aus der tiefstehenden Sonne. Ich sah sie kommen, Maureen sah sie nicht. Ich sah die Lederschnauze  des durch einen Schlauch atmenden sowjetischen Piloten, er hatte uns zu seinem Ziel gewählt  ... Er zündete die im Tiefflug tödlichen Nachbrenner der Triebwerke, die die MIG auf Mach 3 beschleunigten. Er wusste, was er tat. Bis zu seinem Lebensende wird er von dem Genuss zehren, der Liebe in der blauen Stunde den Todesstoß versetzt zu haben ... Aber war es wirklich Liebe gewesen? Liebte ich Maureen im Moment des Angriffs? Dann hätte ich mich aus ihrem Schoß zurückgezogen, hätte sie von mir und auf den Boden geworfen, damit die Druckwelle sie nicht tötete ... Nichts dergleichen tat ich. Im Augenblick der Todesangst hat sich das Vieh in mir nicht davon abhalten lassen, seine Lust zu stillen. Eine Lust, die sich in der Angst zu einem glühend roten Feuerball zusammenzog ...«

Fieberwahn-Erscheinungen, Tupilaqs
In den besten Passagen seiner phantasmagorischen Schreibweise zehrt der Roman vom klassischen Fieberwahn-Dialog zwischen Iwan Karamasow und dem ganz gewöhnlich kostümierten Teufel: Es geht um halluzinatorisches Erzählen zwischen Selbstbetrug und Fremdtäuschung. Die Strukturlinie dieses illusionären Splittings wird zum großen, verunsichernden Erzählbogen verallgemeinert, Realismus kollidiert mit dem Münchhausen-Syndrom - von der spannungsvollen Gegenbewegung der Figuren hin zur widersprüchlichen Konfrontation und rätselhaft rückwirkenden Verschmelzung: Protagonist Michael Gernow und Antagonist Stanley Tomski sind feindliche Figuren und konträre personale Identitäten und Prinzipien, die einander wie Zwillinge zunächst verfolgen und bekämpfen, dann überholen und übertrumpfen und schließlich stützen und ergänzen. Bildung als paranoide Autodidaktik in einer götter- und vorbildlosen Epoche. Helden und Figuren als auspressbare Schablonen und shanghaite Fahrensmänner. Die anfängliche Distanz schmilzt Seite für Seite dahin, bis zum Show-Down am Denkmal für den treuen Hund Hachiko am Tokioer Bahnhof Shibuya. Gernow und Tomski fusionieren offenbar zu einem monströsen Anti-Helden-Gebilde. Dieser bipolare Hybrid ist vergleichbar  mit dem Leitmotiv Grunerts, dem ewenkischen Tupilaq, jenem geschnitzten animistischen Knochen-Fetisch, einem Glücksbringer mit recht verschiedenartigen anthropomorphen Ausbeulungen. Durch seine Kraft schlägt sich der Doppelheld durch eine extreme Welt wilder erotischer Begegnungen, elementarer Gefahren und scheinbar aussichtsloser Situationen, bis er die gemeinsame Geliebte Jelena Dawydowa in der Kolyma endlich, aber als ein Anderer, wieder sieht.

Manfred Iwan Grunerts »Amerikanskij Wolp« ist ein lesenswerter Psycho-Thriller, ein schillerndes Läuterungsepos einer inneren Reise zu einem unbekannten globalen Selbst, dass das alte Schisma zwischen West und Ost durch nomadischen Anarchismus ein Stück überwindet. Vielleicht ist das Unbekannte am globalen Selbst der eigentliche Reiz dieses dicken Schmökers.

 

Manfred Iwan Grunert
Amerikanskij Wolp

Roman
Matthes & Seitz Berlin
992 Seiten, geb. mit Schutzumschlag
ISBN 978-3-88221-745-2
€ 29,90


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