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Führer des echten und wirklichen Deutschlands
Ulrich
Raulff zeigt auf beeindruckende Weise, welche »Strahlungen« von den
»Georgianischen Chorälen« auf die Bildungsgeschichte der Bundesrepublik
Deutschland ausgegangen ist.
Von Rudolf Maresch
Unlängst widmete sich ein DFG-Symposion in München den Anfängen ästhetischer
Aufbruchsbewegungen in der Zwischenkriegszeit (Anfang
und Avantgarde). Damals, in der Zeit von 1910
bis 1930, hatten Futurismus und Reformpädagogik, Kommunismus und Surrealismus
avantgardistische Manifeste und Programme in Umlauf gebracht, deren Einheit in
der Differenz der Wille zum „Aufbruch“ war. Neues, so war zu hören, sei nur
möglich, wenn man das Alte radikal zertrümmere. Nur im Neuen breche sich die
Welt Bahn.
»Blöd
trabt die Menge drunten« Stefan George, Nietzsche
Abstand wahren
Dass dieser Führungsanspruch an überzogenen Ambitionen, überbordenden
Gewaltfantasien oder schlicht: an der Unfähigkeit der Akteure, die Faszination
am Neuen auf Dauer zu stellen, gescheitert ist, und, als alle widerstreitenden
Elemente ausgemerzt worden sind, in Totalitarismen endete, ist die bittere
Wahrheit, die das Versprechen nach Neuanfang nach sich zog.
Quer zu diesen historischen Bewegungen steht der Begriff der „Elite“. Stellen
sich diese in aller Regel in den Dienst des Volkes, definieren sich jene gerade
in Abhebung von ihm. Suchen Eliten den Abstand von den Vielen, will die
Avantgarde die Massen mitreißen. Schimmert in ihr der Glaube an ein
„Gleichheitsprinzip“ durch, der sich auch an die Zurückgebliebenen und scheinbar
Zukurzgekommenen richtet, glaubt die Elite an ihr Auserwähltsein.
Dass es mit dieser Unterscheidung, die Jacob Taubes vor bald dreißig Jahren zwei
jüngeren Berliner Philosophen gegeben hat, in der Praxis nicht weit her ist,
kann man einer ebenso sonderbaren wie bizarren Geschichte entnehmen, die Ulrich
Raulff, Direktor des
Deutschen
Literaturarchivs in Marbach, auf den Eingangsseiten seines
Essays über die „schwarzen Netzwerke“ berichtet, die sich nach dem Tod des
Dichters
Stefan George gebildet haben.
Antifaschistische Irrfahrt
Danach erhält Raulff, damals noch Feuilletonchef der F.A.Z,
einen Anruf. Am anderen Ende der Leitung ist der Leiter eines rheinischen
Museums. Sein Haus habe, so der Anrufer, vor ein paar Monaten einen Ehrensäbel
erhalten, der den Namen
Oberfähnrich
Schenk Graf von Stauffenberg trägt. Der Mann,
von dem er das Stück habe, sei ein gewisser Herbert Mies.
Wer in den Siebzigern des vorigen Jahrhunderts an einer deutschen Universität
studiert hat, der wird bei diesem Namen unwillkürlich zusammenzucken. Mies war
seinerzeit Vorsitzender der DKP gewesen, einer Kaderpartei, die der SED damals
nahe und auf ihrer Lohnliste stand. Als ihr verlängerter Arm und studentischer
Vortrupp galt seinerzeit der
MSB Spartakus,
der seine ideologische Ausrichtung wie finanzielle
Unterstützung aus Ost-Berlin bezog.
Auch bei Raulff, der zu dieser Zeit an der von MSB- und SHB-Kadern dominierten
Philipps-Universität in Marburg studierte,
klingelten damals die Alarmglocken. Am Telefon habe der „Altstalinist“ ihm
gestanden, dass der Säbel von
Max Reimann
stamme, dem letzten Parteichef der KPD. Dieser habe ihn wiederum aus dem
Moskauer Exil mitgebracht. Offiziere der Roten Armee hätten Reimann nach dem
Krieg das „antifaschistische Kulturgut“ in die Hand gedrückt, mit dem Auftrag,
es „dem deutschen Volk“ zurückzugeben.
Spielen über Bande
Auf welchen Umwegen das
Objekt, das der Hitler-Attentäter fünfzehn Jahre vor seiner Tat als
Jahrgangsbester der deutschen Kavallerie erhalten hatte, nach Moskau gekommen
war, blieb ungeklärt – ebenso, warum der kommunistische „Vorkämpfer“ die
„antifaschistische Trophäe“ nicht den Verwaltern der sozialistischen
Internationale übergeben hat, sondern ausgerechnet einem Museum, das sich der
Geschichte der Bundesrepublik widmet.
Auf die Frage, was diese skurrile Story ideengeschichtlich
bedeute oder welche Lehren aus ihr möglicherweise über die Geschichte der
Bundesrepublik gefolgert werden könne, ging Raulff nicht ein. Auch im „Literaturhaus
München“ nicht, wo er das Buch
Ende Januar vorstellte. Und auch
Jens Malte Fischer, der
ihn zu den Beweggründen seines Buches befragte, wollte darüber keine nähere
Auskunft haben.
Gibt es mithin in der Praxis doch engere Bande zwischen Avantgarden und Eliten?
Ist die Scheidelinie, die den Parteifunktionär vom Soldaten, den Sozialisten vom
Militaristen oder den Bund der Werktätigen von preußischer Disziplin trennt,
doch schmaler als gedacht? Lässt sich, wie man schon vermutet hat, doch eine
direkte Verbindungslinie von hier nach dort ziehen, von Berlin nach Berlin-Ost?
Geheiligt statt geheim
Noch seltsamer wird das Ganze, wenn man hört, dass der
Besitzer des Säbels
jenem Kreis angehört hat, der 1910, als die Avantgarden
sich in der Kunst, Wissenschaft und in der Politik formierten, nicht nur enger
Vertrauter und Mitglied jenes Netzwerkes war, sondern auch den Begriff vom
„geheimen Deutschland“ geprägt und in Umlauf gebracht hat.
Claus Schenk Graf von Stauffenberg hielt mit seinen beiden Brüdern nicht nur die
Totenwache am Sterbebett des Dichters Stefan George, er stand Tags drauf auch am
Grab des am 4. Dezember 1933 in Minusio Verstorbenen. Er war es, der 1939 mit
fliegenden Fahnen in den Krieg gezogen ist, ehe er später, als der Krieg
verloren war, den deutschen Widerstand anführt und organisiert. Und er war es
auch, der am 21. Juli 1944, kurz bevor die Todesschüsse ihn im
Bendlerblock
trafen, gerufen haben soll: „Es lebe das geheime
Deutschland“.
Ob er tatsächlich „geheim“ oder „heimlich“ gerufen hat, wie Marion Gräfin
Dönhoff, ihr akademischen Lehrer Edgar Salin und Joachim Fest später behauptet
haben, oder doch „geheiligt“ oder „heilig“, wie Raulff zu belegen sucht, ist für
die Geschichte selbst von eher nachrangiger Bedeutung.
Schlummernder Unterstrom
Aufschlussreicher ist vielmehr die Herkunft des Begriffs
selbst. Seine geistigen Wurzeln hat er in der „Politischen Romantik“. Formuliert
hatte ihn erstmals
Paul de Lagarde,
ein Orientalist und Kulturphilosoph der Jahrhundertwende.
Beim Schriftsteller Julius Langbehn, den man später den Beinamen „Rembrandtdeutscher“
gab, erhielt er danach erst jenen tieferen Sinn, den er
von
Karl Wolfskehl
vor genau hundert Jahren bekommen hat.
Im „geheimen Deutschland“, so die Vorstellung Wolfskehls, „schlummerten“ Kräfte,
die „das erhabenste Sein der Nation verkörperten“. Der einzige Weg, um den
„Unterstrom“ dieser ebenso unsichtbaren wie „ewig unveränderlichen Kraft“ zu
erfassen, geht über „Bilder“ und „Mythen“, die von einer „lebenden Gemeinschaft“
bewahrt und behütet werden müssen. Ihr obliege es, die im „geheimen Deutschland“
verkörperte Dreieinheit von „Schönheit, Adel und Größe“ zu pflegen und sie zu
neuen Reichsufern zu tragen.
Auserwählt wenige
Als diese Gemeinschaft,
die sich um Andenken, Gegenwart und Zukunft dieser „geheimen Kräfte“
Deutschlands kümmere, verstand sich der Kreis, den der Dichter Stefan George in
den Jahren größter wirtschaftlicher Not um sich geschart hatte. Er war
überzeugt, dass zumindest bei wenigen Auserwählten der Glaube an die kommende
Nation und ihre glänzende Wiedergeburt am Leben erhalten werden sollte.
Neben den Brüdern Stauffenberg waren dessen wichtigsten Vertreter: die
Philosophen
Friedrich Gundolf,
Kurt Hildebrandt
und
Max Kommerell,
der Historiker
Ernst Kantorowicz,
der Archivar
Robert Boehringer
sowie der Ökonom
Edgar Salin
und Georges Leibarzt, Walter Kempner, dessen
Bruder Robert
später Chefankläger in den Nürnberger Prozessen war.
Im
Umkreis des Kreises tummelte sich auch der Romanist
Ernst Robert Curtius,
der SPD-Abgeordnete, späterer Minister und Mitverfasser
des Godesberger Programms,
Carlo Schmid
und die Pädagogen Hellmut Becker und Georg Picht, auf die
noch zurückzukommen sein wird.
Schattenreich
Ausgelobt hatte George dieses „Neue Reich“ in einer
gleichnamigen Gedichtsammlung. Sich streng an platonischen und hellenistischen
Werten und Idealen orientierend und dabei an die Tradition Vergils und Homers,
an Dante und Hölderlin anschließend, sollte im „geheimen Deutschland“ sich jene
„Gemeinschaft der Dichter und Denker, der Helden und Heiligen, der Täter und
Opfer vereinen“, welche Deutschland einst hervorgebracht hat.
Mit Empirie oder Realpolitik, mit Gesetzen, Verbänden und Institutionen hatte
dieses „schlummernde“ Deutschland selbstverständlich nichts zu tun, eher mit dem
Glauben, mit Mitteln der Dichtung bessere Formen staatlichen Handelns zu
schaffen. Im Prinzip ging es darum,
Hellas und den Kyffhäuser, Platon
und die Kaisersaga zusammenzuführen, und endlich jenen schlafenden Kaiser zum
Leben zu erwecken, der das Reich zu neuer Blüte und Herrlichkeit führen sollte.
Aus dem Mix von Hellenensehnsucht und Heilserwartung sollte endlich auch dem
deutschen Volk eine Form von „Auserwähltsein“ erwachsen, ein „Messianismus ohne
Messias“.
Gegen-Staat
Der
antiliberale, antidemokratische und antikosmopolitische Geist, den das „geheime
Deutschland“ atmete und der im Begriff des „Reiches“ seinen intimsten und
poetischsten Ausdruck bekam, erfuhr in dem Schwur seinen Höhepunkt, den die
Verschwörer um Claus Schenk Graf von Stauffenberg noch Wochen vor dem Attentat
auf Hitler verfassten. Dort heißt es in unzweideutiger Anspielung und Berufung
auf den Dichterfürsten George:
„Wir glauben an die Zukunft der Deutschen. Wir
wissen im Deutschen die Kräfte […] die Gemeinschaft der abendländischen Völker
zu schönerem Leben zu führen. Wir bekennen uns […] zu den großen Überlieferungen
unseres Volkes, das durch die Verschmelzung hellenischer und christlicher
Ursprünge in germanischem Wesen das abendländische Menschentum schuf. Wir wollen
eine Neue Ordnung, die alle Deutschen zu Trägern des Staates macht und ihnen
Recht und Gerechtigkeit verbürgt, verachten aber die Gleichheitslüge, und beugen
uns vor den naturgegebenen Rängen.“
Schwer entwirrbar
Wie viel
davon auch Gedanken des Dritten Reichs gewesen sind oder dort Eingang gefunden
haben, ist nicht immer leicht zu sagen und daher nur schwer zu entwirren. Die
Differenzen zwischen ihnen waren sicher fließend. Wollten die einen das Reich
Georges „versüdlichen“, es auf das Mittelmeer, auf Sizilien und die Levante hin
öffnen, lag den anderen mehr daran, es „aufzunorden“, es mithin zu germanisieren
und von „undeutschen Elementen“ zu reinigen.
Tatsache ist, dass der Dichter George selbst sich klarer Worte dazu stets
entzogen hat. Noch zwei Tage vor dem Attentat auf Hitler stellte Stauffenberg
einer Gedichtsammlung, die sich später in seinem Besitz fand, das George Wort:
„Wenn einst dies geschlecht sich gereinigt von schande…“ aus dem Gedichtzyklus
„Das Neue Reich“ voran.
Tatsache ist aber auch, dass Ende der zwanziger Jahre ein Kreis von Jungmännern
sich innerhalb des Kreises gebildet hatte, der offen mit den Ideen der Nazis
sympathisierte und im „Neuen Reich“ einen Vorboten des „Dritten Reiches“
erblicken wollte. Und Tatsache ist schließlich auch, dass Georges „rechtzeitiger
Tod“ im Dezember des Jahres der Machtergreifung, ihn die Nötigung erspart hat,
sich explizit dafür oder dagegen zu erklären.
Fließende Übergänge
Offerten von Nazi-Größen,
ihm die Ehrenmitgliedschaft in der nationalsozialistisch reorganisierten
Akademie der Künste anzutragen, widersetzte er sich jedoch erfolgreich. Und
allen Versuchen, ihn nach seinem Tod heim ins Reich zu holen, widersetzte sich
der Kreis, namentlich Robert Boehringer, der das Erbe des Dichters bis zu seinem
Tode verwaltete. Andererseits wollte George, worauf Thomas Karlauf hinweist,
noch in den Tagen, als die Bücher im Reich bereits lichterloh brannten, „die
ahnherrschaft der neuen nationalen bewegung“ an seinen Ideen nicht unbedingt
leugnen.
Offen zutage treten diese Ambivalenzen, als der deutsche
Gesandte in der Schweiz,
Ernst von Weizsäcker, Vater von
Carl Friedrich,
dem Physiker und Friedensaktivisten, sowie
Richard, dem späteren Bundespräsidenten,
am Grab Georges einen Kranz niederlegt und auf der Schleife ein großes
Hakenkreuz prangt. Als am darauf folgenden Tag jemand dasselbe entfernte, nähten
Georges Anhänger dies am nächsten Morgen wieder auf. Dort blieb es solange
sichtbar, bis es von der Natur verblichen ward. Vermutlich verläuft die Trennlinie aber dort, wo die antiliberalen Haltungen und
Überzeugungen in eine „völkische Ideologie“ übergehen, der Faschismus zum
Nationalsozialismus mutiert. Sicher ist dies aber nicht. Zu zweideutig sind
manche Aussagen und Vorstellungen im Werk des Dichters. Für
Franz Neumann,
kritischer Jurist und ehemaliger Schüler von Carl Schmitt,
gehört George trotz aller Verehrung, die er für die Dichterworte übrig hatte, zu
den „wichtigsten geistigen Wegbereitern des Nationalsozialismus“.
Heilsame Diktatur
Bezeugt
ist hingegen ein stark antibürgerlicher Zug im und um den Kreis. Zeit seines
Lebens blieb George ein Bohemien, Aristokrat und Dandy, er war, wenn man so
will, ein Décadent, Lüstling und Revolutionär des Außeralltäglichens. Sein Leben
und Werk beweist, dass das Recht auf Dissidenz, Rebellentum und Widerstand nicht
unbedingt im Besitz der politisch Linken ist.
Georges Staatsidee war gewiss die eines „Outcasts“. In ihr spiegelt sich der
Staat Platons, der von Denkern, Weisen und Wohlgeborenen geführt wird. Sie hat
einen „autoritärer Staat“ zufolge, in dessen Mitte der Dichter George
höchstselbst thront, der eine „heilsame Diktatur“ verspricht.
Georges Kunst war es, junge Menschen an sich zu binden. Vor allem Jungmänner
schauten zu ihm auf und verehrten ihn bis zur Selbstaufgabe und
Selbstverleugnung. George verkörperte in persona, was Max Weber unter
charismatischer Herrschaft verstand. Er war ein pädagogischer Eiferer, der
„Heranwachsende“ und „Weltfremdlinge“ suchte, fand und anzog. Von ihnen
verlangte er rückhaltlose Hingabe und bedingungslose Unterwerfung, eine, die
aber auch auf Unterrichtung, Genügsamkeit und geistiger Freiheit abzielte.
Süß und sehr süß
Auswahl und Aufnahme in den Kreis folgten dabei
einem bewährten Muster. Zunächst musste der Auserwählte seine Lebensführung
grundlegend ändern. Er musste sich von seinem Lebensumfeld distanzieren, von
Herkunft, Stand und Namen, und seine Lebensführung umgestalten.
Die Nähe zum Kreis und die Enge der Beziehung zum Dichterfürsten hing davon ab,
welche Zuneigung der Meister für ihn empfand, aber auch und wie der
Neuankömmling auf das Liebeswerben des Meisters reagierte. Georges Anspruch und
Einfluss ging soweit, dass er auch darüber bestimmen wollte, ob oder wen jemand
aus seinem Freundeskreis heiraten durfte.
Seit Thomas Karlaufs Bahn brechender Biografie ist allgemein bekannt, dass neben
dem gemeinsamen Besingen der Dichter und Denker vor allem Homoerotik und
Päderastie das gemeinsame Band war, das den Kreis im Innern zusammenhielt. Es
waren meist Georges engsten und treuesten Freunde, die dezidiert nach
„Frischfleisch“ für den Meister Ausschau hielten, sie anwarben und dann in den
Kreis einführte.
Im Kreis hatte man für diese Jungs die Kürzel S. und s. S. gefunden, „süß“ und
„sehr süß“. Offenbar war es, wie Karlauf schreibt, die Ambition des sexuell
stets rastlosen Georges, die „Päderastie“ unter dem Deckmantel der griechischen
Philosophie „zur höchsten geistigen Daseinsform zu erklären“. In der
„Knabenliebe“, schreibt Raulff, sollte der „gesamte Sinn staatlichen Handelns“
zum Tragen kommen.
Zellteilung
Große Wirkung auf die Geschichte der
Bundesrepublik Deutschland entfaltete der Dichter paradoxerweise erst, als er
das Zeitliche segnete und bei den Anhängern Unklarheit über das Erbe herrschte.
Zunächst zerbracht der Kreis nur in zwei Teile, in jene, die mit den Nazis
paktierten, in die Partei eintraten und dort Karriere machten, und in jene, die
Juden waren und vor den Nazis ins benachbarte Ausland oder über den Atlantik
flohen.
Erwägten
manche die Gründung einer jüdischen George-Kolonie in Namibia, der ehemaligen
Kolonie „Deutsch-Südwest“, fabulierte der Historiker
Ernst Kantorowicz, der noch kurz
vor seiner Flucht anno 1934 seine letzten Vorlesung in Frankfurt über das
„geheime Deutschland“ gehalten hatte, fünf Jahre später in Berkeley, seine
studentischen Zuhörer wären wegen der Mischung von skandinavischem,
französischem, spanischem und englischem Blut […] ungewöhnlich gutrassige Knaben
wie Mädchen.“
Erst weitere fünf Jahre später strafte Kantorowicz, nun im Dienste des „Army
Special Training Program“ tätig und junge US-Offiziere auf ihren Europaeinsatz
vorbereitend, den politischen Messianismus, dem er selbst mindestens zwanzig
Jahre lang gefrönt hatte, als Grundübel der jüngeren deutschen Geschichte ab. So
nahm es nicht wunder, dass er seine sterblichen Überreste nicht, wie viele
andere George-Jünger über dem Grab des Sektenführers verstreuen ließ, sondern in
der Bucht von St. John auf den Virgin Islands.
Linke Rhizome
Erst als
diese Zirkel sich weiter ausdifferenzierten, sich verzweigten und neue Rhizome
bildeten, begannen Georges spukhafte Ideen und Gedanken richtig zu wirken.
Bezeugt werden sie von Ulrich Raulff bis 1968, dem Jahr, wo Stefan George
hundert Jahre alt geworden wäre und sein Werk von Studenten mit auf die Straße
getragen wird.
Etwa
von
Hans-Jürgen Krahl, letzter
Assistent von Adorno und ideologischer Wortführer der Achtundsechziger. Als er
damals ohne Bleibe durch Frankfurt stiefelte, schleppte er in seinen Taschen die
zweibändige rote George-Ausgabe des Dichters mit sich herum. Bevor er dem SDS
beitrat und dort über dessen geistige Ausrichtung bestimmte, war er Mitglied des
Ludendorffbundes und der Jungen Union.
Oder bei dem jüngst verstorbenen Komparatisten Gert Mattenklott. Er habilitierte
Anfang der Siebziger in Marburg mit einem Bildervergleich von George mit dem
englischen Dandy und Décadent Aubrey Beardsley, der bei George-Verehrern auf
breites Unverständnis stieß. Statt eine ideologiekritische Studie anzufertigen,
zeichnete der junge Mattenklott all jene ästhetischen Strategien nach, mit denen
George und sein Kreis massive Bildpolitik betrieben.
Anzumerken ist, dass er in Marburg über Max Kommerell und Karl Wolfskehl gelehrt
und auf diese Weise enge Verbindung zum George-Kreis gehalten hatte, ehe er
Anfang der Neunziger Jahre Dietmar Kamper, der über Rudolf Kassner, dessen
Platon-Übersetzungen George sehr geschätzt hatte, promoviert hatte, nach Berlin
an die Freie Universität folgte und sich dem dortigen
historisch-anthropologischen Kollegium anschloss.
Rechte Rhizome
Und schließlich auch bei Marion Gräfin Dönhoff, der späteren
Herausgeberin der Wochenzeitung „Die Zeit“.
Sie wohnte nicht nur jener letzten Vorlesung bei, die Ernst Kantorowicz über das
„geheime Deutschland“ an der Frankfurter Universität hielt, sondern war über
ihren Doktorvater Edgar Salin auch mit dem Kreis aufs Engste verbunden. Nach dem
Krieg verstand sie es blendend, sich zwischen all den Minenfeldern zu bewegen,
die die juristische, politische und moralische Aufarbeitung der Naziherrschaft
mit sich brachte.
Einerseits verteidigte sie vehement
Ernst von Weizsäcker im
sogenannten
Wilhelmstraßen-Prozess
publizistisch, andererseits hütete sie sich davor, die
Rechtmäßigkeit des Militärtribunals offen anzuzweifeln.
Im Nachhinein deutete sie Stauffenbergs Attentatsversuch nicht als Versuch, den
Hitlerismus zu zerstören, sondern ganz im Sinne Georges als „Revolte des
Geistes“ gegen den langen Arm des Nihilismus, den Nietzsche seit dem Ende der
Antike am Wirken sieht.
Pädagogisch bewegt
Das
größte Nachleben fand George zweifellos unter Pädagogen. Verwunderlich war und
ist das sicherlich nicht. Zumal Ziel und Zweck des gemeinsamen Rezitierens der
Gedichte die ästhetische und moralische Bildung und Umbildung des gesamten
Menschen war.
Von besonderer Wichtigkeit waren für den Kreis daher stets jene
„Gefühlserlebnisse“, die man im gemeinschaftlichen Tun empfand. In angemessener
Haltung, ehrfürchtig und demütig, sollten die Übenden zum „schönen Leben“
geführt werden. Wer den Film „Club der toten Dichter“ vor Augen hat, bekommt
eine ziemlich klare Vorstellung von dem, was zwischen Mentor und Zögling
ablaufen sollte.
Kult und Ritus harmonierten aber auch prächtig mit Vorstellungen, die sowohl die
„Wandervogelbewegung“ als auch die „pädagogische Reformbewegung“ in der
Zwischenkriegszeit entwickelt hatten. Im gemeinsamen Arbeiten in Werkstätten und
beim Herstellen von Farben, Stoffen und Formen sollte der Einzelne sozusagen
„veredelt“ werden.
Kein
Wunder, dass Georges aus dem platonischen Erziehungsideal extrahierte Ideen vor
allem bei bewegten Erziehern auf fruchtbaren Boden fielen, die Jahrzehnte später
in „Landschulheimen“ und privaten Internatsschulen, in
Salem, in
Wickersdorf
oder auch auf dem
Birklehof
zur Anwendung kamen.
Pädagogen-Staat
Dort, im Schwarzwald, hatte nämlich der George Schüler
Georg Picht, Busenfreund von Carl
Friedrich von Weizsäcker, seine Zelte aufgeschlagen. Unter dem Dach des
Internats hatte er ein Platon-Archiv eingerichtet, während in den Klassenzimmern
und draußen in der Natur ehemalige Nazis in seinem Auftrag daran werkelten,
einen „platonischen Zwergstaat“ zu errichten.
Zusammen mit
Hellmut Becker rief er anno 1964
die „deutsche Bildungskatastrophe“ aus und avancierte so später zum geistigen
Ahnherrn und Wegbereiter der deutschen Bildungsreform, dem zentralen Diskurs der
Bundesrepublik Deutschland. Unter dem Stichwort: „Bildung für alle“ agitierten
Picht und seine Mitstreiter für eine nationale Bildungsoffensive.
Miteinander bekannt waren Georg Picht und Hellmut Becker über ihre beiden Väter
Werner und Carl Heinrich. Beide
stammten aus dem engeren Freundeskreis des Dichters. Leitete dieser vor dem
Krieg das preußische Kulturministerium, war jener zur damaligen Zeit bereits auf
dem Nazitrip. Bestens bekannt war Becker aber auch mit der Familie Weizsäcker.
Neben Georg zählte auch Carl Friedrich von Weizsäcker zu seinen besten Freunden.
Steil nach oben
Nach dem Krieg ging es mit Becker, der vor dem Krieg noch
dem Staatsrechtler
Ernst Rudolf Huber
in Leipzig assistierte, der wiederum Schüler von Carl Schmitt war, steil
nach oben. Erst verteidigte er Ernst von Weizsäcker in Berlin, bei dem auch
Robert Kempner, der Bruder von Georges Leibarzt Walter, die Anklage vertrat.
Dann war in seiner juristischen Praxis Mitte der fünfziger Jahre auch ein
gewisser
Alexander Kluge
als Juniorpartner tätig.
Zehn Jahre später erreichte sein bildungspolitischer Einfluss die Frankfurter
Universität und deren intellektuelle Zirkel. Er saß mit und neben Horkheimer und
Adorno im Beirat des
Instituts für Sozialforschung
und verbreitete dort seine von Freud adaptierten Thesen
der Ich-Bildung. An der Pädagogisierung des Unterrichts und des Schulalltags,
sowie der Psychologisierung von Bildung und Erziehung, die seither den
bildungspolitischen Diskurs hierzulande bestimmen, hat er folglich maßgeblichen
Anteil.
Auch homoerotisch kreativ
Die Herausgeberschaft der
Zeitschrift
Merkur, die
ihm der Birklehof-Absolvent Karl-Heinz Bohrer antrug, lehnte er damals
ab. Stattdessen wurde er 1963 Chef des neu gegründeten
Max-Planck Instituts für Bildungsforschung,
von wo aus dann die Bildungsreform ihren Weg nahm.
Spätestens jetzt weiß man, warum es den Reformern vorwiegend um Erziehung und
Menschenbildung ging, darum, die schöpferischen Kräfte des Menschen
freizusetzen.
Dass damit zuweilen auch „homoerotische“ Leidenschaften gemeint waren, bewies
Becker laut Raulff, als er in einer nächtlichen Gesprächsrunde verlauten ließ,
dass Carlo Schmid diese Phase möglicherweise zu früh abgebrochen habe. Ist es
nur Zufall, dass Georg Picht ausgerechnet zu jenem
Kolleg der Jesuiten in St. Blasien
Brücken gebaut hat, das jetzt auch unter schweren
Missbrauchsverdacht
steht?
Der Unterstrom wirkt
Wie immer man auch diese Dinge bewerten wird, ohne George
und seine Netzwerke, ohne seinen Messianismus und pädagogischen Eifer, und ohne
die Bildungsreform und ihre Vorstellung von Erziehung wäre die Bundesrepublik
Deutschland nicht das geworden, was sie heute ist.
Vor allem der „Katastrophen-Sound“, den Picht und Becker vor knapp einem halben
Jahrhundert anrührten, trug dazu nachhaltig bei. Nur weil das pädagogische
Umfeld bereits dermaßen geebnet war, konnte das Mündigkeit- und
Emanzipationspostulat, das ein Verbund aus kritischen Kritikern, kritischen
Psychologen und kritischen Erziehungswissenschaftler sich auf die Fahnen
schrieb, in die Mitte der deutschen Gesellschaft getragen werden.
Die Programme passten, wie man mittlerweile weiß, wunderbar zu dem seit Humboldt
und Schleiermacher verbürgten Konzept von Bildung. Sie ließen sich problemlos
mit der pädagogischen Reformbewegung und der Idee der „Höherbildung des
Einzelnen“ verbinden. Die Reformer brauchten daher nur die Sprachcodes wechseln,
den geisteswissenschaftlichen Duktus der Menschenbildung mit dem
gesellschaftstheoretischen Neusprech, und fertig war der neue
Bildungssound.
Das George-Mem lebt
Während das öffentliche
Schul- und Bildungswesen rasch die neuen Termini übernahm, konnte sich das
George-Mem im Alternativ- und Privatschulsystem ungehindert aus- und weiter
verbreiten. Neben den „Entschulungsbestrebungen“, die
Ivan Illich in Lateinamerika und
Hartmut von Hentig an der Laborschule in
Bielefeld in den Siebzigern betrieben,
infizierte es vor allem auch die anthroposophisch verseuchte Waldorf-Pädagogik
und die Betreuungsfantasien der Montessori-Epigonen in den Achtzigern.
Neuerdings findet es auch Abnehmer bei der wieder in Mode gekommenen
„Erlebnispädagogik“ oder beim neu erhobenen Loblied auf die „Disziplin“, mit dem
Bernhard Bueb durch die Talkshows tingelt.
Auch dieser Kreis schließt sich, wenn man weiß, dass Ivan Illich von Ernst
Ulrich von Weizsäcker, Sohn von Carl Friedrich und Neffe von Richard,
in höchsten Tönen gelobt wird,
Hartmut von Hentig Birklehof-Absolvent war und Bernhard
Bueb nicht nur sein Assistent in Bielefeld war, sondern später auch langjähriger
Leiter der Schule von Salem.
Bundesdeutscher Krimi
Raulffs Verdienst ist es, jenen „Geist“
aufgedeckt zu haben, der in einzelnen Familien, den Pichts, den Beckers und von
Weizsäckers weitergelebt hat. Die von ihnen fein gesponnenen „schwarze
Netzwerke“ haben den „Bildungsprozess“ der Bundesrepublik „untergründig“
begleitet und ihr Bild und Denken nachhaltig geprägt. Die Geschichte, die er
erzählt, liest sich wie ein Kriminalroman. Zu Recht ist es zum Sachbuch des
Monats Februar gewählt worden. Und zu Recht ist es für den Sachbuchpreis 2010 in
Leipzig nominiert.
Mögen Georges Werke aus dem öffentlichen Bewusstsein der Bundesrepublik nahezu
verschwunden sein und sie an den Universitäten auch nicht mehr gelehrt werden,
die eine oder andere Nachwirkung kann aber nicht geleugnet werden. Noch immer
gibt es einzelne Literatur- und Freundeskreise, die sich im Sinne des Dichters
organisieren und gegenseitig stützen.
Und es gibt auch den einen oder anderen Dichter oder Intellektuellen, der sich
von der lyrischen Hermetik, mit der sich der Dichter nach außen abgeschirmt hat,
angezogen fühlt. So findet man beispielsweise deutliche Bezüge zu Stefan George
vor allem bei Thomas Kling und, in Abstrichen, bei Durs Grünbein. Und auch Frank
Schirrmacher hat immer wieder betont, welche nachhaltige Wirkung die Werke
Georges auf seine literarische Erziehung ausgeübt haben.
Unter dem Pflaster liegt der
Strand
Seit mit dem Aufleben der Pop- und Massenkultur
und der allgemeinen Demokratisierung hierzulande ein neuer Cocktail angerührt
worden ist, scheinen George und sein Kreis tatsächlich „tot“ zu sein und ihre
Mission sich erfüllt zu haben. Sein oder ihr Scheitern war und ist, wenn man so
will, ein erfolgreiches Scheitern.
Andererseits ist das adoleszente Alter, das nach Sinn und Orientierung sucht
oder giert, schon immer anfällig für „jugendbewegte Lehrer“, für
Gemeinschaftsbildungen und deren „raunende Gespräche“ gewesen. George war nicht
nur die zentrale Gestalt, die einer „geistigen Elite“ Heilung versprach, er war
auch ein begnadeter Lehrer, Leser und Lektor, der anderen lesen, sprechen und
schweigen beizubringen wusste.
Der Schoß, aus dem das kriechen kann, ist daher immer fruchtbar. Unter dem
Pflaster, das wussten schon die Frankfurter Spontis, liegt der Strand. Aufgabe
eines nachmaligen Autors wird es daher sein, die Netzwerke des echten,
wirklichen und daher auch „geheimen Deutschland“, die offenbar auch nach 1968
noch richtig gut funktionierten, zu enttarnen.
|
Ulrich Raulff
Kreis ohne Meister
Stefan Georges Nachleben
Eine abgründige Geschichte
544 Seiten
Mit 92 Abbildungen. In Leinen
C.H.Beck
ISBN 978-3-406-59225-6
29,90 €
Leseprobe
Thomas Karlauf
Stefan George
Die Entdeckung des Charisma
Karl Blessing Verlag 2007
816 Seiten
29,95 Euro
|