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Unterwegs in einer Welt ohne Löcher

Bernd Stiegler nimmt uns mit auf seiner Reise in 21 Etappen durch eine Literaturgeschichte der ganz besonderen Art.
»Reisender Stillstand« widmet sich all jenen Reisen der vergangenen rund zweihundert Jahre, die die eigenen vier Wände zum Ziel haben.

Von Jürgen Nieslen-Sikora

Als Spiritus rector so genannter Zimmerreisen gilt Xavier de Maistre, der gegen Ende des 18. Jahrhunderts seine Voyage autour de ma chambre publizierte. Sie ist das Produkt eines sechswöchigen Hausarrests, den er wegen eines Duells in Turin absitzen musste. Stiegler bezeichnet in Anspielung auf Kants Hauptwerk von 1781 de Maistres schmalen Band aus dem Jahre 1794 als „Kritik der reisenden Vernunft“. Darin werden nicht, wie bis dato üblich, beliebte Reiseziele in der Ferne behandelt, vielmehr ist de Maistre allein von dem Wunsch beseelt, die Welt im eigenen Zimmer zu durchqueren.

Für Stiegler gleicht die Schrift einem peripatetischen Blick auf ein das Subjekt widerspiegelndes Interieur, dessen Beschreibung zugleich als Vorläufer der letzten Reise – der des Todes – aufscheint. De Maistres Zimmerreise jedoch begegnet der Kontingenz und Flüchtigkeit des Lebens mit dem ungeheuerlichen Versuch, Sinn und Ordnung wiederherzustellen.

Indem sie sich fragend auf den absoluten Stillstand des Seins vorbereiten, sind de Maistres Reflexionen nicht zuletzt als ein antidromomanisches Manifest zu lesen. Dessen Verfasser deutet das eigene Zimmer als ein vielfältiges und lehrreiches Land: Die Wohnung wird zum Schauplatz der Entdeckungsreise, dient der Erkundung des eigenen Habitus sowie der Überprüfung von Ordnungen. Es ist, wie Stiegler hervorhebt, eine „Welt ohne Löcher“, in der der Zimmerreisende nicht nur Philosoph, Historiker und Naturforscher in einer Person ist, sondern gleichsam lokaler Monarch und Herrscher über ein Universum der Dinge. Den Blick auf die Gegenstände des Zimmers gerichtet, gelangt er wie einst J.L.E.B. Jourdan zu der viel sagenden Erkenntnis: „Ich bin zu reich um zu sterben.“

Stiegler verfolgt nun im Anschluss an de Maistre die Geschichte der Zimmerreise bis in die Gegenwart, wobei er insbesondere die französische Literatur des 19. Jahrhunderts fokussiert. So rekurriert er unter anderem auf Léon Gautier, den französischen Philologen, Literaturhistoriker und Archivar, dessen 1862 veröffentlichte Reise auch Körper und Kathedrale als Räume definiert und diese darüber hinaus in einem Analogieschluss zu einer Einheit verschmelzen lässt. Dies passt zum 19. Jahrhundert insgesamt, waren doch nicht nur Zimmerreisen en vogue, sondern ebenfalls Versuche, die Physis des Menschen in neuer Gestalt erscheinen zu lassen.

Bereist wurden aber auch die Hosentaschen, Zelte, Schubladen, Bibliotheken und andere Dinge. Stiegler betont, noch im 18. Jahrhundert sei das Haus ein Ort gewesen, an dem man lediglich schlief. Im 19. Jahrhundert aber werde es zu einem Rückzugsort, in dem das Leben am Kamin zur ruhenden Beschäftigung par excellence aufsteigt. Die Dinge, mit denen man die Zimmer dekoriert und ausstattet, werden zusehends zu Objekten der Begierde. Man ist von den Dingen, die einen umgeben, geradezu entzückt. Und als dann im 19. Jahrhundert die keramischen Künste wiederentdeckt wurden, bereisten Sammler die Trödelmärkte und Antiquitätenläden Europas auf der Suche nach Bric-à-brac (Gebrauchtwaren). Ein besonderes Interesse galt fortan der Meissner Porzellanplastik des 18. Jahrhunderts, die sich nun einer generationenübergreifenden Leidenschaft sicher sein konnte. Im Allgemeinen waren die Dinge nicht mehr bloßer Besitz, sondern, so Stiegler, verkörperten Gedächtnis und Glück.

Die Innerlichkeit des 19. Jahrhunderts ist ablesbar an der Dingwelt, mit der man sich einrichtete. Und das Leben dieser Zeit fand vornehmlich im Zimmer statt. Als „wohnsüchtig“ bezeichnete schon Walter Benjamin seine unmittelbaren Vorfahren, die in Lehnstuhlreisen den Orbit auskundschafteten. Die Wohnung wird so zum „Futteral des Menschen“. Aber auch die Stadt ist von nun an bewohnter Raum, Landschaft und Stube zugleich. Und der neue Menschentyp des Flaneurs begibt sich auf Forschungsreisen durch die Straßen.

Stiegler deutet solche Miniaturreisen als Form der Distanznahme durch Beobachtung sowie als Prozess der radikalen Selbstentfremdung. Das Zimmer wird zum „Draußen des eigenen Kopfes“. Paradigmatisch steht hierfür die deutsche Schriftstellerin und Herausgeberin der Pomona, der ersten deutschen Frauenzeitschrift, Sophie von La Roche. Am Schreibtisch sitzend lässt sie die Schichten des Holzes in eine Stratographie ihres eigenen Lebens münden.

Dieses Palimpsest aus Menschenleben und Materialsammlung, die Dialektik von Ding und Ich der Bürgerzeit-Travelogues, bricht dann erstmals Gaston Chaumont Mitte des 19. Jahrhunderts auf, indem er seinen Blick aus dem Zimmerfenster hinab auf die Szenerie der Gassen und Plätze richtet. Nicht in erster Linie das Interieur der persönlichen Behausung noch die eigene Subjektivität, sondern „der Raum, der sich dem Blick erschließt“ wird für Chaumont zum Ausgangspunkt seiner Miniaturreise. Stiegler spricht in diesem Zusammenhang von einer Verschiebung der Zimmerreise, bei der das Fenster die Rolle einer „Geschichtsmaschine“ übernimmt.

Auch Arsène Houssaye, der bekannte Kunst- und Literaturkritiker und Freund Gautiers erkennt, dass das Fensteröffnen eine neue Welt erschließt, denn nun könne man, so Houssaye, „überall hinreisen“. Wer in den großen Städten der Gegenwart wohnt, weiß im Übrigen, wovon Houssaye spricht. Mögen die Fensterblicke auch nur bis in den Garten reichen, so wie bei dem Schriftsteller und Satiriker Alphonse Karr, der die Beete und Bäume zu Forschungsgegenständen seiner Reisen erklärt hat. In seiner Voyage autour de mon jardin aus dem Jahre 1845 promoviert er den Garten zum Weltenersatz, sei doch die Ferne ein Ort der Fiktion, die Nähe aber der Ort der Faktizität.

Im Anschluss an die reisenden Franzosen widmet sich Stiegler unter anderem dem amerikanischen Schriftsteller und Mediziner Oliver Wendell Holmes, der glaubte, die Erfindung der Photographie mache das Reisen grundsätzlich überflüssig; Stiegler spricht aber auch die Panoramen, Cosmoramen und Dioramen sowie die bereits von Walter Benjamin eindringlich beschriebenen Kaiserpanoramen als neue Räume und Sujets der Reiseliteratur an.

Vor allem Kaiserpanoramen waren im ausgehenden 19. Jahrhundert sehr beliebt. Sie waren die Nachfolger der großen Rundpanoramen, jener monumentalen Schaustätten des ausgehenden 18. Jahrhunderts. Zu sehen waren in den aufwendig hergestellten Panoramen Schlachten, Feldzüge oder Landschaftsgemälde. Es war die Zeit der großen illusionistischen Schaubilder, die mit der Weltausstellung zur Mitte des 19. Jahrhunderts eine neue Schaulust nach sich zog. August Fuhrmann mit seinen neuen farbigen Glasphotogrammen und dem automatischen Bildtransport steigerte die illusionistischen Reize und war bemüht, auf seine Weise Deutschland groß zu machen.

„Unsicherheit, ja Perversion lebenswichtiger Instinkte und Ohnmacht, ja Verfall des Intellekts. Dieses ist die Verfassung der Gesamtheit deutscher Bürger“ diagnostiziert Benjamin dann auch im Abschnitt Kaiserpanorama seines Buches Einbahnstraße von 1928, und fügt mahnend hinzu: „Aus den ältesten Gebräuchen der Völker scheint es wie eine Warnung an uns zu ergehen, im Entgegennehmen dessen, was wir von der Natur so reich empfangen, uns vor der Geste der Habgier zu hüten. Denn wir vermögen nichts der Muttererde aus Eigenem zu schenken: Daher gebührt es sich, Ehrfurcht im Nehmen zu zeigen … Ist einmal die Gesellschaft unter Not und Gier so weit entartet, daß sie die Gaben der Natur nur noch raubend empfangen kann … so wird ihre Erde verarmen und das Land schlechte Ernte bringen.“

Benjamins „Kaiserpanorama“ liest sich wie ein desillusioniertes Resümee auf das wilhelminische Reich und die ersten Jahre der Weimarer Republik, in der sich nach dem Zusammenbruch der preußisch-protestantischen Gesellschaftsordnung der Kampf der Weltanschauungen zwar verschärfte, die Literatur jedoch weiterhin auf der Suche nach dem Universum in einer Brieftasche war.

Die Anziehungskraft der Zimmerreise bleibt deshalb ungebrochen. Sie wird, wie Stiegler erläutert, gar zu einer Reise der Existenz, in der Nähe und Ferne dialektisch miteinander verwoben sind. An dieser Stelle erinnert Stiegler treffend an einen Ausspruch des dänischen Philosophen Søren Kierkegaard: „Die Kunst aber wäre, Heimweh zu haben ob man gleich zu Hause ist.“ Das Zuhause wird für den Pariser Romancier Joris-Karl Huysmans sogar zu einer Art Exil. Stiegler widmet ihm das wundervolle Kapital „Peregrinationen“, ergo: Aufenthalte in der Fremde, wobei es sich um die unendliche Ferne des eigenen Innenlebens handelt.

Es ist Raymond Roussel, der dieses Innere dann mit auf die Reise nimmt: In seinem Wohnwagen, einem nomadischen Heim. Wie auch der sowjetische Filmemacher Dziga Vertov, ist Roussell der Auffassung, dass die Nähe bislang ungesehen ist, und sie allererst zu entdecken wäre. Einen Verbündeten finden beide in dem französischen Ethnologen Marc Augé, der laut Stiegler bemerkt haben soll, wir lebten in einer Welt, die anzuschauen wir noch nicht gelernt haben. Besondere Betonung legt Augé in diesem Kontext auf die nonlieux, die Nicht-Orte. Es sind Orte der Planung, Orte, die nur mittels Ausweisen begehbar sind, der Eintritt in den Raum jedoch damit verbunden ist, dass unsere Individualität nichts mehr zählt; oder Orte, an denen Einsamkeit und Gleichheit die Regel sind: Im Kaufhaus, in der Metro, in Disneyland, in Bürostädten. Es sind negative Paradiese, überflutet mit „Bildern und Texten einer massenmedial normierten stereotypisierten Welt“. In dieser Welt ist, so Stiegler, die „Gegenwart zum Phantom geworden“.

Nicht zuletzt aus diesem Grund vollzieht sich ein erneuter Wechsel des Raumverständnisses zur Mitte des 20. Jahrhunderts. Er ist, in den Worten des Autors, verbunden mit dem Vorüberziehen der Wörter, beziehungsweise, wie er in Anlehnung an Rilke zu bedenken gibt: „Hinter tausend Sätzen keine Welt.“

Kurz gesagt: Alles schrumpft. Unser Zimmer wird immer kleiner. So wie in Jorge Luis Borges´ Aleph: Jenem Ort, an dem sich alle Orte der Welt zusammenfinden, ein unfassliches Universum, das am Ende zerstört wird und wieder vergessen werden muss. Wenn ein einzelner Punkt im Raum das gesamte Universum enthält, muss er sich konsequenterweise auch selbst enthalten. Es ist diese unendliche Spiegelung, die Borges als Antwort und Frage zugleich unserem auf ein Minimum zusammengeschrumpften Leben hinterlässt.

Stiegler spricht angesichts des von Borges inaugurierten Paradigmenwechsels von einer neu einsetzenden Innenraumforschung und zitiert des Weiteren den deutschen Künstler Timm Ulrichs: „Je tiefer wir eindringen in uns selbst, je mehr wir uns versinken in unsere Physis und Psyche, um so abgründiger, bodenloser, unheimlicher und befremdlicher erscheinen wir uns selbst, und wir erkennen, was wir sind: Fremdkörper.“

Als ein solcher Fremdkörper in einer Welt ohne Löcher hat sich wohl auch der von Stiegler angeführte und viel zu früh verstorbene Künstler Jeff Chapman verstanden. Sein Projekt Access all Areas wollte insbesondere die verborgene Seite der Stadt entdecken, die Tunnel, Krankenhäuser, die Kloaken, Keller und Brunnen, die U-Bahn-Schächte, verlassene Gebäude und Militäranlagen. Sein Ziel ist vergleichbar mit dem Gregor Schneiders. Dessen (Totes) Haus ur, auf die sich Stiegler abschließend beruft, ist eine irritierende Erfahrung der „Unheimlichkeit des vermeintlich heimeligen Hauses“ und dokumentiert die Verwandlung der Geborgenheit in Ungeborgenheit. Letztlich ist dies ein radikaler Gegenentwurf zu de Maistres wohlbehaglicher Zimmerreise von 1794. Gleichwohl gilt auch hier: Das Thema der letzten Reise wird nicht verworfen, im Gegenteil. Es zieht sich wie ein roter Faden durch die gesamte von Stiegler eindrucksvoll erarbeitete Reisegeschichte.

Bei all den Erkundungen durch die Literatur- und Kunstgeschichte weiß Stiegler auch: Eine Rückkehr von der Reise durchs Zimmer gleich welcher Art ist unmöglich. Denn die Welt der Zimmerreisen kennt keine Terminals und Bahnhöfe, und sie hat vor allem keine Löcher, durch die der Reisende wieder entschwinden könnte.
 

Bernd Stiegler
Reisender Stillstand
Eine kleine Geschichte der Reisen im und um das Zimmer herum
S. Fischer
Hardcover

Preis € (D) 22,95 | € (A) 23,60 | SFR 39,90
ISBN: 978-3-10-070635-5


 


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