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Subversiver SF-Klassiker mit Kultstatus Das Drehbuch und die DVD des Science-Fiction-Klassikers aus dem Jahr 1973 von Fritz Müller-Scherz und Rainer Werner Fassbinder, »Welt am Draht«, wurden neu aufgelegt und erweisen sich als erstaunlich zeitgeistresistente Kunstwerke. Von Peter V. Brinkemper Fritz Müller-Scherz und Rainer Werner Fassbinder entwickelten zusammen Storyline und Drehbuch für die Verfilmung von Daniel F. Galouyes 1964 erschienenem Science Fiction Roman „Simulacron-3“. Das Drehbuch zu dem gleichnamigen legendären TV-Zweiteiler aus dem Jahre 1973 ist nun 2010 bei Matthes & Seitz Berlin erschienen; der Film in restaurierter Fassung bei Kinowelt/Arthaus auf DVD. Darin geht es um eine relativ frühe Version einer verschachtelten digitalen und gesellschaftskritischen U-/Dys-Topie. Noch heute wirkt das Titeldesign als visionäre Umsetzung des längst allgegenwärtig gewordenen Barcodes: Scannen statt Rechnen und Sehen. Ein Held arbeitet mit anderen Forschern an einem neuartigen Großrechner-Simulationsprogramm „Simulachron“. Das Institut steht unter staatlich-öffentlicher Aufsicht, ist aber von privaten wirtschaftlichen Interessen umlagert. Es umfasst nicht mehr nur einfache rechnerische Algorithmen, sondern kybernetische Regelkreise und ein komplexes heuristisches Realitäts-Modell, dessen Entwicklung durch umfassende Einspeisung, Beobachtung und angeblich minimale Eingriffe verfolgt wird, um daraus für die eigene Wirklichkeit neue Faktoren und Trends für die Zukunftsvorhersage zu ermitteln. Fast 10.000 intelligente Einheiten oder virtuelle Individuen haben innerhalb des Programms ein lernfähiges Bewusstsein und weisen ein kollektives, menschenähnliches Verhalten auf, bis auf viele kleine Tücken und Macken und vor allem die Ausblendung der Tatsache, dass ihre Existenz und ihre Welt keinen echten, primären Bestand haben, sondern der sekundären Fremd-Nutzung, von der sublimen Erforschung bis hin zu purem Verbrauch und nackter Ausbeutung unterworfen ist. Einerseits ist das Programm auf der Mikroebene durch Modell-Bewußtseine unendlich verfeinert, andererseits ist es dem Automatismus und dem Revisionismus der kybernetischen Fortschrittskonzepte der 60er und 70er Jahre verschrieben. Demokratie, politische Entscheidungen und Meinungsbildung sollen auch in der Wirklichkeit durch selbstläufige Feedback-Steuerungen ersetzt werden. Und wer wollte leugnen, dass die Modell-Bewusstseinsebene der 10.000 Einheiten nicht ständig umfrisiert werden könnte? Tendenzen zur offenen Entwicklung wären jederzeit zurückführbar in geschlossene Labyrinthe. Jener Held erfährt durch bestimmte Anzeichen, dass auch die eigene Realwelt ein Simulakrum, eine als Wirklichkeit angesehene Fälschung, ein unzutreffendes, schiefes, götzenhaftes Konzept sein könnte, in der irreguläre Ereignisse, externe Störungen und verschleierte Eingriffe und massive Korrekturen auftreten, die auf Kolonialisierung durch eine übergeordnete, dritte Realitätsebene mit konträren Interessen verweisen. Im Roman heißt der Protagonist Douglas Hall, die beiden mysteriösen Kollegen, Hannon Fuller und Morton Lynch, von denen der erste, der geniale, aber unbequeme Erfinder, verstirbt, der andere plötzlich, wie durch einen Zaubertrick verschwindet und später wieder, einfach so nebenbei, in der untergeordneten Parallelwelt auftaucht. Im Drehbuch und im Film entspricht dem die Trias: Fred Stiller, Professor Henri Vollmer und Sicherheitschef Günther Lause. Dargestellt werden sie von Vollblutschauspielern wie Klaus Löwitsch, Adrian Hoven und Ivan Desny (hier mit der markigen Synchronstimme von Arnold Marquis, die nur eine von vielen bedeutsamen Voice-Overs anderer Sprecherinnen und Sprecher in „Welt am Draht“ liefert). Das, was Drehbuch und Film noch aus heutiger Sicht zu einem Meilenstein in Sachen der Pre-Cyber-Culture machen, ist die Sensibilität für das Thema des manipulierten Bewusstseins und der Entwirklichung und Kolonialisierung der Lebenswelt durch Technologie, Automation und reines kommerzielles Handeln und Denken. Dazu kommt die scheinbare Langsamkeit und starke Verwirrung durch eine überdrehte, manierierte Filmsprache, die auf vielen Ebenen der normalen Logik von gelingender Kommunikation und realistischer Erzählung widerspricht, ja weit ins Schattenhafte abdriftet und doch dem Kampf um Entlarvung, Aufklärung und Freiheit verpflichtet bleibt. Der Film hat heute noch eine halluzinatorische Kraft, die ihresgleichen sucht. Dafür sprechen die Künstlichkeit und Brüchigkeit real-futuristischer Räume der 70er Jahre und der gelegentlich aus dem Ruder laufende Stilmischmasch, die von Michael Ballhaus’ Kamera differenziert erfassten überbordenden Kulissen, ein Musikfließband unterschiedlichster Stile zwischen Muzak/Liftmusik und elektronischem Psychoterror und die zärtlich-brutalen Regieeinfälle und Paradoxien Fassbinders, die zum Teil erheblich im Wortlaut oder zwischen den Zeilen auf der visuell-dramaturgischen Ebene vom Drehbuch abweichen. Der Film bewegt sich noch innerhalb des platonischen Höhlenparadigmas, aber ohne das Pathos völlig abhängiger Schatten wie im Roman. Höhle, das ist hier eher ein elektronisch erfassbarer Supermarkt, eine entwirklichte Wirklichkeit, die mittlerweile von einer realitätsfremd gewordenen netzimmanenten Cybertheorie eher unterschätzt und die nun ihrerseits zur kommerziellen Karikatur wird. Die langsame Bewegung von „Welt am Draht“ innerhalb der spekulativen „Spelunke“, einer manipulierten Topographie, eines vorprogrammierten und immer wieder umprogrammierbaren Ortes der Ideologie von Polis- und Politikverlust, Konsum, Dienstleistung und körperlicher, seelischer und geistiger Verelendung hat nach wie vor einiges für sich. Es geht nicht um ein romantisches Bürgerkriegs-Märchen, mit zwei Fronten, nicht um jene rasante Entführung von der Ober- in die Unterwelt und um den allzu schnellen, actionbetonten Kampf-Switch zwischen den relativ klar codierten Ebenen (Grün versus Blau, böse Programme und verführte Maschinen gegen die armen Rest-Menschen) wie in „Matrix“. Auch nicht um eine klare Hierarchie der Welten und Realitäten, die Belehrung von Außen, durch jenen von Platon geschilderten Eindringling und Besserwisser, der bei den zunächst körperlich und mental Gefesselten auf Widerstand und Unverständnis stoßen müsste und im modernen Grenzfall nicht mehr Mensch sondern Computer wäre. Eher herrscht ein diffuses Unbehagen, die reflexionslose Vorform eines Cartesischen Zweifels, das Dubitare im Cogitare und der Argwohn, irgendwo einem Deus Malignus zu begegnen, der Fiktion eines großen lügenhaften Gottes, etwa dem wahnsinnsverfallenden Vollmer, oder einem Antiarchitekten, der die Fälschung der kollektiven Manipulation zusammenfasst und destruktiv ausbeutet, vor allem in der Person des Projektleiters Herbert Siskins (präpotent und süffisant: Karl-Heinz Vosgerau) oder einer kaltschnäuzig dominanten Liebes-Göttin wie Eva Vollmer, alias Jinx Fuller (Mascha Rabben, unterstützt von Ingrid Cavens sinnlich aushauchender Stimme). Auf jede Entfesselung folgt die Entdeckung einer neuen Schlinge. Das Programm der virtuellen Entwicklung droht zum Selbstbedienungsladen einer selbstzerstörerischen Expansions- und Dienstleistungsgesellschaft zu verkommen, bei dem auch die Menschen und ihre Charaktere nur noch austauschbare Wegwerf-Waren und Eintags-Komponenten sind. Der deklamierende Stiller wird am Ende während der Kollegenversammlung von der Polizei als vermeintlicher Mörder und Terrorist erschossen, ohne dass damit sein Leben zu Ende wäre, weil es noch massive Restverwertungsinteressen für seine Seele im Hintergrund gibt, für eine Eva, die Faust und Gretchen geradezu die Schau stiehlt.
Rainer Werner Fassbinder
stellt in seinen „Allgemeinen Überlegungen“ vor allem die doppelte,
idealistische und materialistische Dialektik von Herr und Knecht heraus. Es geht
demnach vor allem um den Anstoß des immanenten Bewusstseins, sich eine erste
Distanz zu seiner Welt zu verschaffen und den Überblick über die
Verhältnisse, zwischen Kontinuität und Unordnung, Aufbau und Sabotage, Wahrheit
oder Fälschung durch das Verhalten von Einwohnern und Eindringlingen
anzustreben, die sich allesamt als prekäre Passanten in einem instabilen
Transitraum erweisen. Nicht umsonst erhält Lemmy-Caution-B-Movie-Darsteller
Eddie Constantine, Godards „Alphaville“-Held (1965) einen Ehrenplatz im Rolls
Royce, der um Gottes Willen nicht von Stillers, alias „Echos“ Blut und
Zigarettenrauch verschmutzt werden soll. Und so geht es vor allem um den Draht
oder die Verdrahtung zwischen den Teilwelten, Provinzen und angeblich
vollständigen und wahren Welten, um das scheinbar abgetrennte und doch höchst
parasitär-vielschichtige Verhältnis von jeweils realer Welt und simulierter
Halb-Welt, um das überall schlummernde unglückliche Schläfer-Bewusstsein, um
seine Erweckung oder Manipulation, um die zwanglose oder zwanghafte Aktivierung
der weltimmanenten Einheiten oder möglicherweise welttranszendenten Individuen.
Deren unfreie Mobilisierung ist verbunden mit dem vernichtenden Überschreiten
von Weltzuordnungen und Grenzziehungen, aber auch in der Gegenbewegung, mit dem
manipulativen Fälschen, Kopieren, Duplizieren und Projizieren von Figuren,
Wahrnehmungs-, Emotions- und Denkmustern in und zwischen den Parallelwelten. Als
ob materieller und politischer Rückschritt und Fortschritt in ihren Teilaspekten
eine Art Riesenbank, ein Riesenspiegelsystem mit verschiedenen Abteilungen und
Konten darstellten, wo man verschiedene Modelle von Theorie und Praxis ablegt,
um sie in späteren gewinnbringenden Transaktionen wieder zu aktivieren und
beliebig zu reflektieren und zu kombinieren, um der jeweiligen Gegenseite in
Sachen Entwicklung ein Schnippchen zu schlagen. Diese in den einzelnen Szenen
genial ausgestanzten Stereotype, Brüche, Leerstellen und Halluzinationen einer
vieldeutig lesbaren Geschichte, in der paranoischen Spiralbewegung zwischen
nicht weniger als drei konkurrierenden Welten, zwischen Unterdrückung und
Verschwörung, Befreiung und Ausbeutung, offenem Kampf und verdecktem Rückzug
machen Drehbuch und Film von Anfang bis Ende noch heute so ungemein verstörend.
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Fritz
Müller-Scherz, |
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