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 Glanz&Elend Literatur und Zeitkritik



Petits riens (45)
Von Wolfram Schütte

    


© R. Reifenrath

Lagerdenken – Der Schauspieler, Regisseur & Dramatiker Klaus Pohl ist wohl vor allem den Kennern & Liebhabern des Theaters bekannt. Jetzt wird überall voll Bewunderung sein Roman »Sein oder Nichtsein« besprochen. Darin schildert er die turbulente Entstehungs-, bzw. Produktionsgeschichte von Peter Zadeks exzentrischer »Hamlet«- Inszenierung 1999, die in Straßburg über mehrere Wochen hin erarbeitet wurde, wobei Angela Winkler den Titelhelden, Ulrich Wildgruber den Polonius & Klaus Pohl selbst den Horatio spielte.

Zwanzig Jahre später (!) hat Pohl seine »Erinnerungen« an diese Theaterlegende selbst vor Publikum eingelesen: 5 ½ Stunden »Liebe zum Theater, wo Scheitern und Glückseligkeit so nahe beieinander sind«, wie die Jury des Therese-Giehse-Preises formulierte, die Pohl dafür 2021 auszeichnete. Der »genaue, liebevolle Blick«, mit dem der Selbstvorleser den ganzen »Berufsstand wieder zum Leben erweckte«, wurde ebenso nuanciert wie virtuos besonders bei der Lesung vom Autors beschworen. Nun hat der Galiani-Verlag das ursprüngliche Hörbuch (audio, 10.-€) als Roman (23 €, als ebook 19.99) vorgelegt.  

In keiner der drei Printrezensionen, die ich wahrgenommen habe (NZZ, TAZ, ZEIT), wird die Genealogie dieser explosiven Prosa auch nur erwähnt. Offenbar wussten die Rezensenten des Romans gar nicht, dass er als Vorlesetext zur Welt kam. Zwischen seinem Sein & Nichtsein herrscht die Ignoranz. Bei dieser phantastisch-phantasievollen Beschwörung einer längst vergangenen Theaterwelt dürfte aber die Wahl keine Qual sein. Denn das Hörbuch entspricht musikalisch einer CD der authentischen Aufführung, während der Roman bloß die Partitur anbietet.

                                    *

Gespenster-Aura - Im »Zeitungs-Shop der Süddeutschen Zeitung« fand ich folgenden Begleittext zu einer Reproduktion des Gemäldes »Malcesine am Gardasee«, das Gustav Klimt 1913 gemalt hat: »Original: 1913, auf Leinwand, 1945 auf Schloss Immendorf in Niederösterreich verbrannt. Edition im Fine Art Giclée-Verfahren direkt auf Künstlerleinwand und auf Keilrahmen gespannt. Limitierte Auflage 980 Exemplare. Gerahmt in goldfarbener Massivholzrahmung. Format 80 x 80 cm. 490 €.«  

Sehr merk-, bzw. denkwürdig! Für 490 €  können sich weltweit 980 Personen die täuschend ähnliche Kopie eines mittlerweile inexistenten Bildes kaufen. Ist die Limitierung nicht gewissermaßen die Stellvertretung für die Originalität des verbrannten Objekts, um nicht im Benjaminschen Sinne dessen (zweite) »Aura«?

Ich frage mich, warum nicht längst die großen internationalen Ausstellungen global mit den im Giclée-Verfahren kopierten Bildern bestückt werden. Deren sowie dessen ästhetische Qualität ist bekanntermaßen so adäquat, dass nur taktil, durch Berührung der minimal unebenen malerischen Oberfläche, das Original optisch identifizierbar ist. Keinem Besucher würde diese materielle Differenz auffallen, einzig den jeweiligen Leihgebern & der Versicherungsbranche entstünde dadurch ein Verlust. Nicht aber dem kunstinteressierten Laien & Liebhaber der Malerei.

Warum aber sind die mit immer gigantischeren Besucherzahlen wetteifernden Ausstellungen nicht zu diesem kostengünstigeren, risikoärmeren Modus gewechselt? Könnte es sein, dass gar nicht die Kenntnisnahme/Besichtigung des einzelnen Kunstwerks oder die vergleichende ästhetische Betrachtung/Analyse aus nächster Nähe das Ziel & der Zweck des Besuchs einer Ausstellung sind? Sondern die Illusion der »Aura« des »Originals« (Unikats), bzw. die Auratisierung des gesamten Ausstellungsraums. Sie entsteht als kumulative Konzentration durch die zeitlich & örtlich begrenzte »reale Präsenz« so vieler anderer Originale desselben Künstlers ein »Ereignis«. (Das gleiche Phänomen ist an Filmfestivals erkennbar.)

Mit dem Benjaminschen Begriff der »Aura«, die er ja »im Zeitalter technischer Reproduzierbarkeit« des Kunstwerks »verkümmert« sieht, hat diese Auratisierung wenig zu tun. Konstituierte sich für Benjamin die »Aura« eines Kunstwerks dadurch, dass es ein einzigartiges Original war, das ebenso »unnahbar« wie an einem Ort fixiert war, so entsteht diese Auratisierung durch die materielle Versammlung der aus aller Welt herbeigeholten Originale an einem musealen Ort & für eine limitierte Zeit. Der kollektive Besuch gleicht strukturell einem Kirch-oder Moschee-Gang, wozu sowohl das ehrfürchtig-andächtige Schweigen der herumgehenden Betrachter gehört, als auch deren Bewusstsein von der Fragilität, Kostbarkeit & unbezahlbaren Wertigkeit der ausgestellten Gegenstände – und nicht zuletzt, dass sie nur für eine begrenzte Zeit alle zusammen an diesem Ort »erlebbar« sind. So säkularisiert unser Leben (auch mit der Kunst) ist – in solchen Momenten verdichtet es sich zur Erfahrung eines religiösen Surplus, wie er von »Gläubigen« in ihren Gottesdiensten gesucht oder auch gefunden wird. Das Giclée-Verfahren aber, indem es das Unikat nicht bloß vernichtet, sondern durch das Phantom seiner täuschenden Ähnlichkeit auch noch desavouiert, würde diese kunstreligiöse Aura zerstören.

                                    *

Betriebsschaden? - Kein Buch der jüngsten deutschsprachigen Literatur, das im vergangenen Jahr erschienen ist, wurde von der Printkritik derart über den grünen Klee gelobt wie »Ein von Schatten begrenzter Raum«. Der 762 (!) Seiten starke Roman der türkisch-stämmigen, seit Mitte der Siebziger Jahre bis heute vornehmlich in Berlin lebenden Autorin Emine Sevgi Özdamar wurde nahezu gleichzeitig  in allen Tages-& Wochenzeitungen Deutschlands, der Schweiz & Österreichs als ein einzigartiges literarisches Ereignis gefeiert.

Ich sage nicht, dass diese einmütige Wertschätzung falsch sei. Ohne jeden Zweifel hat die Autorin von Theaterstücken, Erzählungen & Romanen in siebenjähriger Arbeit jetzt ihr Opus Magnum geschrieben. Wie in ihren drei vorausgegangenen Romanen der »Istanbul Berlin Trilogie« nimmt sie ihr gelebtes Exil-Leben zum literarischen Knetstoff, um daraus bislang unerzählten Stationen zu großen poetischen Tableaux eines ungewöhnlichen Romans zu formen. Das vagabundierende Künstler-Bohème-Leben & -Lieben einer jungen emphatischen türkischen Frau in Westeuropa findet sich darin ebenso beschworen wie die grauenhafte, blutige Geschichte der modernen Türkei auf ihrem Rückweg in die reaktionäre national-islamistische Gegenwart. Durchschossen wird diese doppelte Buchführung epischer Evokation von blickwechselhaften lyrischen Zitaten türkischer, deutscher & französischer Dichter.

Das ist eine ebenso originelle wie aber auch prekäre Ästhetik. Kaum glaublich, dass den männlichen & weiblichen deutschen Rezensenten nicht auch kritische Fragen durch den Kopf gegangen sein sollten, nachdem sie die 762 Seiten gelesen hatten. Hatten sie? Hatten sie wirklich den großen breiten epischen Fluss der Erzählerin durchschwommen? Oder doch nur »stichprobenhaft« an dieser oder jener Stelle in ihm ein wenig geplantscht?   

Dass keiner auch nur ein kritisches Wort äußerte, hat mich gegenüber dem vielstimmigen harmonischen Hymnus misstrauisch gemacht. Erst recht war ich verwundert, dass nicht auch nur einer unter den vielen, die in den Printmedien zur Weihnachtszeit Lektüre-bzw. Kauftipps abgaben, das allseits in den Himmel gehobene Buch seinen Lesern empfahl. Keine(r)!

Was sagt uns das?

Waren die exaltierten Jubilierer eine besondere Spezies von Rezensenten, denen noch nicht mal ihre Kolleginnen & Kollegen übern Weg trauen? Hat außer den Sevgi-Özdamar-Hymnikern kein anderer Literatur-oder Kulturredakteur in den Tageszeitungen & Wochenblättern den »Von Schatten begrenzten Raum« der Emine Sevgi Özdamar bislang betreten? Oder wurde mein Erstaunen über die Folgenlosigkeit des scheinbaren Favoritenbuchs 2021 noch bestimmt von einem vergangenen literarischen Leben, in dem jährlich ein Buch im Fokus des allgemeinen Interesses stand?  

Als ich noch selbst tätiges Mitglied des sogenannten Literaturbetriebs war, ist mir ein langes Telefongespräch mit einer sehr geschätzten, kundigen Kollegin in Erinnerung. An dessen Ende kamen wir zu dem uns selbst schockierenden Ergebnis, dass wir beide wirklich intensive literarische Erfahrungen & Kenntnisse nur mit den von uns besprochenen Büchern hatten. Jenseits davon lebten wir aus zweiter Hand & fütterten uns auf mit der Lektüre der Rezensionen unserer Kollegen & Kolleginnen. Es wird heute wohl auch nicht anders sein.

Artikel online seit 19.01.22
 

»Petits riens«,
nach dem Titel eines verloren gegangenen Balletts, zu dem der junge Mozart einige pointierte Orchesterstücke schrieb, hat der Autor seit Jahren kleine Betrachtungen, verstreute Gedankensplitter, kurze Überlegungen zu Aktualitäten des
Augenblicks gesammelt. Es sind Glossen, die sowohl sein Aufmerken bezeugen wollen als auch wünschen, die
»Bonsai-Essays« könnten den Leser selbst zur gedanklichen Beschäftigung mit den Gegenständen dieser flüchtigen Momentaufnahmen anregen.
»
Kleine Nichtse« eben - Knirpse, aus denen vielleicht doch noch etwas werden kann. 

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.

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