Glanz
&
Elend
Magazin für Literatur und Zeitkritik
Die menschliche
Komödie
als work in progress
Ein großformatiger Broschurband
in limitierter Auflage von 1.000
Exemplaren
mit Texten von:
Balzac, Hannah Arendt, Fernando Pessoa, Nicolás
Gómez Dávila,
Stephane Mallarmé, Gert Neumann, Wassili Grossman,
Dieter
Leisegang, Peter Brook, Uve Schmidt und Erich Mühsam u. a. Jetzt versandkostenfrei bestellen!
Brinkempers
Gebrauchsanweisung
für Camerons »Avatar«
0. Die Kamera wird auf 40 Bilder pro Sekunde beschleunigt. Die Tricks sind also
bei der Produktion tiefergelegt und schmeicheln sich ein.
1. Wer "Avatar" mag, hat einiges verstanden und vor allem viel erlebt.
2. Wer "Avatar" nicht mag, hat einiges nicht verstanden.
3. Die Kritiker verlassen in der Mehrheit die Vorführungen beeindruckt und
zugleich ratlos.
4. Die meisten Kritiker sind dabei ehrlich.
5. Bei "Herr der Ringe" gab es in der Kritik eine Mischung aus Belustigung und
Anerkennung.
6. Bei "Matrix" wurde der Tod des alten Erzählkinos bei Teil 1 betont. Jetzt
standen nur noch Bild-Fragmente statt klare Erzählbögen im
Vordergrund. Das Ende wurde als Ballerspiel abgetan. Warum?
7. Bei "Avatar" wird die Handlung von allen möglichen Leuten als
enttäuschend, konventionell, flach kritisiert. Zugleich fallen den
Zuschauern immer wieder die gleichen, manchmal aber auch viele andere
Geschichten ein.
7b) Jetzt, wo der Film kommerziell anzuziehen beginnt, wird das Wohlfühlerlebnis
des Films, seine emotionale Botschaft und seine visuelle Pracht immer deutlicher
als Massenerlebnis wahrgenommen.
8. Aber man vergisst entlegeneres, wie "Baron Münchhausen", "Nomaden der Lüfte",
Ishmael, Queequeg, Kapitän Ahab aus "Moby Dick", "Lederstrumpf", "Der Mann den
sie Pferd nannten" u.v.a.m.
9. Die Übernahme der Mythen und Geschichten wird gesehen, nicht aber
ihre gezielte Veränderung, Variation und Transformation.
9.b) Arbeit am Mythos. Unaufhaltsam.
10. Besonders schlimm ist das Gerede unter den Kritikern über das
neurale Band, "tsahaylu", mit dem die Na'Vi sich über ihren animistischen
Seelen-Haarzopf mit allem Lebendigen, Pferden, Flugdrachen und
dem Secret Tree und der Natur verbinden: Immer ist da von einem
kümmerlichen "USB-Stick" die Rede. Aber ein "tsahaylu" ist sogar mehr
als eine Scartkabel-Verbindung. Es geht um schmiegsame Vereinigung
und Verkabelung, um neuronale, dramatische Interaktion, nicht um
mechanisches, genormtes Reinstecken und Hochladen sowie Abspeichern
und Kopieren.
11. Das Gerede darüber, dass die 3-D-Spezial-Brille nicht richtig
sitzt, dass das lange Zuschauen Kopfschmerzen verursacht, und die
eigene Brille darunter nicht passt, ist auch so eine Sache. Man merkt
gleich, viele Zuschauer, gleich ob Kritiker oder Besucher, haben vielleicht
noch nie eine Taucherbrille, Gasmaske angehabt, und haben noch nie
verschiedene Objektive und Okulare, noch nie Feldstecher, Fernglas,
Opernglas, Linsen- und Spiegelteleskop bei verschiedenen Anlässen,
von der Stern- und Feindbeoachtung bis zur Wildschweinjagd ausprobiert, mit und
ohne eigene Brille. Das ist verräterisch: Das aktive Sehen hält sich hier also
deutlich in Grenzen. Und das aktive Denken?
12. Dann entdecken die 3-D-Anfänger immer wieder ihr eigenes Auge im
3-Brillen-Glas, solange der Kinosaal noch beleuchtet ist. Wow, was für
eine Entdeckung. Also, Licht aus!
13. Schön ist auch, wie von der Süddeutschen Zeitung bis zu anderen
Printmedien, die Behauptung auf- und abgeschrieben wird, Camerons
3-D-Technik sei für den Film als ästhetisches Ausdrucksmittel unwichtig. Das ist
barer Unsinn. Denn er hat nur gesagt, der Film ließe sich auch in 2-D anschauen.
Damit will er sagen: A) "Geht auf jeden Fall ins Kino, um meinen Film zu sehen";
B) "Die Bildwelten sind seriös im Sinne des traditionellen Filmbildes und seiner
kompositorischen Gepflogenheiten gestaltet worden." Aber dahinter steckt mehr.
3-D wird also nicht spektakulär, spielerisch, wie in "Beowulf" oder "Alice im
Wunderland" (da passt es ja im Sinne von Lewis Caroll), sondern
realistisch-sensibel und aufgrund verschiedener Techniken verfeinert, mit
plastischer Tiefe und Bewegungsschärfe eingesetzt.
14. Eine interessante Mischaussage hat Rüdiger Suchsland in Artechock
getroffen. Er macht sich über den Film inhaltlich lustig. Das ist sein gutes
Recht, weil es seine Meinung wiedergibt. Nörgelei und kritisches Urteil sind
allerdings kategorial auseinander zu halten. Auch er reibt sich die Augen und
stellt die üblichen Behauptungen im Sinne von Punkt 12 und 13 auf, weil er sich
bisher nur mit dem flachen Kinobildformat beschäftigt hat. 2-D kommt dem
Kritiker, der gern den Film aus seiner Sicht neu erschaffen will entgegen. Das
Schreibpapier ersetzt die Leinwand, und die Leute, die kein Geld haben, freuen
sich, dass sie wieder mal den Eintritt oder das eigenständige Sehen sparen
können. 3-D überfordert, jedenfalls beim Tiefseetaucher Cameron, weil dann nicht
nur eine Geschichte nach- oder neu-erzählt werden muss, sondern auch Welten
beschrieben werden müssen. Suchsland stellt die These auf, dass Bilder in "Avatar"
selbst gar nicht (immer) so plastisch wirken, sondern (oft) recht flach
daherkommen. Da ist allerdings etwas wahres dran. Aber anders, als Suchsland
unter dem Trommelfeuer der Eindrücke meint.
15. Viele Kritiker und Besucher unterschätzen, dass Cameron deutlich
verschiedene Ästhetiken im Film einsetzt.
16. Ebene Zero: Die erste plastische Naheinstellung ist zugleich die
einsamste Ich-Perspektive, die man sich denken kann: Jake Sully
(Samuel Worthington), als Insasse eines ansonsten finsteren "Sarges",
eines Kryoschlafsegmentes. Er wird damit zum auf der Leinwand
isolierten Gegenüber des Kinozuschauers zwischen Traum, Tod und
Wachzustand, gerade auch wegen seines Augenaufschlags. "Jake" ist
auch eine Anspielung auf die von James Camerons Bruder Mike Cameron konstruierte
mobile Tiefseekamera, die bereits das Titanic-Wrack durchsuchte.
17. Ebene Eins: Dann die relativ plakativen, flächigen, uniformen
Bildkomponenten des Militärs: Fenster, Cockpits, Roboter-"Anzüge" mit
Verstärkungshydraulik, Kantine mit Panoramafenster und Vortragsleinwand, die
Requisten des alten Konfrontationskinos (Ende
70er, 80er Jahre), das mit den Freund-Feind-Klischees vor, im und nach dem Krieg
bestens auskam. Im Grunde das Modell auch noch der heutigen Action- und
Kriegsfilme, noch in der Parodie wie "Transformers". Dieses Modell wird im
Dialog: Jake, klein im Rollstuhl, und Commander Quaritch, mächtig im
Roboter-Anzug, persifliert. Zumal die hydraulischen Riesen immer fordern: "Watch
out", Achtung, Aufgepasst. Das ist die Logik TECHNO-MILITÄRISCHER UND SELEKTIVER
ZWANGS-AUFMERKSAMKEIT.
18. Ebene Zwei: Die Staffelung mehrerer Ebenen und Schichten durch
eine Vielzahl von Monitoren, nebeneinander oder in die Tiefe, wie in
den Hovercrafts von "Matrix", wobei "Avatar" der Name eines der Urschiffe in den
Chroniken von Zion ist, so wie "Nebuchadnezzar". Hier geht es um das Verhältnis
von dunklen stabilem, unabhängigem Raum, Labor, Höhle und den sehr chaotisch,
labrinythisch, diskontinuierlich zerlegbaren Bildwelten auf den Empfängern,
Monitoren, Controllern, während die Außenwelt durch Krieg unbekannt und wüst
geworden ist. Das ist die Logik der DIGITALEN ZERLEGUNG von Aufmerksamkeit und
der vorübergehenden, immer wieder sabotierten PARANOIDEN KONSTRUKTION.
19. Ebene Drei: Das eigentliche Avatar-Pandora-Feeling: Tank und Labor
als Schiffe und Schleusen, die Belüftung des Labors mit der fremden, für
Menschen giftigen Atmosphäre, die Logik des Einatmens wie bei Tiefseetauchen,
Öffnung des Labors, der Schritt und der Lauf in die Außenwelt: Häufiger Nebel im
Industriegebiet der Minen und des Forts, aber auch in den Bergen. Im Dschungel
Strahlen der Sonne, und in den Hochbaum-Savannen mal ein freier Himmel. Sonne,
Planeten, Monde. Eine vielfältige eigenständige, aber fremdartige Natur, in der
Avatare und NA'Vis sich begegnen. Entwicklung vom Haustier zur Wildkatze.
Rewildering des Blicks, der durch die Wildnis zum dreidimensionalen Abstaster
von Situationen wird. Das 3-D-Bild als CONTAINER von Ereignissen zwischen
Spielfilm und Game. Die Vollendung der "Matrix"-Regen-Duell-Ästhetik. Die
verschiedenartigen Landschaften als Erlebnisstützpunkte des Kinobesuchs. Die
RÜCKKEHR DER TOTALEN AUFMERKSAMKEIT ALS GANZKÖRPERLICHE ANSPANNUNG und
ENTSPANNUNG, als RAUSCH der FLUKTUATION; als lokales EINSCHLEUSEN und DURCHATMEN
und als kosmisches DREAMING; statt als üblicher narrativer Kinosuspense. I SEE YOU
statt WATCH OUT.
Die Steigerung im Film von der LANGSAMEN ANNÄHERUNG ZUM FURIOSEN ENDSPURT. "Avatar"
als Vorhof zur Holografie.
20. Der Vorrang des Wie vor dem Was, die Veränderung des Was durch das Wie.
21. Die finale Schlacht als die Rache der Natur an der menschlichen
Ausbeutung und Zerstörung durch Wirtschaft, Wissenschaft und Militär.
Der vorläufige SIEG DER BILDWELT DREI über den Wissenskrieg von Zwei
und den realen Bilder- und Bomben-Krieg von Eins. Der Abschied von
"Aliens" (Bildwelt Eins) und "Matrix" (Bildwelt Zwei) durch Übergang in Bild-
und Erlebniswelt Drei. Deleuze hätte über die Rhizomatik des Secret Tree
gejubelt, auch wenn Godard über die Hollywoodisierung der Natur sicherlich
wieder einmal flucht.
22. Alle Medienfachleute, die über Kino hinausblicken, können dieses
Urteil bestätigen. Die traditionelle Kinokritik hat versagt. Ist sie etwa tot?
Oder führt sie nur noch ein verzweifeltes Nischendasein weniger Gläubiger in
Form einer Sekte? Brauchen wir also neue Kategorien für das mediale Erleben?
Viel Spaß!
Avatar - Aufbruch nach Pandora
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