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Glanz & Elend Magazin für Literatur und Zeitkritik

Die menschliche Komödie
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»Der Lauf der Dinge«

Jürgen Nielsen-Sikora über die »Frequenzen«
des Clemens Setz

»Der Lauf der Dinge« ist der Titel eines knapp dreißigminütigen Films der Künstler Fischli & Weiss aus dem Jahr 1987. Der im Rahmen der Kasseler documenta VIII entstandene Kurzfilm zeigt eine Rube-Goldberg-Maschine, eine improvisierte Kettenreaktion aus verschiedenen Bewegungsimpulsen und chemischen Reaktionen. Müllbeutel und Autoreifen, Konservendosen und Plastikflaschen, Luftballons und andere Gegenstände drehen sich, rollen, fallen, platzen und stoßen das nächste Element an, das den Bewegungsimpuls aufnimmt und fortführt. Das Ende der einen ist der Beginn der folgenden Bewegung. Die Spannung dieser scheinbar sinnlosen Verkettung verschiedenster Dinge speist sich aus der Erwartungshaltung der Zuschauer, die nicht wissen, ob und wie sich das Prinzip der Kettenreaktion im Film fortsetzt.

Clemens Setz´ Buch „Die Frequenzen“ ist ein Rube-Goldberg-Maschinentext, der mit dem Gang auf die Toilette eines Zugabteils und der Mühe des Protagonisten Walter Zmal, seinen Urinstrahl zu kontrollieren, anhebt. Es sind zunächst immer die kleinen Dinge, die aus den Fugen geraten und zum Riss, zur Katastrophe anschwellen. Sie stoßen eine Kettenreaktion von Ereignissen und Beziehungsdramen an, die meist unbemerkt einsetzt. In den Hauptrollen: Der Ich-Erzähler Alexander Kerfuchs, einstiger Schulfreund von Walter, und Valerie Messerschmidt, Psychotherapeutin Anfang 30 mit eigenwilligen Behandlungsmethoden und das Bindeglied der beiden jungen Männer, deren Freundschaft vor Jahren abrupt endet. Nun kreuzen sich ihre Wege erneut, und das Verhängnis nimmt seinen Lauf.

Valerie bildet eine Art Fluchtpunkt der Geschichte. Von ihr aus spannt Setz ein unglaublich dichtes, schaurig-schönes und humorvolles Netzwerk an Einzelschicksalen und Beziehungsgeschichten, das sich in seiner Komplexität nicht annähernd rekonstruieren lässt. Denn da gibt es auch noch die von einem Tinnitus befallene Gabi, die sich in Walter verliebt, Valeries durch die Stadt Graz umherirrende Hündin Uljana, Alexanders scheidende Liebe Lydia und schließlich den geheimnisvollen Wilhelm Steiner, Vermieter von Alexanders Wohnung mit einem Hang zu mysteriösen Taten und beseelt von dem Glauben an Zeitfliegen. Schließlich ist da noch Valeries Vater, ehemals Mitarbeiter von Walters Vater, seit einem merkwürdigen Unfall ein eher bemitleidenswerter Fall, und Georg Kerfuchs, der irgendwann einen sonderbaren Riss im Keller des eigenen Hauses entdeckt und wenig später Sohn und Frau „in einer unwirklichen Winterlandschaft“ zurücklässt.

Setz zeichnet außergewöhnliche Figuren. Sie haben zum Beispiel Kopfschmerzen, „die reichen ungefähr von dieser Wand des Zimmers bis dahin, zu dem Schrank mit den Büchern.“ Und die Risse, die sie in Kellerwänden entdecken, haben ihren Ursprung im Menschen selbst und pflanzen sich quer durchs Universum fort. Ist der Riss einmal entdeckt, wird ihn niemand mehr los. Es ist, als versuchten sie alle, ihr inneres „Uhrwerk mit einem Presslufthammer zu reparieren.“ Das Bild kommt gleich zweimal im Buch vor. Und der Leser spürt unweigerlich die unendliche Verknüpfung aller belebten und unbelebten Erscheinungen, über die Blanqui einst als Gefangener der Festung Château du Taureau in der Bucht von Morlaix während der Pariser Kommune schrieb und konstatierte, allen Menschen widerfahre Ewigkeit in jedem Augenblick ihrer Existenz. Doch, so Blanqui weiter, sei Fortschritt in diesem zur dauerhaften Wiederholung verurteilten System praktisch ausgeschlossen. Was wir so nennen, sei lediglich eingemauert in die Erde und vergehe mit ihr. Denn stets und überall auf Erden herrsche das gleiche Drama, die gleiche Dekoration: Eine Menschheit, die berauscht sei von ihrer eigenen Größe: „Stets und überall hält sie sich selbst für das Universum und lebt in ihrem Gefängnis, als wäre es unermesslich, um doch bald mit dem Erdball in den Schatten zu sinken, der mit ihrem Hochmut aufräumt.“

Alle Figuren in Setz´ Roman sinken in diesen Schatten und agieren als wären sie „eine gespannte Saite über einem Abgrund.“ Selbst in den hocherotischen Szenen zwischen Lydia und Alexander, vor allem aber in der Beziehung zwischen Gabi und ihrem Mann Wolfgang, zugleich ein alter Kumpel von Alexanders Vater Georg, ist dieser Abgrund zu spüren. Nicht nur Gabi reagiert „allergisch auf das Universum, in dem alle Lebewesen allein und verlassen“ sind. Sie wundert sich über all die Menschen, „die Raumanzüge anziehen, mit Messer und Gabel Fleisch zerteilen, … Schminke auftragen, unerreichbar weit entfernte Gesteinsbrocken nach irgendwelchen Vorfahren benennen, applaudieren, Maßanzüge anfertigen … und einander Nobelpreise zuteilen.“
Gabis Reaktionen deuten an, dass Wahnsinn und Normalität die siamesischen Zwillinge unserer Psyche sind, und dass sich daran auch nichts ändert, wenn sie sich von Wolfgang in den Arsch ficken lässt oder im Fernsehen WWF-Wrestling läuft. Dazu Alexander: „Für die einen ist WWF ein Verein, der die Veranstaltung von Profischaukämpfen organisiert, für die anderen eine Tierschutzorganisation. Die Welt zerfällt in diese beiden Kategorien. Wer in beiden zuhause ist, ist wahnsinnig.“ Wahnsinnig schon allein aus dem Grunde, dass  jede Menschenseele auf einer anderen Frequenz ihr Liedchen spielt. Die Welt ist ein Orchester, aber es fehlt so etwas wie eine Grundmelodie. Stattdessen gibt es nur ein sinnloses Durcheinander von Tönen, Buchstaben, Farben und ungeordneten Sinneseindrücken.

Die Frequenzen sind das Entscheidende, doch sie wechseln dauernd, die Funkverbindungen zwischen den Menschen bleiben gestört. Gabis Versuch, die Dinge wieder gerade zu biegen, nämlich „alle Frequenzen, einfach alle“ in ein Zahlensystem zu zwängen, scheitert kläglich. Die Rube-Goldberg-Maschinerie läuft unbeirrt weiter und die Helden des Irrsinns fragen sich, wie sie gerne sterben würden. In Momenten äußerster Klarheit und Anspannung sagen sich Setz´ Helden zwar: „Ich muss herauskriegen, wer Recht hat, die Gesellschaft oder ich“, doch es nützt nichts. Die Antwort steht immer schon fest: Es ist unmöglich, „in dieser Welt zu leben, ohne sie selbst auszuquetschen wie eine Zahnpastatube“, wobei auch dieses Ausquetschen nur ein notwendiges Element des Rube-Goldberg-Universums bleibt, um die Dinge am Laufen zu halten.
So auch in einer eindrucksvollen und hintergründigen Stelle des Buches über das bucklichte Männlein, dessen Geschichte bereits Walter Benjamin im »Deutschen Kinderbuch« von Georg Scherer zitiert. Im Original endet das Stück mit den Worten: „
Geh ich in mein Kämmerlein, / Will mein Bettlein machen, / Steht ein bucklicht Männlein da, / Fängt als an zu lachen. / Wenn ich an mein Bänklein knie, / Will ein bißlein beten, / Steht ein bucklicht Männlein da, / Fängt als an zu reden: / »Liebes Kindlein, ach, ich bitt, / Bet fürs bucklicht Männlein mit!«“

Benjamin schreibt dazu: „So stand das Männlein oft. Allein, ich habe es nie gesehn. Es sah nur immer mich. Und desto schärfer, je weniger ich von mir selber sah. Ich denke mir, daß jenes »ganze Leben«, von dem man sich erzählt, daß es vorm Blick der Sterbenden vorbeizieht, aus solchen Bildern sich zusammensetzt, wie sie das Männlein von uns allen hat. Sie flitzen rasch vorbei wie jene Blätter der straff gebundenen Büchlein, die einmal Vorläufer unserer Kinematographen waren. Mit leisem Druck bewegte sich der Daumen an ihrer Schnittfläche entlang; dann wurden sekundenweise Bilder sichtbar, die sich voneinander fast nicht unterschieden.“

Die Wendung, die Clemens Setz nun dieser Geschichte gibt, ist bemerkenswert und sagt viel aus über die Philosophie seines Romans: „Die Frau packt das bucklichte Männlein und zerrt es zu dem Ofen, der noch knistert. Laut weint das Männlein und bittet um Vergebung … Aber zu spät, die Frau stopft es durch die enge Ofentür, das bucklichte Männlein fällt zwischen die glühenden Kohlen, und schon wird die Tür verriegelt. Im Zimmer wird es warm.“
Wenn, wie Benjamin schreibt, nur das Männlein gottesgleich den Blick für das Ganze hat, dann ist Setz´ Protagonisten ebendieser Blick suspekt geworden. Sie ertragen ihn nicht und vernichten ihn schlussendlich durch ihr Handeln. Auch ein Gebet hilft nicht weiter: „Wenn ein Gott in seiner Qual verstummt“ heißt es an einer Stelle in Anlehnung an Goethes Tasso. Bald schon setzt eine neue Kettenreaktion, ein unvorhergesehener Lauf der Dinge ein.
„Die Frequenzen“ ist ein hochintelligentes, mit seinen unzähligen Anspielungen pointenreiches, wundersames, wundervoll philosophisches Buch, geschrieben in einer fesselnden, poetischen und unermüdlich nachdenklich stimmenden Sprache, kostbar versehen mit ungewöhnlichen Bildern und einzigartigen Gedankengängen, die langsam in ein großartiges Finale münden. Das Buch zieht einen mit jeder Seite weiter hinab in seine Tiefe. Es ist, wie ich in Anlehnung an Daniela Strigl behaupten will, als träfen Fischli & Weiss auf John Cameron Mitchell und Haruki Murakami im hochfrequentierten Zentrum einer Rube-Goldberg-Maschine. Jürgen Nielsen-Sikora

 

Clemens J. Setz
Die Frequenzen
Roman
Residenz Verlag
720 Seiten
Format 125x205 Hardcover
EUR 24,90 / sFr 44,00
ISBN: 9783701715152

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