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04.12.09, 14:53
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Die menschliche
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»Der
Lauf der Dinge« »Der Lauf der Dinge« ist der Titel eines knapp dreißigminütigen Films der Künstler Fischli & Weiss aus dem Jahr 1987. Der im Rahmen der Kasseler documenta VIII entstandene Kurzfilm zeigt eine Rube-Goldberg-Maschine, eine improvisierte Kettenreaktion aus verschiedenen Bewegungsimpulsen und chemischen Reaktionen. Müllbeutel und Autoreifen, Konservendosen und Plastikflaschen, Luftballons und andere Gegenstände drehen sich, rollen, fallen, platzen und stoßen das nächste Element an, das den Bewegungsimpuls aufnimmt und fortführt. Das Ende der einen ist der Beginn der folgenden Bewegung. Die Spannung dieser scheinbar sinnlosen Verkettung verschiedenster Dinge speist sich aus der Erwartungshaltung der Zuschauer, die nicht wissen, ob und wie sich das Prinzip der Kettenreaktion im Film fortsetzt. Clemens Setz´ Buch „Die Frequenzen“ ist ein Rube-Goldberg-Maschinentext, der mit dem Gang auf die Toilette eines Zugabteils und der Mühe des Protagonisten Walter Zmal, seinen Urinstrahl zu kontrollieren, anhebt. Es sind zunächst immer die kleinen Dinge, die aus den Fugen geraten und zum Riss, zur Katastrophe anschwellen. Sie stoßen eine Kettenreaktion von Ereignissen und Beziehungsdramen an, die meist unbemerkt einsetzt. In den Hauptrollen: Der Ich-Erzähler Alexander Kerfuchs, einstiger Schulfreund von Walter, und Valerie Messerschmidt, Psychotherapeutin Anfang 30 mit eigenwilligen Behandlungsmethoden und das Bindeglied der beiden jungen Männer, deren Freundschaft vor Jahren abrupt endet. Nun kreuzen sich ihre Wege erneut, und das Verhängnis nimmt seinen Lauf. Valerie bildet eine Art Fluchtpunkt der Geschichte. Von ihr aus spannt Setz ein unglaublich dichtes, schaurig-schönes und humorvolles Netzwerk an Einzelschicksalen und Beziehungsgeschichten, das sich in seiner Komplexität nicht annähernd rekonstruieren lässt. Denn da gibt es auch noch die von einem Tinnitus befallene Gabi, die sich in Walter verliebt, Valeries durch die Stadt Graz umherirrende Hündin Uljana, Alexanders scheidende Liebe Lydia und schließlich den geheimnisvollen Wilhelm Steiner, Vermieter von Alexanders Wohnung mit einem Hang zu mysteriösen Taten und beseelt von dem Glauben an Zeitfliegen. Schließlich ist da noch Valeries Vater, ehemals Mitarbeiter von Walters Vater, seit einem merkwürdigen Unfall ein eher bemitleidenswerter Fall, und Georg Kerfuchs, der irgendwann einen sonderbaren Riss im Keller des eigenen Hauses entdeckt und wenig später Sohn und Frau „in einer unwirklichen Winterlandschaft“ zurücklässt. Setz zeichnet außergewöhnliche Figuren. Sie haben zum Beispiel Kopfschmerzen, „die reichen ungefähr von dieser Wand des Zimmers bis dahin, zu dem Schrank mit den Büchern.“ Und die Risse, die sie in Kellerwänden entdecken, haben ihren Ursprung im Menschen selbst und pflanzen sich quer durchs Universum fort. Ist der Riss einmal entdeckt, wird ihn niemand mehr los. Es ist, als versuchten sie alle, ihr inneres „Uhrwerk mit einem Presslufthammer zu reparieren.“ Das Bild kommt gleich zweimal im Buch vor. Und der Leser spürt unweigerlich die unendliche Verknüpfung aller belebten und unbelebten Erscheinungen, über die Blanqui einst als Gefangener der Festung Château du Taureau in der Bucht von Morlaix während der Pariser Kommune schrieb und konstatierte, allen Menschen widerfahre Ewigkeit in jedem Augenblick ihrer Existenz. Doch, so Blanqui weiter, sei Fortschritt in diesem zur dauerhaften Wiederholung verurteilten System praktisch ausgeschlossen. Was wir so nennen, sei lediglich eingemauert in die Erde und vergehe mit ihr. Denn stets und überall auf Erden herrsche das gleiche Drama, die gleiche Dekoration: Eine Menschheit, die berauscht sei von ihrer eigenen Größe: „Stets und überall hält sie sich selbst für das Universum und lebt in ihrem Gefängnis, als wäre es unermesslich, um doch bald mit dem Erdball in den Schatten zu sinken, der mit ihrem Hochmut aufräumt.“
Alle Figuren in Setz´
Roman sinken in diesen Schatten und agieren als wären sie „eine gespannte Saite
über einem Abgrund.“ Selbst in den hocherotischen Szenen zwischen Lydia und
Alexander, vor allem aber in der Beziehung zwischen Gabi und ihrem Mann
Wolfgang, zugleich ein alter Kumpel von Alexanders Vater Georg, ist dieser
Abgrund zu spüren. Nicht nur Gabi reagiert „allergisch auf das Universum, in dem
alle Lebewesen allein und verlassen“ sind. Sie wundert sich über all die
Menschen, „die Raumanzüge anziehen, mit Messer und Gabel Fleisch zerteilen, …
Schminke auftragen, unerreichbar weit entfernte Gesteinsbrocken nach
irgendwelchen Vorfahren benennen, applaudieren, Maßanzüge anfertigen … und
einander Nobelpreise zuteilen.“
Die Frequenzen sind das
Entscheidende, doch sie wechseln dauernd, die Funkverbindungen zwischen den
Menschen bleiben gestört. Gabis Versuch, die Dinge wieder gerade zu biegen,
nämlich „alle Frequenzen, einfach alle“ in ein Zahlensystem zu zwängen,
scheitert kläglich. Die Rube-Goldberg-Maschinerie läuft unbeirrt weiter und die
Helden des Irrsinns fragen sich, wie sie gerne sterben würden. In Momenten
äußerster Klarheit und Anspannung sagen sich Setz´ Helden zwar: „Ich muss
herauskriegen, wer Recht hat, die Gesellschaft oder ich“, doch es nützt nichts.
Die Antwort steht immer schon fest: Es ist unmöglich, „in dieser Welt zu leben,
ohne sie selbst auszuquetschen wie eine Zahnpastatube“, wobei auch dieses
Ausquetschen nur ein notwendiges Element des Rube-Goldberg-Universums bleibt, um
die Dinge am Laufen zu halten. Benjamin schreibt dazu: „So stand das Männlein oft. Allein, ich habe es nie gesehn. Es sah nur immer mich. Und desto schärfer, je weniger ich von mir selber sah. Ich denke mir, daß jenes »ganze Leben«, von dem man sich erzählt, daß es vorm Blick der Sterbenden vorbeizieht, aus solchen Bildern sich zusammensetzt, wie sie das Männlein von uns allen hat. Sie flitzen rasch vorbei wie jene Blätter der straff gebundenen Büchlein, die einmal Vorläufer unserer Kinematographen waren. Mit leisem Druck bewegte sich der Daumen an ihrer Schnittfläche entlang; dann wurden sekundenweise Bilder sichtbar, die sich voneinander fast nicht unterschieden.“
Die Wendung, die Clemens
Setz nun dieser Geschichte gibt, ist bemerkenswert und sagt viel aus über die
Philosophie seines Romans: „Die Frau packt das bucklichte Männlein und zerrt es
zu dem Ofen, der noch knistert. Laut weint das Männlein und bittet um Vergebung
… Aber zu spät, die Frau stopft es durch die enge Ofentür, das bucklichte
Männlein fällt zwischen die glühenden Kohlen, und schon wird die Tür verriegelt.
Im Zimmer wird es warm.“ |
Clemens J. Setz
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