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Ein Leben in Fragmenten Ein Mann namens Daniel Stein rettete das Leben hunderter Juden und Kommunisten. Daniel Stein überlebte auch drei Todesurteile. Er haderte mit Gott und gab sich zugleich vertrauensvoll in dessen Hände. Daniel Stein erweckte die hebräische Urkirche zu neuem Leben und starb am Ende unter mysteriösen Umständen. Wer war dieser Daniel Stein? Eine Annäherung als Roman. Von Thomas Hummitzsch
Nach dem Verfassen ihres
neuen Romans »Daniel Stein« wurde die russische Schriftstellerin Ljudmila
Jewgenjewa Ulitzkaja von ihrem Sohn gefragt, ob ihr klar sei, dass sie mit der
Veröffentlichung dieses Buches ihre schriftstellerische Karriere zu Grabe trage?
»Nach diesem Buch kannst Du höchstens noch über Katzen und Hunde schreiben“,
zitiert Ulitzkaja schmunzelnd selbst ihren Sohn bei der Vorstellung des Buches
in Berlin. Dabei könne Sie ihn gut verstehen, denn auch sie habe sich vor drei
Jahren, als der Roman in Russland erschien, gefragt, was nach diesem Buch noch
kommen könne. »Ich hatte in der Tat das Gefühl, alles gesagt zu haben, was ich
im Leben jemals sagen wollte«, gestand die 66-Jährige Russin im Betsaal des
ehemaligen Jüdischen Waisenhauses in Berlin Pankow. Aber das sei ihr nach jedem
ihrer Romane so gegangen, schiebt sie eilig nach. In ihrem neuen Roman lässt Ljudmila Ulitzkaja das 20. Jahrhundert vor unseren Augen noch einmal Revue passieren, ein Jahrhundert voller Schrecken und Gräuel, Ideologien und Doktrinen. Aber auch ein Jahrhundert der Hoffnungen und Entwicklungen, Wandlungen und Richtungsänderungen, der Annäherung und Versöhnung. Dieses vorwiegend europäische Jahrhundert bildet in »Daniel Stein« die Kulisse für eine Verarbeitung eines einzigartigen Lebens. Dem von Oswald Rufeisen, einem Vermittler zwischen den Völkern und Religionen, das den biografischen Rahmen für ihre Romanfigur Daniel Stein bildet.
Ulitzkaja lernte den als
polnischen Juden und später zum Katholizismus konvertierten »Bruder Daniel“ 1992
selbst kennen und geriet in den Bann seines ergreifenden Lebens. Sie war
fasziniert von dieser Biografie, die so einzigartig und verrückt ist, wie kaum
eine andere. Rufeisens Erlebnisse übertreffen viele der außergewöhnlichen und
unfassbaren Überlebensgeschichten der europäischen Juden.
Russische Partisanen
nehmen den in deutscher Uniform gekleideten und mit unendlich vielen
Heiligenbildchen behangenen Rufeisen fest. Auch sie haben schon seinen Tod
beschlossen, als sich Juden aus Mir für ihn aussprechen und er erneut verschont
wird. Seite an Seite kämpft er nun gegen die deutschen Soldaten. Israel sollte seine Heimat bleiben bis zu seinem Tod 1998. Hier lässt er die Urgemeinden nach christlich-jüdischem Vorbild wieder entstehen. In einzigartiger Weise betreibt er den Dialog zwischen der christlich-katholischen und der jüdischen Konfession. »Ich habe einen Auftrag von Gott empfangen: die Kirche in Israel, in der hebräischen Sprache und Kultur wieder zu rehabilitieren, ihren Platz in der Gesamtkirche wieder einzunehmen, diese Gesamtkirche wieder mit ihrer Wurzel zu verbinden.« Rufeisen blieb bei seinen Bemühungen stets Polarisierer, scheute nie den Konflikt, ebenso wenig wie den Kontakt. Vielen Christen galt er als zu jüdisch, vielen Juden als zu christlich. Bis zu seinem Tod war Oswald Rufeisen alias Pater Daniel in Israel umstritten, aber auch geliebt. Seine innere Heimat war die hebräische Kirche, das Haus Israel. Sein Ziel war bis zuletzt einen Beitrag zur Wiedervereinigung der Kirchen zu leisten. Eine geradezu wahnwitzige Idee ist es, dieses Leben in einen Roman zu übertragen. Wer soll diesen Roman lesen und sich damit einer Fiktion hingeben, die sich eigentlich gegen jede, auch nur denkbare Realität sperrt? Ein Gedanke, der wohl auch Ljudmila Ulitzkaja umtrieb, denn einen Roman hatte Sie anfangs nicht beabsichtigt. Sie wollte zunächst einen Film drehen, wohl um der absurden Geschichte ein echtes Gesicht geben zu können. Diese Pläne verliefen aber im Sand. Mitte der neunziger Jahre sollte sie ein Sachbuch über Oswald Rufeisen ins Russische übersetzen, doch sie erkannte »Pater Daniel« darin nicht wieder. Daraufhin bat sie die Autorin, der russischen Ausgabe ein Vorwort und Kommentare hinzufügen zu dürfen. Diese antwortete ihr daraufhin beleidigt, dass sie doch ein eigenes Buch schreiben solle, wenn ihr das vorliegende nicht gefalle.
Ein schlagendes Argument,
so dass Ulitzkaja die Übersetzung fallen lässt und sich zunächst an das
Schreiben eines besseren Sachbuches machte. Dies scheiterte zweimal; an der
Fessel der dokumentarischen Wahrheit, wie sie selbst sagt. Literarische
Wahrheit, das wäre kein Problem für die Roman- und Theaterstückautorin gewesen.
Aber eine spannende Präsentation historisch-dokumentarisch-biografischer
Tatsachen, ohne die geringste Abweichung zugunsten der Dramaturgie, das gelang
Ulitzkaja nicht. In ihr reifte der Entschluss, den Roman zu schreiben, den wir
jetzt in den Händen halten können.
Die Freiheit des Romans
gab der russischen Autorin die Möglichkeit, zahlreiche Menschen aus ihrem Umfeld
in den Roman einzubringen. Diese hat sie als charakterliche und biografische
Vorbilder für ihre zahlreichen Figuren im Roman herangezogen. So entsteht ein
Kaleidoskop aus historischen Personen und Dokumenten, versetzt mit fiktiven
Komponenten und fiktiven Existenzen, denen sie wiederum historisch verbriefte
Eigenschaften und Ereignisse zuschreibt. Daneben stehen noch unverfälschte
Briefwechsel und Interviews der Autorin mit Menschen, die in einem engen
Verhältnis zu Pater Daniel standen.
Ljudmila Ulitzkaja
präsentiert zugleich das Leben dieser verschiedenen und voneinander unabhängigen
Personen mit all ihren Sorgen, Mühen und Hoffnungen vor. Dabei bilden zum großen
Teil intime Dokumente, wie Briefe, Tagebucheinträge, biografische Rückblicke,
Erinnerungen und Selbstgeständnisse die Grundlage, aus denen jeweils ein Stück
Geist Daniel Steins emporsteigt. Daneben ergänzen Auszüge aus Biographien,
Telegramme, Akten und Zeitungssausschnitte die Collage, aus der zunehmend ein
einheitliches Bild dieses außergewöhnlichen Paters entsteht. Ulitzajas Jahrhundertroman wendet sich in der Reflektion des Lebens Oswald Rufeisens gegen Totalitarismus jedweder Art. Dabei bildet der Roman ein Panoptikum des jüdischen und israelischen Schicksals im 20. Jahrhundert, angefangen bei der Flucht aus dem osteuropäischen Ghetto bis hin zur Ermordung Yitzak Rabins durch einen radikalen Siedler. Um Pater Daniels Schicksal ordnet Ulitzkaja die innerkirchlichen Konflikte und Strömungen an und schließt so den Spannungsbogen wieder zu seiner realen Vorlage. Rufeisen selbst vermochte die Glaubensdogmen seiner unmittelbaren multireligiösen Umwelt – Israel als Ursprung der Weltreligionen ist mit quasireligiösen Splittergruppen und Heilssekten bis an den Rand gefüllt – nicht aufzulösen. Dies zeigen die Ereignisse nach seinem Tod. 1998 kam er bei einem Verkehrsunfall um, von dem man sagt, dass er vermutlich ein getarntes Attentat gewesen sei. Anschließend fand Rufeisen weder auf einem jüdischen noch auf einem christlichen Friedhof seine letzte Ruhestätte. Beides wurde ihm von den Kirchenoberen verweigert. Oswald Rufeisen wurde schließlich auf einem kleinen arabischen Friedhof in der israelischen Hafenstadt Haifa beigesetzt.
Ljudmila Ulitzkajas Roman
»Daniel Stein« ist keineswegs einfach nur eine romaneske Biografie eines
Rufeisen-Alter-Egos. Er ist viel mehr als das. Er ist ein wirklich großes Buch,
das bleiben wird. In einer wahrlich großartigen Übertragung ihrer erfahrenen
Übersetzerin Ganna-Maria Braungardt. |
Ljudmila
Ulitzkaja
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