Glanz & Elend Magazin für Literatur und Zeitkritik




Die menschliche Komödie
als work in progress


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Zum 5-jährigen Bestehen ist ein großformatiger Broschurband in limitierter Auflage von 1.000 Exemplaren mit 176 Seiten, die es in sich haben:

Die menschliche Komödie als work in progress

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Der männliche Selbsthaß auf dem Holzweg

Gregor Keuschnig über Jonathan Littells Essay über die Struktur der faschistischen Sprache, den Littell während der Vorarbeiten zu «Die Wohlgesinnten «verfasste. Der Versuch einer Fortschreibung von Theweleits »Männerphantasien«.

Jonathan Littell, Autor der Splatter-Mockumentary Scharteke "Die Wohlgesinnten", hat das Buch "La campagne de Russie" ("Der Russlandfeldzug"; erschienen 1949) des ehemaligen belgischen SS-Offiziers Léon Degrelle gelesen. Und er hat das Buch "Männerphantasien" von Klaus Theweleit und dessen Thesen zum Faschismus gelesen. Littell versucht nun Theweleits Thesen von 1977 mit seiner Rezeption von Degrelles Buch fortzuschreiben.

Littell ist von Theweleits Buch fasziniert. "Der Faschismus (ist eine) Form der Produktion des Realen…keine Frage der Staatsform…auch nicht…der Wirtschaftsform, überhaupt nicht eine Frage des Systems." zitiert er Theweleit, der im
Nachwort zu "Das Trockene und das Feuchte" (welches bereits im April 2008 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung veröffentlicht wurde) ergänzt: "'Faschismus' ist …ein Körperzustand, eine gefährliche Materie, die mit Macht und Gewalt darauf dringt, den Zustand der Welt den Zuständen des eigenen Körpers anzugleichen, zu unterwerfen". Das Freud'sche Modell von Es, Ich, Über-Ich und damit der ödipalen Konstellation lässt sich auf [den Faschisten] nicht anwenden so klären Littell (und Theweleit) auf, denn der Faschist hat die Trennung von der Mutter nicht abgeschlossen und sich nie als Ich im Freud'schen Sinne konstituiert. Der Faschist ist der "Nicht-zu-Ende-Geborene". Aber er ist kein Psychopath; er hat eine partielle Trennung vollzogen, er ist sozialisiert…er ergreift sogar gelegentlich die Macht.

Theweleits These und männlicher Selbsthaß
Selbstbewusst erklärt Klaus Theweleit seine Verdienste um die Faschismusforschung: "Ich hatte etwas geliefert, was es bis dahin nicht gab, den Versuch, den Faschismus, den Nationalsozialismus, nicht als Ausgeburt einer fürchterlichen 'Ideologie' zu beschreiben, sondern, ausgehend vom Mann-Frau-Verhältnis in der europäischen Geschichte, als eine gewalttätige Art und Weise, 'die Realität' herzustellen: die politische mörderische Realität des faschistischen Gewaltstaats nicht als Folge von Ansichten, Ideen oder Industrie-Interessen, sondern als umgesetzten Ausdruck verheerender Körperzustände seiner Protagonisten - der faschistische Staat als Realitätsproduktion des Körpers des soldatischen Mannes."
Noch heute beruft sich Theweleit auf Rudolf Augsteins Lob ("Vielleicht die aufregendste deutschsprachige Publikation des Jahres 1977") und bügelt in blasierter Arroganz eventuelle Einwände ab: "Historiker haben Vorbehalte gegen autobiographische Texte. Sie trauen Untersuchungen nicht, die vorwiegend die Affekte des historischen Personals untersuchen. Schon gar nicht trauen sie psychoanalytischen Zugängen; unter anderem, weil sie keine Ahnung von ihnen haben. Ihr schlechtes Gewissen kam dazu: Erneut kümmerte sich ein Fachfremder um ihre (versäumten) Aufgaben."

Sven Reichardt schreibt in seinem sehr erhellenden und lesbaren Essay "Klaus Theweleits 'Männerphantasien' - ein Erfolgsbuch der 1970er-Jahre":
"Theweleits Arbeit befasst sich zunächst mit der Freikorps-Literatur der 1920er-Jahre; er untersucht die faschistischen Männlichkeits- und Gewaltphantasien dieser Soldateska in über 250 Romanen oder Erinnerungen. Dabei nimmt er Sprachstil wie Inhalt dieser Literatur auseinander und stellt Frauenbild, Körperverhältnis und Kampfberichte in das Zentrum seiner Analyse. Bei der Lektüre der Schriften der höchst unterschiedlichen sieben Hauptpersonen stellt sich heraus, dass diese im Grunde nur drei Frauentypen kannten: die Mutter, die 'weiße Krankenschwester' und die Hure."
Bei den sieben Hauptpersonen handelt es sich um "den in afrikanischen Koloniekämpfen berühmt gewordenen Generalmajor Paul von Lettow-Vorbeck, den 1919 den Dienst quittierenden Kapitänleutnant Martin Niemöller, den Freikorpskommandeur Gerhard Roßbach und einen seiner Mannen namens Rudolf Höß, der später als Lagerkommandant berüchtigt wurde, um den ehemaligen Chef der Marinebrigade und wohl bekanntesten Freikorpsführer Hermann Ehrhardt sowie um die bekannten Schriftsteller Ernst von Salomon und Ernst Jünger." (Reichardt)
Diese sieben Personen sind für Theweleit repräsentativ für den "Faschisten". Seine Thesen sind ohne Verortung im zeitgeschichtlichen Kontext des Erscheinungsjahrs 1977 kaum zu verstehen, war doch "das Thema der Männlichkeit und der Geschlechterbeziehungen in den 1970er-Jahren gesamtgesellschaftlich in das Blickfeld geraten", wie Sven Reichardt herausarbeitet. Durch eine geschickt vorgenommene Verschiebung von Prioritäten innerhalb des Diskurses (es geht um die Post-68er-Ära, in der "Faschist" fast zum umgangssprachlichen Schimpfwort wurde) war es möglich, Fragen und Einwände, etwa "warum der soldatische Mann in dieser Form gerade in Deutschland entstand" (Reichardt) oder welche Rolle der Erste Weltkrieg und das Scheitern der Weimarer Demokratie spielte, mit Nonchalance ignorieren zu können. Heute wirkt diese "streberhafte Geste der Selbstdenunziation", mit der sich der "zur Faschismustheorie aufgemotzte männliche Selbsthaß" umgibt (
Jörg Lau 2004) eher komisch.

Der Belgier
Littell will anhand von Degrelles Buchs Theweleits Thesen sozusagen experimentell…verifizieren, und zwar an einem Mann, der in einer anderen Sprache schrieb, einer anderen Generation angehörte und vor allem den Ersten Weltkrieg nicht miterlebt hatte. Und das, obwohl (oder gerade weil?) Littell und Theweleit eine halbwegs konsistente Definition des Begriffs des "Faschisten" nach wie vor nicht vorlegen, sondern nur "fadenscheinige Textgewebe" (Lothar Baier 1978 zu "Männerphantasien") liefern, die grösseren Interpretations- und Deutungsspielraum zulassen.

Littells Stil ist eher erzählerisch, das Buch ist nur grob strukturiert. Der Leser erfährt kaum biografische Daten Degrelles ausserhalb seines politischen und militärischen Handelns; Kindheit und Jugend bleiben vollkommen ausgespart. Die kurze historische Gedächtnisauffrischung setzt bei 1936 ein, als, wie Littell meint, seine Popularität seinen Höhepunkt erreichte. Er ist damals 30 Jahre alt. Sein Ziel ist der Sturz der politischen Klasse Belgiens. 1938 gelang ihm mit seiner Volksbewegung katholischen Ursprungs (mehr wird nicht verraten) der Einzug ins belgische Parlament.

Léon Degrelle ist Wallone, aber kein nationalistischer Wallone (am Rande erfährt man ein bisschen über die bereits damals merkwürdige Trennung zwischen Wallonen und Flamen; sogar die NS-Sympathisanten der jeweiligen Volksgruppen fanden kaum zueinander). Degrelle ist Rexist, tritt aber gleichzeitig für ein Gross-Burgund unter deutsch-nationalsozialistischer Führung ein. Er war Hitler 1936 begegnet und dessen Charme sofort erlegen; er traf ihn noch mehrmals (die Fotos werden im Buch abgedruckt). 1940 wurde Degrelle als germanophil kurzzeitig interniert. 1941 organisierte er eine antibolschewistische Legion "Wallonien" im Rahmen der deutschen Wehrmacht, der er sofort als Leutnant angehören will, was aber aus "Mangel an militärischen und technischen Kenntnissen" abgelehnt wird und ihm später ermöglicht, einen Mythos zu begründen.

"Wallonien" geht nach Russland und wird in heftige (und teilweise verlustreiche) Kämpfe verwickelt. Degrelle steigt sehr schnell vom Schützen zum Offizier auf. 1944 wird er zum Kommandeur der (inzwischen in die SS eingegliederten) Sturmbrigade "Wallonien" ernannt. Im April 1945 wird er "Standartenführer" (Oberst); ob die Ernennung im Mai zum "Oberführer" (ein General-Äquivalent) "korrekt" war, ist umstritten (spielt aber letztlich keine Rolle). Littell schildert am Ende des Buches ausführlich die Odyssee von Degrelles Flucht (er hatte seine ihm anvertrauten Leute schlichtweg verlassen, als es ihm zu gefährlich wurde). Er landete mit einem Flugzeug auf abenteuerliche Art und Weise in Spanien, wurde Bauunternehmer und blieb dort unbehelligt (und unbelehrbar) bis zu seinem Tod 1994.

Klägliche Versuche von Sprachkritik
Es gibt zahlreiche Abbildungen im Buch wie Briefmarken, Familienfotos, Propagandabilder und -plakate (mit teilweise halbessayistischen Erläuterungen, die das Lesen manchmal nicht ganz einfach machen), die allerdings kaum zur Verbesserung des Verständnisses des Textes beitragen. Vielleicht soll mit den Abbildungen ein gewisses Einlullen des Lesers betrieben werden, in dem eine Art Fotoalbumeffekt erzeugt werden soll.
Viele Quellen weisen Degrelle als notorischen Tatsachenverdreher und Lügner aus. Littell sieht das als Beleg seiner These: Degrelle ist nicht an der Wahrheit interessiert, sondern an der Realität seiner faschistischen Wirklichkeit. Mit dem Buch (seinem Heldenepos) will Degrelle das, was Theweleit die "Erhaltung des Ich" nennt erzeugen. Das ist für den Faschisten eine Sache auf Leben und Tod. In dem Fall, der uns hier beschäftigt…wird die Erhaltung des Ich durch eine Reihe strenger, fast mechanischer Gegensatzpaare geleistet, deren zweites Glied für die dem Ich-Panzer drohende Gefahr steht, während das erste die Eigenschaft repräsentiert, die dem Faschisten erlauben, den Ich-Panzer zu verstärken und damit der psychischen Auflösung zu entgehen.

Das wichtigste Gegensatzpaar ist für Littell das des Trockenen und des Feuchten (daher der Titel) und dann gibt es noch das Starre und das Formlose, das Harte und das Weiche, das Unbewegliche und das Wimmelnde, das Steife und das Schlaffe, das Aufrechte und das Liegende, und es folgen noch acht weitere Gegensatzpaare bis es dann heisst und so fort.
Littell ergeht sich in ausführlichen Zitaten und Deutungen des Schlamm-Begriffs in Degrelles Buch; er findet die positiven und negativen Konnotationen (was an sich nicht ungewöhnlich ist und von jedem Gymnasiasten halbwegs präzise herausgearbeitet werden könnte). Der Faschist widersteht dem schrecklichen russischen Schlamm in dem er sich, nach Littell, versteift.
Etwas überzeugender geraten die Gegenüberstellungen aus dem Kapitel Trockene Körper, feuchte Kadaver. Die Gegensatzpaare "trocken – feucht" sind mit "gut – schlecht" zu übersetzen, also, in Degrelles Diktion: "Wir – Bolschewistischer Feind". Der Faschist arbeite unablässig an seinem Körper, um ihn von allem Feuchten zu reinigen, so Littell, und zwar unabhängig davon ob es die Form des "offiziellen Sumpfs" oder der erotischen Feuchtigkeit annimmt. Der Feind versinkt im Schlamm – man selber bleibt "trocken" (sauber).

Verflüssigung und Phallus
Der Gedanke an die Verflüssigung des Körpers macht den Faschisten wahnsinnig. Während die Kadaver toter Russen als grässlich-"flüssige" bzw. sich-verflüssigende Körper geschildert werden, um den "Feind" auch noch im Tod zu dämonisieren (Littell liefert hierzu teilweise ekelhafte Textbeispiele) bleibt der Faschist auch nach seinem Tod…im Allgemeinen trocken und – das ist bei Littells erotomanischer Deutungsmaschine natürlich wichtig - hart, denn der Autor weiss, dem Faschisten geht es nicht um seinen Schwanz als Lustorgan, sondern seinen Phallus als Zentrum und Angelpunkt seines inneren wie äusseren Widerstands gegen den Feind. Ohne Phallus als Stütze lässt sich der Ich-Panzer nicht aufrechterhalten - diese Passage ist nicht frei von unfreiwilliger(?) Komik! - und wird rasch niedergerissen. Dann, so Littell, verflüchtigt sich der Faschist. Und so wird aus dem Faschisten eine Gewitterwolke oder ein Schnupfen.
Und nicht nur hier erinnert Littells Sprachkritik (grossmaulig wollte er dieses Büchlein mit Anatomie eines faschistischen Diskurses untertiteln) durchaus an die sogenannte
"Methode des texanischen Scharfschützen". Dieser schiesst zuerst auf ein Scheunentor und malt danach um die Einschusslöcher die Zielscheibe. Erst sucht Littell in Degrelles Schwarte nach entsprechenden Textstellen und dann präsentiert er die folgerichtige Deutung – wie es denn passt.

Interessant wird es als Littell herausfindet, dass die Bezeichnungen für den Amerikaner und deren Kriegshandlungen (auch die Amerikaner sind ja "Feinde") vollkommen anders ausfallen. Beispielsweise ist der Amerikaner im Buch monosem, d. h. es gibt fast nur eine durchgängige Bezeichnung für ihn (Russen werden als "Bolschewiken", "Mongolen", u. ä. bezeichnet) und die Beschreibung der Leichen amerikanischer Soldaten unterscheidet sich elementar von den ekelhaft-pejorativen Schilderungen der russischen Toten.

Missverständnisse und vage Einsichten
Littell zieht daraus den vermutlich zutreffenden Schluss, dass Degrelle ein kultureller, kein biologischer Rassist gewesen sei. Zwar müsse er als Rassist angesehen werden, aber die Rasse an sich spiele in seinem Buch überhaupt keine Rolle (Juden kommen so gut wie gar nicht vor). Littells Schluss, Degrelles Verehrung für Hitler beruhe demzufolge auf einem Missverständnis, erscheint nicht nur kühn, sondern beruht vermutlich seinerseits auf einem Missverständnis, in dem Littell fortlaufend "Faschist" und "Nationalsozialist" synonym verwendet (was grossen Teilen der Forschung fundamental widerspricht).

Am Ende, nach Theweleits Nachwort, kommt es in einem kurzen Postskriptum zu einer interessante Ergänzung. Nicht nur, dass hier zum ersten Mal ein Unterschied zwischen Faschisten und Nazis gemacht wird. Littell überlegt, ob nicht auch vielleicht…eine Untersuchung…an den oralen oder schriftlichen Zeugnissen der stalinistischen Henker oder auch einfach Militanten vorgenommen werden sollte, um zu sehen, ob deren ideologische Klischees…durch…möglicherweise auf die gleiche Weise analysierbare Stereotypen ersetzen werden könnten. Das ist reichlich kompliziert formuliert und soll wohl bedeuten, dass der Begriff des "Faschisten", so wie er hier begriffen wird (als [vorübergehende?] Ekstase), durchaus auch in anderen, totalitären Strukturen gang und gäbe sein dürfte. Theweleit erwähnt dies nur lapidar am Rande.

Das vorliegende Buch ist auch Ausweis einer männerbündischen Freundschaft zwischen Jonathan Littell und Klaus Theweleit. Man begreift nun besser, warum
"Buchversteher" Theweleit Iris Radisch in derart dummer und anmaßender Weise ob ihrer Rezension zu den "Wohlgesinnten" angriff. Im übrigen weist Léon Degrelle durchaus Charakterzüge der Hauptfigur Maximillian Aue auf – allerdings mit mindestens einem grossen Unterschied: In "Das Trockene und das Feuchte" gibt es einen Exkurs über Faschismus und Homosexualität, in dem Aues Homosexualität "erfunden" zu werden scheint. Vielleicht so doziert Littell hat ihm [Degrelle] genau das gefehlt, um ein Mensch zu werden – ein Schwanz im Arsch. (Über Littells Analfixiertheit gibt es ja sowohl in den "Wohlgesinnten" als auch in einem Interview reichlich Belege.)

Leider dümpelt das Buch oft zwischen billigem Hafenkneipenjargon und sexualisiert aufgeladener Westentaschenpsychologie (Türme als Phallus; Soldaten mit Erektionen) hin und her. Littells Sprachkritik ist oberflächlich; manchmal verliert er mittendrin die Lust (einmal zählt er, wie oft bestimmte Begriffe vorkommen, um dann festzustellen Ich habe sicher welche vergessen). Sein Zynismus ist zu oft Inszenierung und platte Provokation. Ein oberflächliches, schablonenhaftes und trotz gelegentlich auftrumpfenden Intellektualismus (Deleuze/Guatarri! Hannah Arendt!) phantasieloses Buch. Gregor Keuschnig

 

Jonathan Littell
Das Trockene und das Feuchte
Ein kurzer Einfall in faschistisches Gelände
Aus dem Französischen von Hainer Kober.
Mit einem Nachwort von Klaus Theweleit.
Berlin Verlag
160 Seiten
Broschur, Gebunden
16.90 €
ISBN-13: 9783827008251


 


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