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Wiederentdeckte Weltliteratur
Bücher, wie dieses gibt es
nur noch wenige. Leonid Dobyčins Lebenswerk »Die Stadt N.« liegt nun erstmals in
deutscher Übersetzung vor. Es gibt Bücher, bei denen es sich lohnt, beim Nachwort zu beginnen. Die deutsche Erstausgabe von „Die Stadt N.“, dem Hauptwerk des russischen Avantgardisten Leonid Dobyčin, ist ein solches Buch. Das Nachwort des Übersetzers und Herausgebers Peter Urban ist weniger eine haarkleine Erklärung der vorstehenden knapp 150 Seiten, vielmehr eine Anregung, zurückzublättern und erneut zu lesen. Urban bietet darin zahlreiche Leseanregungen und Interpretationen und lenkt den Blick auf die unzähligen Querverweise Dobyčins auf die großen europäischen Literaten. Denn es wimmelt in dem Büchlein an Hinweisen auf russische Autoren von Weltrang, wie Gogol (bereits im Titel), Dostojewski, Puschkin oder Tschechow. Es finden sich aber auch Hinweise auf die großen europäischen Literaten, versteckt in Zitaten oder Anspielungen. So fallen Bemerkungen zu Zola und seiner Streitschrift „J’accuse“ in einem Nebensatz zur Causa Alfred Dreyfus, auf den polnischen Nationalliteraten Mickiewicz wird über den aus seinem Nationalepos „Pan Tadeusz“ übernommenen Vornamen Jankel verwiesen und selbst Kipplings Dschungelbuch findet in einem Buchgeschenk seinen Platz. Dobyčin schrieb an diesem Roman insgesamt sieben Jahre. 1928 begann er die Arbeit an diesem sensiblen, feinfühligen Werk, das zu Recht als sein literarisches Vermächtnis bezeichnet wird. Aus der Perspektive eines anonymen kindlichen Erzählers lässt er darin das Leben in der lettischen Kleinstadt Dünaburg (Dvinsk, jetzt Daugavpils) im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts vor dem inneren Auge des Lesers passieren. Er beschreibt darin eine Zeit, in der von den großen weltpolitischen Umwälzungen (Russisch-Japanischer Krieg, innenpolitische Unruhen, Industrialisierung & Technische Revolution) in der Provinz nur wenig ankommt. Demzufolge ist das Leben in Dobyčins Roman auch geprägt vom naiv-kleingeistigen Denken der bourgeoisen Bewohner. Durch diese Welt schweift Dobycins Erzähler, der trotz seines jugendlichen Alters ganz in die Sprache der Erwachsenenwelt eingetaucht ist. Statt einfacher, womöglich auch nicht ganz korrekter Formulierungen verwendet er komplizierte Nebensatz- und Infinitivkonstruktionen, um seine Beobachtungen und Erlebnisse so erwachsen wie möglich zu kommentieren – denn Dobyčins adoleszierender Erzähler sucht die Anerkennung durch die bürgerliche Welt, die ihn umgibt. Als der Roman 1935 veröffentlicht wird, zerreißt ihn die sowjetische, sprich stalinistische Literaturkritik. Als „zutiefst feindliches Werk“ und „reaktionär“ bezeichnete der Literaturfunktionär Dobin „Die Stadt N.“ in Anwesenheit des Autors auf einer Tagung des Leningrader Schriftstellerverbandes. Die Kritik richtete sich primär gegen die feudalistische Welt, die Dobyčin in seinem Roman wiederauferstehen ließ. Doch darin lag gar nicht sein eigentliches Anliegen. Diese war mehr oder weniger nur Mittel zum Zweck. Sein Hauptinteresse galt dem in „Die Stadt N.“ verwendeten Sprachstil. Denn dieser orientierte sich keineswegs an den Lesegewohnheiten des einfachen Proletariats und linientreuen Sowjets. Dobyčins Stil ist die Realität gewordene Absage an das von allen Sprachfreuden gesäuberte und zur Effektivität verdammte Behördensprech (Orwell wird es später „Neusprech“ nennen) des stalinistischen Regimes. Zugleich ist es die Form gewordene Ablehnung des sinnlosen Erzählens, dem es an Struktur, Ziel und Inhalt fehlt (wie es uns heute so oft begegnet). „Fabulieren ja, aber bitte mit Niveau!“, scheint der Russe mit seinem daher nicht einfach zu lesendem Roman sagen zu wollen. Indem Dobyčin schweift und flaniert, statt zielstrebig über die Feinheiten der Sprache einem Ziel entgegenzueilen, stellt er den Stalinismus mit seiner lebensfeindlichen Ideenlosigkeit und Unkultiviertheit bloß. Kein Wunder also, dass seine Werke erst in die vernichtende Maschinerie der stalinistischen Kritik und dann lange Zeit in Vergessenheit gerieten, zumal Dobyčin nach der besagten Tagung spurlos verschwand. Bis heute ist sein Tod ungeklärt, seine Leiche wurde nie gefunden. Erst als der Literaturnobelpreisträger Joseph Brodsky 1987 von Studenten an der Harvard-Universität gefragt wurde, wen er für den größten russischen Prosa-Autor halte, tauchte Dobyčins Name wieder auf. Denn just jenen verschollenen russischen Autoren nannte Brodsky damals. Seither wird sein Werk Stück für Stück wiederentdeckt. Mit „Die Stadt N.“ liegt nun Dobyčins Lebenswerk erstmals auf Deutsch vor. Es ist ein grandioses Stück Literatur, in dem jedes Wort bewusst gesetzt wurde und keine Silbe zuviel, soll heißen bloßes Schmuckwerk, ist. Darin liegt die Kunst des Romans, in dem der Erzähler zwar einerseits von einer Anekdote zur nächsten mäandert, andererseits diese Ausschnitte immer wieder aufgreift und zu einer Einheit zusammenfügt. Erst in der Verbindung der zahlreichen blitzlichtartigen Segmente entsteht dieses beeindruckende Panorama einer Zeit.
Dobyčins „Die Stadt N.“
ist bei aller Kürze kein Roman für den Sonntagnachmittag. Es ist ein hoch
anspruchsvoller, auf den man immer wieder zurückgreift, um die Lektüre in Ruhe
und Gelassenheit zu genießen und wirken zu lassen. Und kommt man wieder bei
Peter Urbans Nachwort an, gibt dieser genug Anregung, um sogleich
zurückzublättern und sich an diesem Wunderwerk der Weltliteratur erneut zu
begeistern.
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Leonid
Dobyčin |
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