Glanz & Elend Magazin für Literatur und Zeitkritik




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Zum 5-jährigen Bestehen ist ein großformatiger Broschurband in limitierter Auflage von 1.000 Exemplaren mit 176 Seiten, die es in sich haben:

Die menschliche Komödie als work in progress

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Das Tagebuch als Zwischenlager

Lothar Struck über
das Tagebuch 1990 von Günter Grass »Unterwegs von Deutschland nach Deutschland«

Man erfährt am Ende des Buches mehr darüber, warum das Tagebuch plötzlich auf Vortritt besteht: Es ging darum, bisher unbekannten Schreibhemmungen zu begegnen. Das Tagebuch als eine Art Selbstvergewisserungsinstrument; ein Zwischenlager. Der aufmerksame Leser wundert sich anfangs über Art und Zahl der (unterschiedlichsten) Entwürfe zum Projekt der "Unkenrufe". Ständig werden Erzählpersonen, -perspektiven, -zeiten, -motive erwogen und wieder verworfen und man ist überrascht irgendwann unter einem Datum im Sommer zu lesen, dass wohl im Laufe des Jahre noch der erste Satz folgt (es geht aber dann schneller und verblüffend reibungslos, was nur noch wie nebenbei berichtet wird).
Warum diese Schreibhemmungen? Sind es die hektischen und eruptiven Zeitläufte, die Grass' Selbstsicherheit, die politischen Koordinaten für einen Moment aus der Balance bringen? Einübung einer Disziplin für den eher unstet werdenden, sich politisch (zu stark?) gebenden Schreiber? Die "schöne Endzeit" (Kerstin Decker) ist im Januar 1990, als Grass pünktlich am 1. beginnt, schon fast vorbei.

Reisen, kochen, schreiben, zeichnen
Der Leser erfährt (wie häufig in solchen Tagebüchern) einiges über das Privatleben des Autors (wenn auch nicht alles, etwa wenn fast auf der letzten Seite fast beiläufig von der Überwindung der Ehekrise die Rede ist, die vorher keinerlei Erwähnung würdig schien). Grass reist enorm viel (der Titel ist durchaus präzise) und nicht nur zwischen seinen diversen Feriendomizilen; es gibt mehrere Reisen in die DDR, Tschechoslowakei, ein Kongress in Norwegen - und natürlich Polen (zu seinen Kaschuben). Ansonsten kocht Grass deftig-rustikal (nichts ist vor ihm sicher; jeder Pilz, jeder Fisch, jedes Wildtier wird, wenn möglich, gebraten, geschmort oder gekocht) und man fragt sich, warum er eigentlich so verblüffend selten Magenprobleme hat.
Vor allem erweist er sich aber als berserkerhafter Zeichner und Graphiker. Auch hier ist kein Motiv vor ihm sicher: ein abgegessener Fisch, ein gehäutetes Kaninchen, eine in Alkohol eingelegte Heuschrecke aber auch der geschenkte Kaktus, der Ausblick aus einem Hotelzimmer oder Grossformatiges für Kirchen (!). Auf den ersten siebzig und den letzten sechzig Seiten gibt es einige der Zeichnungen. Diese und der gelegentlich ans 19. Jahrhundert erinnernde Sprachduktus von Grass entrücken dieses Tagebuch manchmal aus der Zeit, etwa dann, wenn er aus Tintenfischen Tinte gewinnt. Leider sind diese kontemplativen Momente zu selten.

Die "Zeit" hat neulich Auszüge publiziert, die suggerierten, die Tagebücher bestünden fast ausschliesslich aus Äusserungen zum für Grass per se gescheiterten Einigungsprozess (den er ja so, wie er geschah, dezidiert ablehnt und mit allerlei Invektiven versieht). Das ist wie schon erwähnt glücklicherweise nicht der Fall. Werkbiographen und Germanisten bekommen einiges zu tun; im Herbst (das Projekt "Unkenrufe" ist immer noch in seltsamer Schwebe) entwickelt Grass plötzlich aus seinem Kopf ein Exzerpt für einen Roman (den er für 1997 fertig sieht). Ein Projekt, welches eine grosse Recherchearbeit erfordert, sich ihm sprudelnd in groben Zügen zeigt, ja geradezu epiphanisch erscheint. Es sind Reflexionen und Gedankensplitter über Theodor Fontane, der in die Gegenwart versetzt wird und eine Figur des Autors Hans Joachim Schädlich an die Seite gestellt bekommt ("Tallhover"). Der Arbeitstitel lautet "Die Treuhand" (Grass will, obwohl er die Treuhand und deren Stil verabscheut, einen Termin mit Rohwedder vereinbaren, um mehr zu erfahren) – später wird daraus "Ein weites Feld" – das Buch, das Reich-Ranicki auf dem Cover des "Spiegel" zerreissen wird.

Der Leser mit dem Wissen von heute erkennt, wie sehr Grass' Augstein-Rezeption (insbesondere dessen Bismarck-Bild) in dieses dann 1995 erscheinende Buch eingeflossen ist. Grass ist geradezu unflätig Augstein gegenüber, der zum Nationalisten verkomm[e], betitelt ihn als kleinwüchsigen wie grössenwahnsinnigen Potentaten und dann als liebenswerte[n] Narr[en], der Sekretärinnen tätscheln muß, die Korruption in aller Welt mit dem "Spiegel" bekämpft, aber die Korruption in seinem Haus…duldet und sich in deutschnationalem Starrsinn gefällt, was ihn nicht davon abhält, mit ihm in der Öffentlichkeit zu diskutieren und über Hellmuth Karasek (Augstein: "Karasek ist gescheit und korrupt" - vermutlich ist beides falsch) herzuziehen.

Verlust des politischen Koordinatensystems
Weiterhin bietet Grass seine Aufsätze und politischen Kommentare zur Einheit jedoch zunächst dem "Spiegel" an. Als dieser dann einen Text von ihm nur zensiert (d. h. um ein Kapitel gekürzt) übernehmen will, ist kurz die "Zeit" die erste Anlaufstelle, bis Ulrich Greiner eine, wie Grass meint Hexenjagd gegen Christa Wolf eröffnet (und das "Spiegel"-Feuilleton nachzieht). Danach weicht er auf "Süddeutsche" oder "FR" aus (mit eher mässigem Erfolg). Dennoch muss Grass' Präsenz insbesondere im Fernsehen mindestens im ersten halben Jahr 1990 sehr gross gewesen sein – einmal wird ein Termin für eine "Kennzeichen D"-Sendung (ZDF) abgesagt, weil er schon anderenorts so oft zu sehen war.

Als zeitgeschichtliches Dokument ist das Tagebuch eher von marginalem Interesse. Aber es gibt erstaunliche Einblicke in das politisch-strategische Denken von Grass, der immerhin als einer der führenden Intellektuellen gilt (auch danach noch? - könnte man besorgt fragen). Und es zeigt, dass Grass' Verzweiflung (wie berechtigt sie im Einzelfall auch immer sei) Auswirkungen auf sein literarisches Schaffen zu dieser Zeit hat.
Anfangs stemmt sich Grass mit teilweise törichter Rhetorik gegen jegliche politische Lösung der durch den Mauerfall entstandenen Situation und befürwortet eine autonome DDR. Verräterisch die Bemerkung gleich zu Beginn: Will versuchen,… das angebliche Recht auf deutsche Einheit im Sinne von wieder-vereinigter Staatlichkeit an Auschwitz scheitern zu lassen. Einige Äusserungen Grass' sind wahrlich von imposanter (politischer) Dummheit.
In dieser fast paranoiden Phase beginnt er selbst an Willy Brandt zu zweifeln. Es überkommt ihn eine Beunruhigung, wenn dieser Nuancen anders betont, als Grass meint, dass Brandt zu sprechen habe. In einer Diskussion mit ihm muss er grundsätzlich widersprechen, was ihm nicht leicht fiel. Ein "Spiegel"-Interview Brandts verwirrt Grass, weil dieser dort abwechselnd von Föderation und Konförderation spricht und einmal hätte er sich mehr Deutlichkeit gewünscht. Man fragt sich, ob Grass die Intention von Brandts (und Bahrs) Ostpolitik, das Prinzip "Wandel durch Annäherung", überhaupt jemals verstanden hat. Wie ein Geigerzähler knattert Grass sein Genörgel und Gejammer insbesondere in den ersten Monaten gegenüber allen und allem, was ihm als nationalem Stumpfsinn dünkt. Wer nicht (fast) bedingungslos für ihn ist, ist gegen ihn.      

Als Alibinörgler geduldet – aber machtlos
Keine Plattitüde wird ausgelassen, so lange sie in sein Konzept passt und so siedeln die Themen Auschwitz, deutsche Frage, Waldsterben nicht weit voneinander. Wie rasend verliert Grass kurz seine politischen Koordinaten, vermischt die politischen und ökonomischen Implikationen und ist dagegen, weil man eben dagegen zu sein hat (oder weil alle anderen dafür sind – so klar ist das nicht). Dabei sind seine ökonomischen Kassandra-Rufe (auch aus heutiger Sicht) durchaus berechtigt und haben sich teilweise als zutreffend erwiesen. Indem diese jedoch mit wuchtiger politischer Rhetorik vermengt (Anschluss; Kohl im Sportpalast-Stil) und zu einem undefinierbaren Brei zusammengerührt werden, macht Grass es seinen Gegnern leicht, das Gericht als ungeniessbar stehen zu lassen.

Ständig kokettiert er im Laufe des Jahres mit seinem Austritt aus der SPD, schreibt Briefe, an Oskar (den dieser erst nach zweieinhalb Monaten mit einem Anruf beantwortet), an Engholm, gibt ungefragt Ratschläge und merkt nicht, wie er in vom Strudel der Ereignisse an den Rand gespült wird. Und dann noch an den Rand der SPD, die im Osten zur 22%-Partei im März 1990 wurde und "gesamtdeutsch" mit Lafontaine auf 33,5% kam. Grass als doppelte Randexistenz. Früh spürt er, dass Lafontaine der falsche Kandidat ist, weil er nur ein "Nein" bietet ohne klares Gegenkonzept oder – warum nicht? – Vision und er überlegt, ob er mit ihm in den toten Wald geht. Nach dem Attentat hofft er kurz, er möge aufgeben; im Laufe des Wahlkampfs bleibt Grass' Respekt zu Oskar, mehr nicht.
Als sich Grass besinnt entwirft er Gegenkonzepte, bleibt dabei aber immer hübsch weit von jeder nur möglichen realistischen Verwirklichung, um nicht daran gemessen zu werden. Er entwickelt ein Sieben-Punkte-Programm, vertraut dem Tagebuch seine Kompromisslinie an - aber wer will das hören. Grass sieht eine Hässlichkeit in dieser Vereinigung; die DDR werde fremdbestimmt posaunt er heraus. Er träumt noch von einem "Bund deutscher Länder" als Engholm ihn nach der gescheiterten Bundestagswahl Weihnachten 1990 besucht (Lafontaine ist abgetaucht [es sollte nicht das letzte Mal sein]) und es nicht manchmal nicht ganz klar, ob es sich Grass im Vorgefühl des Scheiterns der Einheit und ob der Vergeblichkeit seiner Anstrengungen nicht auch arg bequem macht.

Am schlimmsten muss es sein in diesen Momenten nur als Alibibedenkenträger zu fungieren, der pflichtschuldigst in den Medien abgedruckt und gesendet wird und danach gehen darf. Ein geduldetes Feigenblatt, auch für die SPD, die rat- und konzeptlos ist; Brandt entrückt, Schmidt mit einer Breitseite gegen den Spitzenkandidaten kurz vor der Wahl (das kennt man in der SPD also), Vogel zwischendrin und Engholm (der potentielle Nachfolger) - auch er in Grass' Augen ungeeignet (da hatte er Recht) und viel zu schnell in den üblichen Machtzynismus verfallen. Und mittendrin der sich durch Gartenarbeit ablenkende, Bäume pflanzende (Pflanzwut), kochende, seine Kinder besuchende, Bücher lesende (Rushdies "Satanische Verse" [gegen Ende reißerisch]; Rilke; sonst eher wenig), vor allem Zeichnende, dessen Mahnungen, Aufschreie, Appelle nicht gehört werden, als hätte sich "seine" SPD vor den Sirenengesängen des Dichters die Ohren verstopft.

"Schwarzseher der Nation" – welch' eine Kränkung
Die Demütigung sitzt wohl tief und wenn er das Wort Depression gebraucht, dann glaubt man ihm. Er, der weiland so gefragte und gewünschte Intellektuelle, wird einfach ignoriert, was vor allem daran liegt, dass die SPD der Kohlwalze, die in fast mechanischer Präzision vorgeht, nichts entgegenzusetzen hat. Verbitterung? Wahrscheinlich, aber Grass setzt auch hier im Tagebuch oft genug eine Maske auf (oder er hat es bereinigt – wer weiss?). Man merkt: Dieser Mann ist nie privat wenn er schreibt; immer Schriftsteller, Textverwerter, Institution; immer öffentlich. Und immer Verfremder, immer auch ein Teil Fiktion, und natürlich, auch Posierender. Immer scheint er um seine Literarizität bemüht, auch noch wenn er nur von banalen Dingen spricht (die leider zu häufig banal bleiben). In der aufgebauschten Affäre im Jahr 2006 um seine Zugehörigkeit zu einer Waffen-SS-Einheit stellte sich Grass ein bisschen dumm und meinte, er könne doch nichts dafür, wenn andere in ihm eine moralische Instanz gesehen hätten und das hätte er so nicht sein wollen. Das Tagebuch widerlegt das eindeutig. Jede Faser schreit nach Anerkennung, giert nach Aufnahme in die jeweilige Diskussionsrunde - freilich aus dem gemütlichen Sessel des Intellektuellen heraus (in die Politik? – der Gedanke kommt ihm nie; Havel desavouiert er bereits als von der Macht infiltriert). 
Nur Antje Vollmer hört ihm zu; lange Telefonate mit ihr, Grass überlegt die Grünen zu wählen, besucht eine Versammlung, hält eine Rede und bekommt dann dieses basisdemokratische Gequatsche mit. Er wendet sich wieder ab und beschliesst irgendwann noch mal SPD zu wählen, denn soviel Minderheit will er dann doch nicht sein.
Kaum jemand in diesem Buch besteht vor Grass' Urteil. Das Feuilleton nicht – Greiner und Schirrmacher sind für ihn richtende Kulturfunktionäre - und auch (auch?) Schriftstellerkollegen nicht. Er hadert mit Jurek Becker, als dieser im "Literarischen Quartett" Reich-Ranicki nicht entscheiden genug widerspricht. Und als Erich Loest, den er am Anfang hoffiert, Grass plötzlich Schwarzseher der Nation nennt, bemerkt Grass resignierend, dass, sobald das Gespräch öffentlich wird, die Kollegen in Profilsucht verfallen.
Der unpolitische Rühmkorf bleibt noch; die sich zergrübelnde Christa Wolf, Hein. Grass will Christa Wolf beistehen, will wieder helfen und dabei gehört werden (in dem er gleich wieder eine neues Pamphlet schreibt Beim Strickedrehen), aber wieder verhallt sein Hilfeangebot und er stürzt sich dann in Gartenarbeit oder Zeichnungen und überlegt, wie er den Absprung von Luchterhand einfädeln kann, diesen maulfaule[n] Haufen voll mit Literaturbeamte[n].

Daumen drücken für Klinsmann
Seine Idyllisierung der DDR hat obszöne und komische Seiten, etwa wenn er von diesem verletzte[n], traurige[n], graue[n] Land spricht. Mal mokiert er sich über die beklemmend lockere Grenzkontrolle (deutsch-deutsch), mal stört er sich daran (deutsch-polnisch). Seine Abneigung zur Großbundesrepublik, die Großpolitiker in ihrem Bonner Befehlston (zum Kotzen!) und die Westdeutschen, die in die DDR kommen, sind für ihn Kolonialbeamte. Währenddessen kauft er für billige Ostmark kubanische Zigarren (so lange es noch geht).
Und wie beinahe peinlich seine Reisen in die DDR und sein Anbiedern an die Angeschmierten, wie er sie nennt, aber sich selbst meint. Für ihn ist Modrow eine melancholische Figur (menschlich, wissend, leidensfähig, beinahe anrührend); Gysi mag er nicht, daher unterschätzt er ihn. Im Januar noch siegessicher für die SPD (das erinnert fatal daran, als die SPD 1949 auch dachte, die Wahlen zu gewinnen), bröckelt diese Zuversicht von Tag zu Tag. Aber die Dimension der Niederlage bei den Volkskammerwahlen hatte selbst er nicht erwartet und er fügt sich schlecht darin. Als ein Mann auf der Strasse ihm sagt, die Leute hätten doch diese verkohlt[e] Einheit gewollt, meint er, jetzt würde schon wieder der  ostdeutsche[n] Bevölkerung die Rolle des Versagers, Verlierers zufallen. Demokratie ist für Grass manchmal schwer auszuhalten (Wahlschwindel) und er glaubt es einfach nicht, dass man einen anderen als seinen Standpunkt haben kann.
Trauer bei der letzten Zugfahrt durch die DDR - natürlich wie immer erster Klasse. Obwohl er das rechte Gewaltpotential schon wahrnimmt. Und obwohl er einmal Lafontaine fast anfleht Erbarmen zu zeigen – für die Menschen. Ja, es ist wohl schlimm, die liebgewonnene Puppenstubenperspektive aufgeben zu müssen. Und dann, wenn nach Polen weiterreist, sieht er plötzlich die maroden Gebäude, beklagt das Unvermögen der Leute und ärgert sich (dann plötzlich ganz "Deutscher" werdend).
Manchmal gelingen (unfreiwillig? gewollt?) Bilder von Kraft und hintergründiger Symbolik. Grass geht in die Brombeeren (wer jemals Brombeeren geerntet hat, weiss, was das bedeutet). Oder wenn er im Herbst das Fallobst mit grosser Vitalität einsammelt – und dem Leser kommt es vor, als sammle er zugleich seine Deutschlandpolitik mit ein (und vermostet sie gleich mit). Oder wenn er in Gdansk Weite, Kindheit, sich wiederholendes Grün entdeckt und ins Schwärmen gerät. Seltene Momente vom Glück eines Getriebenen; man mag ihn dann sofort.

Aber dieser Grass'sche Selbsthass. Er wolle lieber Zigeuner sein als Deutscher krakeelt er. Bei der Fussball-WM (diese Ersatzkriege) drückt er den Tschechen die Daumen, aber findet Klinsmann und Littbarski toll und hofft, dass sie keine gelbe Karte bekommen (er nennt das Rückfälle). Der Wunsch, Deutschland möge gegen England ausscheiden – und dann das Sich-Ertappen, den Deutschen beim Elfmeterschiessen die Daumen zu drücken. Wie komfortabel es sich doch dieser Position leben lässt: (Scheinbar) auf der Seite des anderen – und doch Freude beim deutschen Sieg. Man gewinnt immer. Eigen-Seelenmassage (oder doch eher ein kleiner Selbstbetrug?) und Nörgelattitüde.

Die Mauer fällt vom Osten aus
Grass beklagt diese dumpfe Bewunderung der Westdeutschen, die ihm zum Beispiel in der Tschechoslowakei begegnet, diesem, wie er konstatiert, glücklichen, armen Land - weil es keinen reichen Bruder hat (dass die Tschechen eine andere Meinung haben, interessiert ihn nicht). Entfremdung von Havel, der schlecht zuhören kann. Nebenbei Grass' schier pathologische Akribie: sich erinnernd, Havel 1967 eine Hasenpastete geschenkt zu haben.  
Aber hat Grass nicht mit seinen Zweifeln an Art und Geschwindigkeit dieses Vereinigungsprozesses Recht behalten? Vor allem, was die Ökonomie angeht. Und natürlich die Befürchtung, Deutschland könnte wieder auftrumpfen (mit Berlin als Hauptstadt). Einiges wirkt heute fast niedlich; anderes real. Wenn Grass von der inneren Einheit spricht, die sich so nicht einstellen kann, werden einige ihm zustimmen. Gefühlte Zustimmung. Fakten waren (und sind) Grass' Sache nicht.
Die Vorhersage, die innere Einheit werden nicht gelingen, ist zunächst einmal so allgemein, dass sie immer auch irgendwie stimmt. So wie das vom Schnäppchen DDR. Dass der Mauerfall von den Ostdeutschen ertrotzt und erkämpft wurde – Grass berücksichtigt das nirgendwo. Er glaubt, Kohls Politik treibe gut ausgebildete, junge Menschen von der DDR in den Westen. Nur einmal konzidiert er, dass dieser Vorgang seit November/Dezember 1989 bereits im Gang ist. Die weltpolitischen Implikationen, die Fragilität Gorbatschows – kein Thema in diesen Betrachtungen. Der aufkommende Golfkrieg wird als Bedrohung empfunden und Grass philosophiert darüber, ob die USA nicht ebenfalls vom Wettrüsten geschwächt seien, aber dass Bush versucht eine weltweite Koalition unter dem Dach den UN gegen den Irak zusammenzustellen – Fehlanzeige. Die Nationalismen in Osteuropa, das auseinanderbrechende Jugoslawien – Grass sieht nur den Nationalismus der Balten und der Serben; kein Wort von den Kroaten und Slowenen. Selektive Wahrnehmung. Stattdessen viel Lamento über das Ozonloch und den Klimawandel – der Flieder blüht jetzt im Mai. Aber wann sonst? 

Und es steht zu befürchten, dass die beiden Heuschrecken auf dem Buchumschlag (eine von Ost nach West, die andere von West nach Ost) auch schon wieder ihre Symbolik haben. Grass gibt keine Ruhe. Jene heitere Zuversicht die weiss, dass es schlimm ausgehen wird, nervt enorm. Sie hat etwas von der Persistenz der "Prophezeiung" des eigenen Todes.
Aber was wäre nur ohne ihn?  Lothar Struck

Die kursiv gedruckten Passagen sind Zitate aus dem besprochenen Buch.
 

Günter Grass
Unterwegs von Deutschland nach Deutschland
Tagebuch 1990
Steidl Verlag, Göttingen 2008
Gebunden, 258 Seiten,
20,00 EUR
ISBN-13 9783865218810

 


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