Glanz & Elend Magazin für Literatur und Zeitkritik




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Zum 5-jährigen Bestehen ist ein großformatiger Broschurband in limitierter Auflage von 1.000 Exemplaren mit 176 Seiten, die es in sich haben:

Die menschliche Komödie als work in progress

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Kuckuckskonzil

Lothar Struck zu Peter Handkes Nachschrift
»Die Kuckucke von Velika Hoča«

Zweimal verlässt der Ich-Erzähler in Peter Handkes Nachschrift "Die Kuckucke von Velika Hoča" die Reisegesellschaft bzw. die Dörfler/Enklavler. Beim ersten Mal bei der Anreise von Belgrad, in Kosovska Mitrovica  diesseits des Flusses Ibar angekommen und am morgen vom Café "Dolce Vita" alleine, zu Fuss (so wie es die Erzähler bei Handke fast immer tun) aufbrechend, über die (so zweifelhaft) berühmte Brücke in nach Mitrovica-Süd gehend, um ein Neuland zu entdecken, für jemanden wie mich wenigstens und dann heisst es weiter:

Auf der Brücke brauchte ich mich, gegen die Erwartung, nicht auszuweisen. Sie wurde auf der serbischen Seite bewacht von Franzosen, das war schon an den Uniformen zu erkennen, auf der albanischen Seite von, an jenem Morgen wenigstens, schwarzen Amerikanern. Grüßen in den beiden Sprachen, und freundliches, jedenfalls nirgends argwöhnisches Zurückgegrüßtwerden. Mir war, ich sei der erste Brückengänger am Tag, und die Soldaten sähen sich bei meinem Passieren in der Tat als Angehörige einer Schutztruppe. […] Die Stacheldrahtrollen, beiseite geschoben hüben wie drüben dann, wirkten wie aus einer Vorzeit.

Im albanischen Teil angekommen, ging ich im Brückenrhythmus weiter, als hätte ich da zu tun. Nur nicht als Neugieriger oder sonst wer erscheinen. Breite Gehsteige, auch durch die hier fehlende Tausendkioskmeile und also viel Platz zum Gehen. […] Wieviel Luft allein schon um die sichtlich neuerbaute monumentale Moschee, welche, mit ihrem Minarett, sowohl Hauptplatz als auch Hauptkreuzung markierte. […]

Die Cafés hier mit offenen Terrassen, auch das ein Unterschied zu denen im Norden, wo die Terrassen, bis auf die einzelne Ausnahme wie das "Dolce Vita", mit Plastikplanen verkleidet waren, so daß das Geschehen dahinter von der Straße aus nur sehr vage und überdies verzerrt sichtbar wurde. Hier dagegen saßen die meist jungen Gäste, zahlreicher jedenfalls als wir Fußgänger, ganz offen im Freien, bei Kaffee oder Bier. […] Wenn einem der Sitzer da der doch wohl offensichtlich stadt- wie landfremde Passant auffiel, so ließ er das aber keinmal spüren. Oder war es eher so, daß er, der Passant, im voraus beschlossen hatte, niemandem aufzufallen? War so etwas denn möglich? An jenem friedlichen Morgen und Vormittag ja. Aus solcher den Norden wie den Süden umfassenden Friedlichkeit heraus ein einziges Wundern, daß das nicht auch schon in der Zeit vorher so hatte sein können, zusammen mit dem Gedanken, einem gewissen, im einzelnen dagegen ganz und gar ungewissen, daß das kein ganz leerer oder grundloser Wahn war: der Friede hatte seinen Grund – er lag in der Luft und ebenso klar auf der Hand – er hatte (eine) Zukunft, wenn es für diese auch im Norden und Süden zwei sehr verschieden klingende Wörter gab, 'budućnost' und 'ardhme'.

»Unheimlichkeitslaute«
Und dann, beim zweiten Mal, längst angekommen in der serbischen Enklave, als er sich auf den Weg macht, das Nachbardorf aufzusuchen, frei nach dem Motto: »einmal war ich bei diesen, einmal bei jenen«, im Niemandsland:

Ungewiß, wo auf dem Weiterweg zwischen den zwei wenn auch nicht mehr deutlich verfeindeten, so doch einander wie endgültig aus dem Sinn geratenen Dörfern, nach dem Sportplatz mit dem im Strafraum grasrupfenden Kühen, und nach dem letzten Haus, wie bewohnt und beim Hinsehen unbewohnt, und dann noch einem, deutlich verfallenen – ungewiß, wo danach mitten im Land, mitten im da so besonders weiträumig erscheinenden Kosovo das Niemandsland begann. Jedenfalls war es nicht von einem Schritt zum andern, daß der einmal als Fahr- und Verbindungsweg angelegte Weg keinerlei Fahrspuren mehr zeigte. […]

"Dahinwandern", das war schon bald nicht mehr das Zeitwort für den sich in dem ungewissen Niemandsland Fortbewegenden. Es handelte sich eher um ein Eindringen, Schritt für Schritt. Dabei ging der Weg in fast luftigen Höhen, über einem sanft nach Ost und West und vor allem nach Süden, auf das Albanerdorf zu, ausschwingenden Bachtal. Ein Eindringling war man dort, und dabei herrschte in dem Zwischengebiet eine nicht bloß episodische oder jüngstentstandene Menschenleere. Die erst noch üppigen, starkgrünen Wiesen im Bachtal erschienen immer schütterer und gingen allmählich über in ein nacktes graues Brachland, so wie auch die Weingärten an den Hängen brachlagen…[…] Vom Bach, der oben, nordwärts in Velika Hoča, als einzigen Namen 'Potočnica', weiblich, das 'Bächlein', hatte, kein Gluckern mehr zu hören. Überhaupt herrschte im Umkreis des Wegs, bis auf das Eindringlingsgeräusch der Schritte, eine beinah vollständige Lautlosigkeit…[…] Stetige Laute, ein immerwährendes allerseits wegbegleitendes Zurufen, einzig von den Kuckucken, den serbischen 'kukavice', den albanischen 'qyqe', aus den mehr und mehr zurückweichenden Waldhorizonten.

Diese Passagen sind Höhepunkte des Buches; eine feine, klare Prosa. Der Ich-Erzähler (der fast in Peter Handke aufzugehen scheint, wiewohl man warnen muss vor einer vollständigen Gleichsetzung) ist dabei tastend, suchend und auch ratlos. Aber die Friedfertigkeit in beiden Szenen ist fragil: In Mitrovica-Süd kauft er eine Karte – und stellt fest, dass dort nicht nur die (serbisch-orthodoxen) Kirchen und Klöster entweder gar nicht oder die Kartensymbole nur winzig eingetragen sind, sondern der nördliche Teil der Stadt am anderen Flussufer auf der Karte schlicht nicht eingezeichnet ist (und somit "offiziell" nicht existiert). Und beim "Dahinwandern" ins Nachbardorf zeigt sich dem Eindringling ausser einer stummpanischen alten Albanerin keine Menschenseele (ihm, der das Gespräch doch so ersehnt); nicht einmal bellender Hund oder ein krähender Hahn – alle Hinweise menschlicher Existenz verstummen vor dem ratlosen Wanderer. Und so werden die Kuckucksrufe zu Unheimlichkeitslauten und schnürten dem Eindringling schrittweise die Brust oder den sonst nur durch das Hören ermöglichten Resonanzraum zu.  
Zwischendurch immer wieder (noch einmal, aber vielleicht zum letzten
Mal): Aufrechnerei der gegenseitigen Greuel und Scharmützel, der Nicklichkeiten und Demütigungen, der richtigen und falschen Geschichten. Der Erzähler scheint dahingehend aber ein wenig müde und nur gelegentlich werden Zitate aus "F.A.Z." (Matthias Rüb), "Süddeutsche" oder der "Zeit" (Iris Radisch) eingestreut (und einmal erzählt er eine abenteuerliche Maskadengeschichte der Balkan-Korrespondentin des "Spiegel", die sich als christlich-albanische Journalistin in der Enklave bewegte) oder
zitiert aus einem (tendenziösen?) Lagebericht von April 2008 des deutschen "Grünen"-Abgeordneten Winfried Nachtwei.

Versuch, ein Reporter zu sein
Und wie ist denn das Leben in der Enklave? Der Ich-Erzähler will anfangs systematisch in die Rolle des Reporters oder meinetwegen Journalisten schlüpfen, mit Notizblock und Stift Fragen stellen, dabei aber in jedem Fall vermeiden, daß allein schon die Syntax eine Meinung oder ein Vorurteil, weder ein negatives noch auch ein positives verriete.
Aber schnell gibt er dieses systematische Frage-und-Antwort-Spiel auf, lässt die Dorfbewohner erzählen (ein frisches Erinnern), assoziieren und abschweifen, hört ihrem tonlose[n] Sichtbeklagen zu, besucht sie in einem alten fensterlosen Container (mit Kinoklappstühlen), den sie sarkastisch "Rambouillet" nennen und wo sie reden und trinken und kaum ein Satz ohne Daten und Zahlen, deren Angaben der Schreiber nachvollziehen kann, aber was kein Gutheißen war. Er besucht mit ihnen ihre Felder, das "serbische Athos" - in Wirklichkeit ein Miniatur-Athos, kleine Heiligtümer…einige versteckt und kaum auffindbar und schaut zu, wie Miniaturfassaden von Kirchlein oder Holzkreuze in Flaschen verbracht,  von dem einheimischen Velika Hoča-Rajika umspült und dann verkauft werden (Die Abnehmer? Die KFOR-Soldaten…).
Und wie er den Stolz des Dorfbewohners erzählt, als dieser dem Besucher den Weinberg zeigt (leider gab es in den letzten Jahren zu wenig Regen) und dann die Ausgelassenheit, als er den Fremden, der sich ein bisschen vor Schlangen zu fürchten scheint, neckt in dem er ihm einen abgefallenen Ast…in den Schritt stösst. Es gibt Lachsalven, aber dann je näher der Dorfmitte…, desto auffälliger die Rückverwandlung des freien, selbstbewußten und spielfreudigen Weinberginhabers in einen Geduckten, einen Mittel- und Zukunftslosen und sein Betreten des Hofs: gebückt war der gerade noch Hochaufgerichtete, schallend Lachende und in allen Belangen Sachverständige durch das Tor getreten.
Da wird Handke (bzw. sein Erzähler) dann doch ein bisschen zum Reporter - freilich nicht durch das pure Zusammentragen und Abschreiben (allenfalls noch ein bisschen Umformulieren) von Nachrichten, sondern durch Zuhören und Anschauen und nicht umsonst erweist er dem 2007 verstorbenen Ryszard Kapuściński eine Referenz. Und der Erzähler, der anfangs in der Berichterstattung so oft das Wort "angeblich" bemängelte, wenn es um die Attribuierungen der Journalisten den Enklavenbewohnern gegenüber ging, er benutzt es nun selber, ohne Anführungszeichen, hier und da (wenn er es nicht so genau weiss oder wissen kann).

Keine Idyllisierung des Enklavenlebens (gar des "Serbentums") findet hier statt – sondern Handkes Erzähler scheint wenn nicht gespalten, so doch zweifelnd. Das erinnert stark an die Brüder Pablo und Felipe Vega im Königsdrama "Zurüstungen für die Unsterblichkeit" (1995) welches (ebenfalls) in einer Enklave spielt "zum Beispiel im Bergland von Andalusien". Beide Brüder bilden in diesem Stück in ihrem Dualismus das Alter-Ego des Dichters: Hier Pablo der Rückkehrer, weltläufig, das, was man "weitgereist" nennt und mit seinem "Lusthaben auf die Macht" die Enklave zu einer "anderen Gesellschaft" formen möchte – dort Felipe, der Daheimgebliebene, Sesshafte, der (scheinbar) immer Gescheiterte, der ewige Skeptiker.

Glockenschläge und Muezzin-Rufe
Und während in der Enklave des Dramas "die Vögel mit ausgebreiteten Schwingen" fliegen und "in wunderbarer Sorglosigkeit" durchs "Gras tippeln" will Pablo "nie mehr der Sieger sein, sondern der Fürsorgliche…Besser ein Geduldiger als ein Held" und eine neue Verfassung schaffen oder ein Gesetz, "welches das Leben nicht einschränkt, sondern löst".

Pablo und Felipe – diese beiden Herzen schlagen auch in des Erzählers Brust, als dieser Velika Hoča im Mai 2008 besucht: Hier die Fürsorge um die Minderheit – dort das Wissen um die Perspektivlosigkeit dieses Daseins (allen Bekenntnissen zum Trotz: Ranko, der junge Dichter, der sich mit dem Erzähler und Zlatko B. auf die Fahrt zur Enklave macht, ein Wildfang, ein Provokateur während der Fahrt, reist einen Tag nach Ankunft wieder ab). Hier der Wunsch eines anderen Lebens (dem viele nachgegeben haben, in dem sie fortgingen) – dort der immer weiter konservierte Hass (selbst der Name des feindlichen gewordenen Dorfes wurde gemieden). Und Pablos erster Satz der neuen Verfassung "bedenkt vor jedem Fremden die eigene Fremde mit" dann in Anbetracht der langandauernde[n] Momente des Zorns und des Nichtbegreifens (für welches eine gewisse Sprache vielleicht "Unbelehrbarkeit" eingesetzt hätte) bei den Enklavenbewohnern – welche Diskrepanz.
Und plötzlich erscheint das Beieinander in einem großen Europa, wo die einzelnen Staatsgrenzen, anders als jetzt noch, und vor allem die hierzulande, nicht mehr zählen als Zufluchtsraum (ja, "Raum"), nein: als Vision, als Wunsch, als Phantasie (freilich noch weit weg, wie vor allem der kleine Nebensatz anders als jetzt noch zeigt). Und wie beschwörend dann eine Art Friedensbild in einer (eingebildeten?) Kakophonie am folgenden Sonntag, nein, an einem der Tage vorher, einem orthodoxen Feiertag, das Glockenläuten in der Enklave und simultan, nein, das war keine Halluzination, im albanischen Unterdorf, so fern wie klar, das Muezzin-Schallen, zum Elf-Uhr-Gebet…im Einklang zum Läuten und/oder Gebetsrufen, Glockenschlag für Glockenschlag und/oder Suren-Silbe für Suren-Silbe, ein Gebell losließen, welches, ein wie skandierendes und synkopierendes, einmal kürzeres, einmal längeres, hochgezogenes und so geradezu melodisches Aufheulen, so oder so ein eindeutiges Respondieren war, oder jedenfalls sein sollte.

»Kuckuckskonzil«
Bei der Ankunft, gleich beim Aussteigen aus dem Auto…in einer Maiensonne wie nur je einer, erklangen sie überall in dem weiten Umkreis rund um das Dorf […] All den Frühling hatte ich quer durch Europa hier und dort auf das Rufen eines Kuckucks gewartet…Aber in den Wäldern dann, gleichwelchen, gleichwo: nada…In Velika Hoča dagegen vom ersten Augenblick an ein regelrechtes Kuckuckswelttreffen oder –konzil, vielleicht nicht gerade der Liebe wegen, aber spürbar auch nicht zum Streit. Und es setzte sich während all der Tage dort fort, jeweils bis in die Abende hinein, und in jenem anderen Zeitsinn sind die Kuckucksrufe selbst in den Nächten erschollen und von nun an sollen die Kuckucksrufe das Vordringliche und den Grundton Angebende sein. 
Wie zahlreich jetzt die Deutungsmöglichkeiten und wie verführerisch für den Leser! Steht der Kuckuck etwa als Bild für den Enklavenbewohner, der im "falschen Nest" sitzt? Oder für die Schutztruppen? Oder auch die zahlreichen Kuckuckslegenden: Hört man den Kuckuck zum ersten Mal im Frühling von vorne rufen wird man weinen – von hinten wird man sterben. Er ist Glückssymbol, Frühlingsbote, Wetterprophet, verheisst Geld, sagt an, wie die nächste Ernte wird, dient als Lebensorakel oder kündigt gar den Tod an. Aber dann, am Ende des Buches das Problem der Kuckucke hier im zentralen Europa: infolge der Klimaerwärmung brüteten seit einigen Jahre alle die Vögel, denen sonst die speziellen Kuckuckseier ins Nest geschmuggelt worden waren, viel früher aus, und die Kuckucke "wußten" das noch nicht und fanden sich vor leeren Nestern. Das war der Grund dafür, dass sie unverrichteter Dinge weiterflogen und in unseren Breiten die entsprechenden Rufe kaum mehr zu hören waren. Velika Hoča also der Ort, in dem die Zeit noch stillsteht?

Ganz am Schluss im Nachtrag zum Nachtrag dann: Und jener letzte oder vorletzte oder erste Morgen in Velika Hoča, da ich, aus meinem Quartier durch das Hoftor auf den Dorfplatz getreten, mich auf die Stufen vor dem Tor setzte, da der eine kleine Streunhund sich zu mir gesellte, da die Enklaven-Kinder über den Platz zur Schule gingen, da die Enklaven-Alten sich aufmachten zu ihren hoffnungslos-heiteren Tagesrunden, da die Dorfplatzlinden grünten, und da unter uns allen ein illusionäres Einverständnis herrschte, nicht mit der Geschichte, bewahre, aber mit der Morgenluft, der Ratlosigkeit, dem Rundenziehen, dem Dasitzen… Doch noch eine Idylle? Ja, doch noch eine Idylle – für den Augenblick (und warum nicht?). Aber eine todtraurige. 
Der Erzähler (und mit ihm der Leser) erlebt fast physisch dieses "Einander-Unsichtbarwerden" wie es in Handkes Stück "Die Fahrt im Einbaum" (1999) heisst: "Wir sind einander aus dem Blick geraten, und nicht nur der Nachbar vom Gegenhügel, sondern auch der gleich nebenan, hinter der Hecke. Schon immer waren unsere Gründe an ihren Grenzen ziemlich verwachsen – noch nie aber so dicht wie damals, als wir einander unsichtbar wurden. […] Ich verlor die Gesichter der anderen…ich habe das Gesicht des anderen verloren. […] Ja, so die Nachbarn mir zu Phantomen geworden". Und so bleibt eine Beklemmung. Das Einander-zu-Phantomen-Werden hat offensichtlich nicht aufgehört. Frieden mehr als ein Waffenstillstand und noch in weiter Entfernung. Das lehrt, zeigt, nein: erzählt dieses Buch. Lothar Struck

Die kursiv gedruckten Passagen sind Zitate aus dem besprochenen Buch.
 

Peter Handke
Die Kuckucke von Velika Hoca

Eine Nachschrift
Suhrkamp
99 Seiten, Klappenbroschur
Euro 15,80 [D] / Euro 16,30 [A] / sFr 28.00
ISBN 978-3-518-42056-0


 


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