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Glanz & Elend Magazin für Literatur und Zeitkritik

Die menschliche Komödie
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»Ja, Peter Handke ist ein Romantiker. Immer noch.«

Lothar Struck über »Peter Handke Freiheit des Schreibens – Ordnung der Schrift« das als Profile Band 16 herausgegeben von Klaus Kastberger erschienen ist

Plötzlich, ganz unverhofft: Auf Seite 5 eine orange-braune Schulheftseite: "Deutsch-Schularbeiten" steht da und darunter "Handke, Peter" und "9c 1956/57". Es ist ein Faksimile eines Aufsatzes vom 19.12.1956 mit dem Titel "Meine Füllfeder". Auf der letzten Seite in roter Schrift "sehr gut".
Dann ein Gespräch (kein Interview!) mit Peter Handke, Elisabeth Schwagerle und Klaus Kastberger. Es geht darum, dass Handke seit 1993 seine Manuskripte nicht mehr mit Maschine schreibt, sondern mit dem Bleistift und meistens draußen. Es geht darum, wie "methodisch" Handke schreibt (hierzu gibt es durchaus Neues). Es geht um das Schreiben als Akt an sich und – Handkes großes Thema – seine Lebens- und Schreibkrise 1979, die sich in "Langsame Heimkehr" so dezent erahnen lässt und auf die er immer wieder zu sprechen kommt. Im weiteren Verlauf des Buches verdichten sich die Anzeichen, dass es damals tatsächlich eine radikale Zäsur in seinem Werk gab (Georg Pichler), vielleicht eine Wende zur Klassik (Leopold Federmair; im Dissens mit Pichler, der Handke für einen Romantiker hält). Dabei sieht Handke selber sein Werk als Kontinuum. Und es könnte sein, dass beide recht haben.
Der 16. Band der "Profile" versammelt fünfzehn Aufsätze von zum Teil illustren Handke-Kundigen, die sich unterschiedlichen Aspekten dieses Werkes widmen. Auf fast 90 Seiten sind Faksimiles ("Werkmaterial") von Manuskripten, Korrekturfahnen und Notizen aller Art (und auch aus den Notizbüchern) aus dem sogenannten "Vorlass" abgedruckt. Handke hatte im Jahr 2007 seine Materialien (mit Ausnahme der Notizbücher, die sich im Deutschen Literaturarchiv in Marbach befinden) an das österreichische Landesarchiv verkauft. In einigen Beiträgen sind tatsächlich bereits Erkenntnisse aus Sichtungen dieser Notizen und Manuskripte eingeflossen, die der Leser in den Faksimiles dann teilweise sogar nachvollziehen kann.

Übersetzungen als Weiterdichtungen
Zu Beginn beschäftigen sich Fabjan Hafner und Elisabeth Schwagerle mit Handkes Übersetzungen. Hafner, der mit seinem fulminanten Buch "Peter Handke – Unterwegs ins Neunte Land" klug und akribisch die Bedeutung der Kärntner Herkunft des Dichters und die Spiegelung dieser Wurzeln im Werk untersuchte und sich damit als ein profunder und gleichzeitig feinfühliger Kenner gezeigt hat, referiert allgemeiner über die 29 bisher vorgenommenen Übersetzungen Handkes. Erstaunlich, dass der Dichter ausgerechnet mit den beiden ihm nicht so vertrauten Sprachen (dem Slowenischen und Englischen) begann. Hafner stellt heraus welche Bedeutung die Übersetzungen von Florjan Lipuš ("Der Zögling Tjaž"; unter Mitarbeit von Helga Mračnikar) und Gustav Januš (insgesamt vier Bücher hat er von ihm übersetzt) für die slowenischsprachige Literatur besitzen (und auch für Handke selber, der damit die Sprache neu erlernte). Zudem ist diese Übersetzerarbeit auch als ein Zeichen zu verstehen, denn beide Autoren sind keine originär slowenischen Autoren, sondern Kärntner Slowenen (wie Handkes Mutter).
Behutsam entwickelt Hafner eine Art "Übersetzungsgeschichte" von Walker Percys "Der Kinogeher" bis zu den zahlreichen Übersetzungen aus dem französischen, einer Sprache, die Handke perfekt beherrscht (er wohnt seit 1990 in einem Pariser Vorort).
Hier zeigte sich Handke als Entdecker (beispielsweise George-Arthur Goldschmidt, Bruno Bayen) bzw. Wieder-Entdecker (Emmanuel Bove) von Schriftstellern, wie er dies so oft praktizierte (auch manchen deutschsprachigen Schriftsteller empfahl er nachdrücklich; einige wurden dann tatsächlich von der Kritik angenommen wie Hermann Lenz oder Walter Kappacher – andere blieben eher "Geheimtips" wie Peter Stephan Jungk, Erich Wolfgang Skwara oder Wolfgang Welt). Mit der Übersetzung von Sophokles' "Ödipus auf Kolonos" aus dem Altgriechischen beendete Handke 2003 offensichtlich seine Übertragungen, nimmt man die Übersetzungen der eigenen Texte vom französischen ins deutsche aus ("Warum eine Küche?" [2003] und "Bis daß der Tag euch scheidet" [2007/2008] aus. Hafner mutmaßt, dass die einstige Kraftquelle des Übersetzens, die Handke früher als Motor angeführt hatte, versiegt sei.
Elisabeth Schwagerle beschäftigt sich ausführlicher mit den Übersetzungen Handkes von René Char, stellt dafür kurz dessen Leben und Werk vor (er war Widerstandskämpfer in der Résistance und hatte während dieser Zeit seine schriftstellerischen Aktivitäten eingestellt) und erläutert den Status Chars in der französischen Literatur. Sie referiert über die zunächst fast widerwillige Kontaktaufnahme Handkes zu Char (der Übersetzungen eigentlich ohne Hilfe des Autors bewältigen wollte), vergleicht dessen Übersetzungen mit denen von Paul Celan und stellt bei Handke Ungenauigkeiten und Fehler fest, obwohl sie gleichzeitig einräumt, dass Char sehr schwer übersetzbar sei.
Hafner und Schwagerle konstatieren bei Handkes Transkriptionen durchaus Eigenmächtigkeiten des Dichters (die aufgrund seiner Prominenz akzeptiert worden wären), der die Übertragung gelegentlich als eine Art Weiterdichtung versteht. Während Hafner dies jedoch als "bewusst verfremdende Setzungen" goutiert und deutlich macht, dass es sich nicht um Unkenntnis oder Willkür, sondern um eine verdeutlichend-verfremdende Übersetzungsstrategie handelt, steht Schwagerle diesem Verfahren deutlich kritischer gegenüber, auch wenn sie französischen Kritikern widerspricht, die Handke vorwerfen, er habe Char enthistorisieren (und damit entpolitisieren) wollen.

Poesie und Tatsachen - Miteinander oder Gegeneinander?
Etwas gewagt wirkt Schwagerles Versuch, Chars politischen Impetus mit Handkes Jugoslawien-Büchern zu verknüpfen und ein Miteinander von Poesie und Tatsachen als dessen Ideal auszugeben. Zumal sie bei Handke seit 2008 eine Abkehr von Char ausgemacht zu haben glaubt. Auch Leopold Federmair versucht diese "Versöhnung" von Poesie und Tatsachenbericht anhand von Handkes Rede zur Verleihung des Ehrendoktorats der Universität Klagenfurt in 2002 ("Wut und Geheimnis") vorsichtig als eine Wende herauszuarbeiten. Begonnen habe dies, so Federmair, 1993 mit "Mein Jahr in der Niemandsbucht", als sich der Ich-Erzähler Gregor Keuschnig (den er in Bezug auf dieses Buch ein wenig merkwürdig als Keuschnig II in Abgrenzung zur gleichnamigen Figur aus "Die Stunde der wahren Empfindung" bezeichnet) immer mehr als Chronist sehe. Federmair zitiert aus der fast zehn Jahre später gehaltenen Rede die Passage, in der Handke sagt, im Alter gelte seine Sympathie den »Tatsachenberichten« und der »kruden Historie«, während er früher die »Poesie« vorgezogen habe.
Liest man die Rede im Zusammenhang, so ergibt sich ein leicht anderes Bild. Handke empfiehlt zunächst die Lektüre von drei genuin literarischen Büchern von Kärntner Slowenen, die sich mit dem politischen Widerstand gegen den Nazismus aus unterschiedlichen Perspektiven beschäftigen. Bei dieser Lektüre der Bücher ergibt sich für Handke bei aller literarischen Fiktionalität eine Art Zeugnis-Charakter und er entdeckt: »Zuerst, als du jung warst, hast du die Poesie den Tatsachenberichten, der kruden Historie vorgezogen. Und jetzt, als älterer Mensch, bist du versucht, wieder die kruden Tatsachengeschichten, wie die der Kärntner Partisanen, auszuspielen gegen das dichterische Sich-Ausdrücken.« Diese Stelle nimmt Federmair zum Anlass für seine These. Handke will jedoch Poesie und Tatsachengeschichte nur nicht mehr gegeneinander ausspielen und bilanziert demzufolge: »Das ist genauso falsch. Beides gehört zusammen. Beides sollte und muss zusammen gelesen werden.«
Also doch eine Kehre? Nein. Denn wenn Handke in seiner Büchnerpreisrede 1973 die »begriffsauflösende« und »zukunftsmächtige Kraft« des »poetischen Denkens« geradezu beschwört und 23 Jahre später im Dialog mit sich selber in "Eine winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina oder Gerechtigkeit für Serbien" vom Poetischen als das »gerade Gegenteil« vom »Nebulösen« spricht und dies mit dem »Anstoß zum gemeinsamen Erinnern, als der einzigen Versöhnungsmöglichkeit für die zweite, gemeinsame Kindheit« bestimmt, so sind damit gerade nicht die üblichen Bedeutungen von "Tatsachen" oder "Fakten" gemeint, wie sie im Journalismus oder der Geschichtsschreibung verstanden werden.

Journalismus-Utopie
Dies zeigt Hans Höller in einem sehr schönen Essay anhand der Erzählung "Die Kuckucke von Velika Hoča". Parallel zum in dieser "Nachschrift" virulenten Humor, der sich zum Beispiel darin zeigt, dass ausgerechnet der Autor des Theaterstückes "Das Spiel vom Fragen" gleich am Anfang das Interview-Scheitern eingesteht (und am Ende es dann doch zu einem solchen "Interview", freilich einem anderen, kommt), entwirft Höller Handkes "Journalismus-Utopie". Dabei wird deutlich, dass der eher ruhigere Ton in diesem Buch keinesfalls eine Annäherung auf die in den anderen Büchern so gescholtenen Journalisten darstellt. Nach wie vor hat Handke (s)eine eigene Vorstellung von Journalismus und Tatsachenberichten, die Höller aus der Tradition unter anderem Heinrich Heines ableitet.

Guter Journalismus ist für Handke, so Höller, genaue[s], aufmerksame[s] Erzählen der Alltäglichkeit. Durch das Aufgeschriebene, die Nachschrift, erhält das Subjektive und Vergängliche eines Augenblicks Dauer und bekommt dadurch eine Zukunft. Eng korrespondiere dies mit Handkes Schreibideal, die Aufmerksamkeit für die konkrete, alltägliche Lebenswelt des Hier und Heute, die Beteiligung des wahrnehmenden Ich an bzw. in der Welt.
In diesem Moment (und erst dann!) bringt Handke, so die These, das Poetische und das Politische zusammen. Das ist mehr als das Herunterleiern von Allgemeinplätzen. Es ist mehr als das bloße Aufzählen von (oft genug ungeprüft wiedergegebenen) "Fakten", die sogleich derart interpretiert werden bis sie die eigene Gesinnung, das längst fertige (Vor-)Urteil, bestätigen. Was zählt ist die »Augenzeugenschaft« und das, was man daraus macht. Dann "zeigen" sich die Dinge im Wittgenstein'schen Sinn.
Bernhard Fetz nimmt in seinem Beitrag über die balkanische "Geographie der Träume" in Bezug auf Peter Handkes Erzählung "Die morawische Nacht" diese Programmatik wieder zurück. Er sieht Handke in der Nachfolge Doderers als jemand, der Historie in Erzählung…versinnlichen möchte; freilich unideologisch. Zwar konstatiert Fetz, dass Handke andere Formen der Wirklichkeitsanschauung praktiziere (er formuliert dies als eine speziell österreichische Sichtweise und führt zahlreiche Kronzeugen hierfür an). Seine These von der Revolutionierung hergebrachter Erfahrungs- und Subjektbegriffe durch literarisch-essayistisch-journalistische Mischformen im allgemeinen und in der "Morawischen Nacht" im besonderen, dürfte jedoch zu weit gehen, auch wenn er dies aus der Erzählung mit einem Zitat glaubt abzuleiten zu können.

Literaturpolitik?
Und auch die Literaturpolitik, die er Handkes Jugoslawien-Büchern, die er Essays nennt, erscheint zu beliebig: Sie seien literarisch und politisch, an den Bruchlinien zwischen Journalistik und Literatur (er nimmt hier abermals die "Morawische Nacht" ein). Die literarische Uneindeutigkeit im Sinne Handkes ist ein politischer Standpunkt stellt Fetz fest, was letztlich auf den banalen Schluss hinausläuft, dass irgendwie alles politisch sei.

Der Autor macht aus Peter Handke (bzw. seinen Protagonisten) einen Rückkehrer (Heimkehrer wäre das treffendere Attribut gewesen) in der Tradition Hugo von Hoffmannsthals ("Briefe des Zurückgekehrten"), der am Ende sein Märchenland (die multikulturelle Ökumene "Jugoslawien" - Alexander Honold), was es so nie gegeben hat, vermisst und berücksichtigt dabei leider Fabjan Hafners Nachforschungen nicht. Gegen Ende räsoniert Fetz ein wenig gönnerhaft, dass gerade die verstockte, hartnäckige, scheinbar wider jede politische Vernunft sich stellende  'andere' Wahrnehmung Handkes "Jugoslawien"-Bücher so aufregend mache. Und auch die durchaus im Kern zutreffende Bemerkung, in der "Morawischen Nacht" werde die poetische Balkanisierung als…gesamteuropäische Utopie betrieben ist bei genauer Kenntnis des Werkes Handkes spätestens seit "Über die Dörfer" ein immer wiederkehrender Topos, wie beispielsweise Leopold Federmair herausstellt, der in Handkes Prosa eine Einheits- und Harmonie-Vision erkennt, die sich ein anderes, ein friedfertiges, sanftes Europa jenseits institutioneller Zuordnungen wünscht.
Katharina Pektor untersucht die Entstehung der Erzählung "Der Chinese des Schmerzes" (1983) und findet hierzu in den überlassenen Notizen, Manuskripten und Korrekturfahnen etliche Details, die im umfangreichen Bildteil des Buches begleitend nachzuschlagen sind. Dabei ergeben sich durchaus ergänzende Erkenntnisse, die gelegentlich auch neue Interpretationsräume öffnen, die nicht nur von philologischem bzw. literaturwissenschaftlichem Interesse sind.

Erzählen ist kein Nacherzählen
In Ihrem Aufsatz entwickelt Pektor am Erzählgestus des "Chinesen des Schmerzes" fast en passant eine Art poetologisches "Konzept" der Prosa von Peter Handke:
Aktualität und Realismus manifestieren sich nicht in der "Geschichte" oder Handlung, sondern in der Sprache und im Erzählen. Das heißt: Erkenntnis der Wirklichkeit kommt nicht vom Erfassen der Dinge (der Natur, der Außenwelt) selbst, sondern im Gewahrwerden der jeweils eigenen (subjektiven) Erfahrung der Dinge im objektiven Medium der Sprache. Dem Dingen beim Erzählen gerecht zu werden, bedeutet in der Folge auch nicht, sie beschreibend "nachzuahmen" […] oder "nachzuerzählen" […], sondern die eigene (innere) unwillkürliche und vorerst formlose Wahrnehmung und Empfindung der Dinge sprachlich (formal) möglichst genau zu rekonstruieren und sie dabei zugleich zu abstrahieren, dass eine (trotzdem immer konkret bleibende) Grunderfahrung darin deutlich wird.

Der Gegenstand, die Beobachtung wird zum Auslöser eines Reflexionsprozesses und dabei im Erzählen verfremdet, umgeformt, ja verbogen. Erzählung ist nicht bloß "Abbild" des Geschehenen, sondern Sprachwerdung des Empfindens, die jedoch ständig befragt werden kann und sogar muss (Erzählung ist demnach nie "vollkommen", es bleibt Prozess; die Suche nach dem "richtigen Wort", dem richtigen Begreifen). Georg Pichler zitiert Rolf Günter Renner (1985), der die Erinnerung "als eine Form der poetischen Phantasie, welche die Außenbilder und die Innenbilder aneinander vermittelt" bezeichnete. Pichler weiter: Das Schreiben muss aus der Erinnerung vor sich gehen, aus der im doppelten Sinn zu verstehenden geistigen Wiederholung der Welt, wobei das Zufällige der Welt nur dann Zusammenhang und innere Logik erhält, wenn es durch ebendiesen Prozess der Erinnerung gestaltet wird. Diese Erinnerung ist exakt das Gegenteil der Nur-Rekonstruktion von faktentreuer Authentizität – sie ist Literatur.
Als Kontrast zu Pektors literaturwissenschaftlichem Ansatz kann man Thomas Deichmanns eher journalistischen Aufsatz über die zahlreichen Reisen mit Peter Handke (Reisen mit ihm sei erlebte Literatur) in das ehemalige Jugoslawien seit 1996 lesen, in dem er unter anderem die Verarbeitung realer Personen und Erlebnisse in den Erzählungen und Notaten Handkes sucht, findet und (manchmal mit einem gewissen Gestus) "enthüllt" (etwa die Person des "Waldläufers" in Handkes "Fahrt im Einbaum" – es ist der wegen Beihilfe zum Mord verurteilte Novislav Djajić; beiden Reisenden aus mehreren Begegnungen bekannt). Deichmann, der nicht unbedingt in jedem Punkt Handkes Stellungnahmen zum Jugoslawien-Konflikt teilt, ist stark beeindruckt von dessen Sachkenntnis, welches er aus dem detaillierten Studium mehrerer, internationaler Zeitungen und eben den Anschauungen auf seinen Reisen gewinnt.
Neben dem arg "realitätsbezogenen" Zuordnen und Beobachten zitiert Deichmann am Schluss seines Aufsatzes aus dem Roman "Der Bildverlust" die Stelle die fast exemplarisch für die Handke-Rezeption insbesondere der (sogenannten) Jugoslawien-Bücher ist und Pektors Ansatz fortzuschreiben scheint. Die Bankfrau antwortet dem Autor, warum sie ihn »als Erzähler ihrer Reiseabenteuer« ausgewählt habe: »Auch wenn Sie vielleicht ab und zu das eine oder das andere in Ihren Büchern erfunden haben, und vielleicht sogar alles (das zu wissen interessiert mich keinen Deut): Insgesamt haben Ihre Geschichten immer gestimmt und bleiben insbesondere bis auf weiteres stimmig, unendlich stimmiger oder realer als gleichwelche Tatsachenberichte, und waren und sind ebenso unvergleichbar realer als jedes angeblich handgreifliche und reichbare Realitätsprozedere.«   

Die Notizbücher
Erste Resultate aus Sichtungen und (vorläufige) Katalogisierungen der insgesamt 66 Notizbücher Peter Handkes lassen sich im Text von Ulrich von Bülow nachlesen. Die Notizbücher umfassen auf mehr als zehntausend beschriebenen Seiten (maximales Format ist DIN-A6) den Zeitraum von November 1975 bis Juli 1990 (sie sind nicht lückenlos; Handke hat einige Bücher verloren und/oder verschenkt).
Von Bülow erläutert, dass es sich keinesfalls um private Tagebücher im klassischen Sinne handelt, sondern (hier zitiert er Handke selber) um »Reportagen« von »Sprachreflexen«, die Sprachspiel-Charakter besitzen und von »jeder Privatheit befreit und allgemein« sind. Die genaue Lektüre zeigt manchmal die Arbeitsschritte an den einzelnen Büchern an und dokumentiert deren Werkstattcharakter.

Etliche Eintragungen sind zwar datiert (in den Veröffentlichungen wurden ein Datum nur sehr sporadisch an das Ende gesetzt), aber losgelöst vom realen Tagesereignis. Aus den Notizbüchern erschienen fünf Bücher: "Das Gewicht der Welt" (die Zeiträume von November 1975-März 1977 umfassend; 1977 erschienen), "Die Geschichte des Bleistifts" (1976-1980; 1982), "Phantasien der Wiederholung" (1981-1982; 1983), "Am Felsfenster morgens" (1982-1987; 1998) und Gestern unterwegs (November 1987-Juli 1990; 2005). Interessant der Hinweis, dass der Text in den Bänden "Phantasien der Wiederholung" und "Am Felsfenster morgens" am stärken komprimiert wurde, und zwar etwa im Verhältnis 4:1. Jetzt wird langsam deutlich werden, welche Aufzeichnungen Handke nicht veröffentlichte. (Leopold Federmair weist übrigens in seinem Beitrag darauf hin, dass in den veröffentlichten Journal-Texten am Ende der einzelnen Einträge immer der Punkt fehlt, so dass ein leiser Eindruck von Abgerissenheit und von Ungesagtem entsteht.)
Von Bülow greift auch scheinbare Nebeneffekte dieser Journale auf: Es gibt Zeichnungen (manche überwuchern sie dann die Texte, die dann sehr schwer lesbar sind); besonders bewegend eine (in den Materialien gezeigte) Zeichnung von Nicolas Born auf dem Sterbebett. Manchmal sind auch Gegenstände eingeklebt (zum Beispiel Vogelfedern oder Kassenbons). Und mitunter gibt es sogar Eintragungen anderer Personen und auch Handkes Tochter Amina (1969 geboren) verewigt sich mit Schreibübungen und Zeichnungen.

Interessante Vermutungen weiß der Autor Handkes Affinität zum Bleistift anzustellen (viel substantieller als Michael Hansel in einem eher mittelmäßigen Aufsatz vor von Bülows Text), der als eine Art Metapher der Zeit gesehen werden könnte (zum Beispiel durch dessen begrenzte Lebensdauer), obwohl in den Journalen auch Filz- und Kugelschreiber verwendet wurden. Der Bleistift spielt jedoch in zweierlei Hinsicht für Handke die entscheidendere Rolle: Zunächst zwingt er zur Langsamkeit (ein essentielles Anliegen Handkes) und dann ist er für Zeichnungen prädestiniert. So wird der Bleistift das Medium, um körperliche Wirklichkeiten mittels Zeichnung zu "lesen" und mit Anschauungen verbunden werden.
Es gibt nicht wenige Leser, die Handkes Notate für die Perlen in dessen Werk halten. Von Bülows Fazit, die Notizbücher seien Hilfsmittel einer auf das Schreiben ausgerichteten, experimentierenden Lebensführung ist unbedingt zuzustimmen. Sie dienten, so der Autor weiter, der Reflexion wie der ästhetischen Selbsterziehung, als Laboratorien für Lesarten und Formulierungen, als Ideen- und Bildspeicher und als Mittel, um jenen poetischen Wachzustand zu erreichen, der für den Autor einem Zustand nahekommt, den er Glück nennt. Vor diesem Hintergrund scheint es schwer vorstellbar, dass Handke das Notieren sozusagen eingestellt haben und nach 1990 keine Notizbücher mehr existieren sollten.

Raimunds "Rappelkopf" und Handkes Wilder Mann
Bernhard Doppler sucht und findet in seinem Aufsatz Parallelen zwischen Ferdinand Raimunds "Rappelkopf" aus "Der Alpenkönig und der Menschenfeind" und den Protagonisten (aber auch in Handkes Person selber) insbesondere (aber nicht ausschließlich) in Handkes Theaterstücken, wobei er ein Kontinuum von der "Publikumsbeschimpfung" (1967) und dem "Wilden Mann" aus dem "Untertagblues" (2003 herausarbeitet. Der Kritik wirft er vor, in den Wutausbrüchen in Peter Handkes Werk die Abgrenzung zur Melancholie zu wenig herauszuarbeiten.

Doppler gibt auch einen kurzen Überblick über das (jüngere) dramatische Werk Handkes (Stücke wie "Das Spiel vom Fragen" oder "Zurüstungen für die Unsterblichkeit" nennt er Zumutungen für jeden Theaterbetrieb) und der durchaus reservierten Kritikermeinungen hierzu. Neben Nestroy und Tschechow sind die zahlreiche Bezüge zu Ferdinand Raimund auffällig, wobei Doppler als Differenz zu Raimund die Ironisierungen in den Figuren (und damit auch Handke selber) sieht, die immer wieder einfließen (beispielsweise im "Spielverderber" im "Spiel vom Fragen", der seinem Antipoden, dem "Mauerschauer" gelegentlich geradezu Vorlagen zur Selbstironisierung zu geben scheint). So beuge Handke drohenden Sakralisierungen vor (die ihm dennoch von der Kritik häufig unterstellt werden), was vielleicht durch die bisweilen unernsten Inszenierungen (oft wurden die Uraufführungen von Claus Peymann inszeniert) befördert wurde; letzteres berücksichtigt Doppler nicht. (Und auch das Auftauchen von Raimund in der "Morawischen Nacht" kommt nicht bei ihm vor.)

Dennoch ist dies ein sehr interessanter Aufsatz, der zu dem verblüffenden Schluß kommt: Die Wut und der Verfolgungswahn bei Raimunds Menschenhasser sitzen tiefer – gerade in allen Anstrengungen der Harmlosigkeit – als bei Handkes Wilden Männern. Möglicherweise sind die Rollen sogar umzukehren. Der Wilde Mann ist gar kein Spielverderber, sondern bleibt der Mauerschauer…

Raimund Fellinger berichtet über Entstehung von "Mein Jahr in der Niemandsbucht" (auch hierzu gibt es im Fototeil Material) und "enthüllt", dass der Presse-Vorschautext des Verlages zu diesem Buch fast zu einem Zerwürfnis mit Handke geführt hätte (er war Handke zu bombastisch ausgefallen). Klaus Kastberger referiert über "Peter Handke und das Salz" anhand der Erzählung "Kali – Eine Vorwintergeschichte". Kastberger dokumentiert die Prospekte der Firma "Kali und Salz", mit denen sich Handke informiert hat und zeigt damit, dass der Titel der Erzählung mit der indischen Göttin "Kali" nichts zu tun hat. Karl Wagner versucht die heftige Ablehnung Handkes zu Robert Musils "Mann ohne Eigenschaften" zu erklären, entdeckt allerdings überraschenderweise durchaus eine vergleichbare Haltung [in] der Kritik an den falschen Oppositionen von Verstand und Gefühl und an der zum Denksystem und Aufklärungsfimmel pervertierten aufklärerischen Vernunft um dann doch am Ende die unüberbrückbare Differenz festzustellen: Der entscheidende Unterschied…besteht darin, dass Handke, hochgradig selbstreflexiv, auf das Erzählen setzt während Musil eher der Wissenschaftlichkeit verpflichtet scheint.

Etwas kryptisch, weil in reichlich Germanisten-Jargon verpackt bleibt (leider) Alexander Hunolds Aufsatz "Entzifferung der Ökumene", wobei die ursprüngliche Bedeutung des Ökumene-Begriffs als gemeinsam gestaltete[r] Lebensraum und der Gegensatz, die Diaspora als Vorgänge der räumlichen Zerstreuung zunächst vielversprechend erscheint. Anhand der Übersetzung von Sophokles' "Ödipus auf Kolonos" und Handkes Erzählungen "Die Lehre der St. Victoire" und "Die Wiederholung" versucht Hunold sein Schreiben als eine genuin ortsverbundene Entzifferung des Raums der Ökumene (siehe oben!) herauszustellen. So stehen die in den Erzählungen genannten Orte immer pars pro toto, d. h. es handelt sich nicht nur um die genannten Orte selber, sondern um sozusagen repräsentative Orte; Orte der Literatur.

Goethe - Erst Negation, dann Schreib-Ahne 
Auf zwei ausgezeichnete Aufsätze, die neben von Bülows Bemerkungen über die Notizbücher zu Höhepunkten in diesem Buch zählen, sei abschließend hingewiesen. Zum einen handelt es sich um Georg Pichlers Arbeit über die Positionierung Handkes zu Goethe. Zunächst stand Handke Goethe und seiner Ästhetik durchaus skeptisch gegenüber und gerierte sich als dekonstruierender Sprachskeptiker, was durchaus die Goethe-Rezeption inkludierte. Mitte der 1970er Jahre wandelte sich jedoch Handke langsam und zunächst kaum merkbar zu einem Sucher nach einem harmonischen Bezug zwischen Ich und der Welt (wobei dieser Impetus - Pichler erwähnt dies - nicht ohne Häme bemerkt wurde). Die Erzählung "Die linkshändige Frau", kurz vor einem Krankenhausaufenthalt des Autors 1976 fertiggestellt, macht Pichler als Schwelle in Handkes Beziehung zu Goethe aus (nicht als "Kehre" - Pichler verwendet bewusst Handkes Topos der Schwelle), der von der Form der Negation nun der absolut positiv besetzte Schreib-Ahne werden sollte, dessen poetologische Positionen Handke als Ausgangspunkt dienen, um darüber hinauszugelangen, und auf den in zahlreichen Werken auf unterschiedliche Weise angespielt wird. Handke nahm nun als erste Referenzgröße…nicht eben bescheiden…bei Goethe Maß. (Inzwischen wurde diese Referenz von Handke höchstens nur noch als Andeutung bemüht.)
Ausführlich zeigt Pichler anhand von Wim Wenders Film "Falsche Bewegung", zu der Handke das Drehbuch schrieb und der bereits 1975, also ein Jahr vor "Die linkshändige Frau", in die Kinos kam, die Parallelen, aber auch die Differenzen zu Goethes Wilhelm Meister-Romanen (besonders den "Lehrjahren") auf. Ganz nebenbei gelingt es Pichler tatsächlich, beim Leser ein Verlangen auf ein Wiedersehen dieses Films zu erzeugen.
Die Unterschiede zu Goethe, die von Handke durchaus gesetzt sind und nicht auf Unkenntnis resultieren, liegen auf zwei Ebenen. Zum einen verweist Pichler auf das Problem des referenziellen Schreibens bei Handke. Wo Goethe sich noch unmittelbar beispielsweise geologischen Phänomenen widmen konnte, ist Handkes Geologenerzählung "Langsame Heimkehr" immer auch Referenztext. Zum anderen verweigert sich Handke dem klassischen Bildungs- bzw. Entwicklungsroman (was Pichler beispielsweise sehr schön an den Zufälligkeiten, welche den Protagonisten im Laufe der Erzählung "zustoßen", zeigt. Bei Goethe werden sie als Fügungen nachträglich mit Sinn unterlegt und Wilhelms Weg als zweckbestimmt gezeigt, während sie bei Handke den Protagonisten die Ereignisse eher treiben; es sich eher um Taumelnde handelt, deren Wege tatsächlich zufällig sind.

Handke bleibt, so Pichler, Romantiker; die Rolle des Klassikers ist (und bleibt) durch Goethe belegt. Handkes Text thematisiert nicht den Eintritt eines jungen Menschen ins gesellschaftliche Leben, sondern seinen Austritt aus ihm. Wobei nicht ausgemacht ist, ob dies wünschenswert ist oder eher erzwungen, west doch in vielen Erzählungen Handkes immer wieder neben der Tendenz zur Distanzierung von anderen Menschen gleichzeitig auch der unterschwellige (!) Wunsch nach Gemeinschaft mit (freilich nicht in einer primitiv-volkstümelnden Weise). Könnte es nicht sein, dass der Austritt aus der Gesellschaft, den Handkes Wilhelm vollzieht, Ergebnis einer gescheiterten Gemeinschaftserfahrung ist und das dies die "falsche Bewegung" ist? Pichler verfolgt diese Spur in seinem sonst sehr schönen Essay nicht.

"Zusammenhang, Verwandlung und Frage" - UND, ALS ODER
Leopold Federmairs ausgezeichneter Aufsatz beschäftigt sich mit der Bedeutung der Konjunktionen UND, ALS und ODER bei Peter Handke. Die drei Partikel werden mindestens seit "Langsame Heimkehr" nicht nur besonders häufig gebraucht, sondern gestisch hervorgehoben, was insbesondere für das UND gilt. Sie fungieren, wie Federmair nachvollziehbar ausführt, als narrative Einheiten, die das Erzählen, welches sonst droht, sich in einer "unklassischen" Fragmentarik zu erschöpfen, zusammenhält. Die drei Wörtchen lassen sich an ästhetische Konzepte Handkes anschließen, die mit den Schlagworten Zusammenhang, Verwandlung und Frage benannt werden können.

Neben der eher schlichten Funktion als Rhythmusgeber fungiert das emphatische UND (speziell in den Journalen, die Federmair Aufzeichnungsbücher nennt) einerseits als ein Ansatz zum Erzählen, meist im Vertrauen darauf, dass die Fragmentarik das wahrnehmende Subjekt nicht zerstören wird. Andererseits kann es die Ähnlichkeit zweier Elemente zeigen, aber ebenso das Nebeneinander von Unterschiedlichem und das damit Besondere festhalten. Es werden treffende Beispiele aufgeführt, wie das UND ein Miteinander  von Phänomenen, Ereignissen erzeugt, zum Beispiel der Journal-Eintrag: »Der Klang der Maultrommel, und die zitternd sich öffnenden Flügel des Schmetterlings auf einem sonnigen Waldweg.« (Handke weist durch die Parenthese »('und')« noch auf dieses Verfahren hin; typisch für diese Form der Eintragungen). Durch das UND wird aus den beiden, miteinander nicht (kausal) in Verbindung stehenden Ereignissen sozusagen ein drittes herbeiphantasiert und ein damit ein neuer Zusammenhang konstituiert. Die festgehaltene Ähnlichkeit wirkt dann im Dienste einer grösseren Einheits- und Harmonie-Vision.

In anderen Fällen dient es in als "Hervorbringer" von Ähnlichkeiten…, die der Autor-Betrachter implizit dem Wahrgenommenen zuschreibt, damit durchaus einen Abbildungsanspruch erhebend. Federmair bemerkt, dass Handke das derart Wahrgenommene oft auch gleich immer in Frage stellt und durch andere Konzepte, etwas das des Fantasierens, ergänzt. Dies geschieht nicht nur in den Journalen, sondern spätestens seit dem Drama "Das Spiel vom Fragen" auch zunehmend in den Erzählungen und Theaterstücken selber. Hier kommt dann auch das ODER zur Anwendung, welches Zweifel oder mindestens Zögern ausdrücken soll. Diese Form der im laufenden Text vorgenommen (Selbst-)Befragungen positioniert sich den immer schon Wissenden und mit dem Wissen protzenden Schreibern bewusst antipodisch entgegen und ist für den durch allerlei Behauptungsprosa konditionierten Leser zunächst durchaus gewöhnungsbedürftig.

Federmair konstatiert sogar die Fragesätze in Handkes Prosa als eine Triebkraft seines Erzählens, das nicht am Leitfaden einer Geschichte voranschreitet, sondern an dem der Zweifel und des Zögerns vor verschiedenen Möglichkeiten. Es sei ein zunehmend unsicheres Erzählen, welches Handke in seinem Spätwerk vorführe (wobei er dies nicht abwertend versteht). Ergänzend sei vielleicht erwähnt, dass es sich dabei nicht (mehr) primär um einen sprachkritischen Gestus handelt, sondern eher um eine Selbstvergewisserung, die mit der Befragung der eigenen Wahrnehmung bzw. Wieder-Holung einhergeht.
Und das ALS ist bei Handke ein Signum der Verwandlung, die der geistigen Tätigkeit des Fantasierens entspringt – der "Einbildungskraft", wie die Ästhetik des 18. Jahrhundert es nannte. Es findet in Handkes "Märchen"-Prosa mehr Anwendung als in den Journalen, aber die Erläuterungen Federmairs zeigen, dass  Zusammenhang, Verwandlung und Frage nicht einfach den einzelnen Konjunktionen zuzuordnen, sondern das die Übergänge und Berührungen fließend sind (somit durchaus "im Sinne" der Handkeschen Prosa).
Federmairs Aufsatz endet mit dem berühmten Novalis-Zitat, die die Erzählpoetik Handkes auf bestechende Weise zu charakterisieren scheint: "Indem ich dem gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Ansehn, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein gebe, so romantisiere ich es."

Ja, Peter Handke ist ein Romantiker. Immer noch.

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Die Aufsätze in diesem Band sind bis auf wenige Ausnahmen aufschlußreich und anregend und weitgehend von wichtigtuerischem Germanistenton befreit. Die Verbindung mit den zahlreichen Faksimiles aus Handkes "Vorlass" ist sehr gut gelungen und stellt eine Bereicherung dar. Die Sichtungen der Materialien steht offensichtlich erst am Anfang. Insofern stellt dieses Buch eine Art Zwischenstation dar. Dennoch sollte es bei keinem ambitionierten Handke-Leser fehlen. Lothar Struck

Die kursiv gesetzten Passagen sind Zitate aus dem besprochenen Buch; der jeweilige Aufsatz, aus dem das Zitat stammt, ist erwähnt bzw. ergibt sich aus dem Geschriebenen. Die in französischen Anführungszeichen (» bzw. «) gesetzten Passagen sind Zitate von Peter Handke; sowohl fiktionale Texte als auch öffentliche Äusserungen oder aus Interviews.
 

Profile 16
Peter Handke
Freiheit des Schreibens - Ordnung der Schrift
herausgegeben von Klaus Kastberger

Zsolnay
Flexibler Einband, 352 Seiten
21.50 € (D) / 37.50 sFR (CH) / 22.10 € (A)
ISBN 978-3-552-05476-9



 


Glanz & Elend
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