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Peter Handke ist ein Romantiker. Immer noch.«
Lothar Struck über »Peter Handke Freiheit des Schreibens – Ordnung der
Schrift« das als Profile Band 16 herausgegeben von Klaus Kastberger erschienen
ist
Plötzlich, ganz
unverhofft: Auf Seite 5 eine orange-braune Schulheftseite:
"Deutsch-Schularbeiten" steht da und darunter "Handke, Peter" und "9c 1956/57".
Es ist ein Faksimile eines Aufsatzes vom 19.12.1956 mit dem Titel "Meine
Füllfeder". Auf der letzten Seite in roter Schrift "sehr gut".
Dann ein Gespräch (kein
Interview!) mit Peter Handke, Elisabeth Schwagerle und Klaus Kastberger. Es geht
darum, dass Handke seit 1993 seine Manuskripte nicht mehr mit Maschine schreibt,
sondern mit dem Bleistift und meistens draußen. Es geht darum, wie "methodisch"
Handke schreibt (hierzu gibt es durchaus Neues). Es geht um das Schreiben als
Akt an sich und – Handkes großes Thema – seine Lebens- und Schreibkrise 1979,
die sich in "Langsame Heimkehr" so dezent erahnen lässt und auf die er immer
wieder zu sprechen kommt. Im weiteren Verlauf des Buches verdichten sich die
Anzeichen, dass es damals tatsächlich eine radikale Zäsur in seinem Werk
gab (Georg Pichler), vielleicht eine Wende zur Klassik (Leopold Federmair;
im Dissens mit Pichler, der Handke für einen Romantiker hält). Dabei sieht
Handke selber sein Werk als Kontinuum. Und es könnte sein, dass beide recht
haben.
Der 16. Band der "Profile" versammelt fünfzehn Aufsätze von zum Teil illustren
Handke-Kundigen, die sich unterschiedlichen Aspekten dieses Werkes widmen. Auf
fast 90 Seiten sind Faksimiles ("Werkmaterial") von Manuskripten,
Korrekturfahnen und Notizen aller Art (und auch aus den Notizbüchern) aus dem
sogenannten "Vorlass" abgedruckt. Handke hatte im Jahr 2007 seine Materialien
(mit Ausnahme der Notizbücher, die sich im Deutschen Literaturarchiv in Marbach
befinden) an das österreichische Landesarchiv verkauft. In einigen Beiträgen
sind tatsächlich bereits Erkenntnisse aus Sichtungen dieser Notizen und
Manuskripte eingeflossen, die der Leser in den Faksimiles dann teilweise sogar
nachvollziehen kann.
Übersetzungen als
Weiterdichtungen
Zu Beginn beschäftigen sich Fabjan Hafner und Elisabeth Schwagerle mit
Handkes Übersetzungen. Hafner, der mit seinem fulminanten Buch
"Peter Handke – Unterwegs ins Neunte Land"
klug und akribisch die Bedeutung der Kärntner Herkunft des Dichters und die
Spiegelung dieser Wurzeln im Werk untersuchte und sich damit als ein profunder
und gleichzeitig feinfühliger Kenner gezeigt hat, referiert allgemeiner über die
29 bisher vorgenommenen Übersetzungen Handkes. Erstaunlich, dass der Dichter
ausgerechnet mit den beiden ihm nicht so vertrauten Sprachen (dem Slowenischen
und Englischen) begann. Hafner stellt heraus welche Bedeutung die Übersetzungen
von Florjan Lipuš ("Der Zögling Tjaž"; unter Mitarbeit von Helga Mračnikar) und
Gustav Januš (insgesamt vier Bücher hat er von ihm übersetzt) für die
slowenischsprachige Literatur besitzen (und auch für Handke selber, der damit
die Sprache neu erlernte). Zudem ist diese Übersetzerarbeit auch als ein Zeichen
zu verstehen, denn beide Autoren sind keine originär slowenischen Autoren,
sondern Kärntner Slowenen (wie Handkes Mutter).
Behutsam entwickelt Hafner eine Art "Übersetzungsgeschichte" von Walker Percys
"Der Kinogeher" bis zu den zahlreichen Übersetzungen aus dem französischen,
einer Sprache, die Handke perfekt beherrscht (er wohnt seit 1990 in einem
Pariser Vorort).
Hier zeigte sich Handke als Entdecker (beispielsweise
George-Arthur Goldschmidt, Bruno Bayen) bzw. Wieder-Entdecker (Emmanuel Bove)
von Schriftstellern, wie er dies so oft praktizierte (auch manchen
deutschsprachigen Schriftsteller empfahl er nachdrücklich; einige wurden dann
tatsächlich von der Kritik angenommen wie Hermann Lenz oder Walter Kappacher –
andere blieben eher "Geheimtips" wie Peter Stephan Jungk, Erich Wolfgang Skwara
oder Wolfgang Welt). Mit der Übersetzung von Sophokles' "Ödipus auf Kolonos" aus
dem Altgriechischen beendete Handke 2003 offensichtlich seine Übertragungen,
nimmt man die Übersetzungen der eigenen Texte vom französischen ins deutsche aus
("Warum
eine Küche?" [2003] und
"Bis daß der Tag euch scheidet" [2007/2008]
aus. Hafner mutmaßt, dass die einstige Kraftquelle des Übersetzens, die
Handke früher als Motor angeführt hatte, versiegt sei.
Elisabeth Schwagerle
beschäftigt sich ausführlicher mit den Übersetzungen Handkes von René Char,
stellt dafür kurz dessen Leben und Werk vor (er war Widerstandskämpfer in der
Résistance und hatte während dieser Zeit seine schriftstellerischen Aktivitäten
eingestellt) und erläutert den Status Chars in der französischen Literatur. Sie
referiert über die zunächst fast widerwillige Kontaktaufnahme Handkes zu Char
(der Übersetzungen eigentlich ohne Hilfe des Autors bewältigen wollte),
vergleicht dessen Übersetzungen mit denen von Paul Celan und stellt bei Handke
Ungenauigkeiten und Fehler fest, obwohl sie gleichzeitig einräumt, dass
Char sehr schwer übersetzbar sei.
Hafner und Schwagerle konstatieren bei Handkes Transkriptionen durchaus
Eigenmächtigkeiten des Dichters (die aufgrund seiner Prominenz akzeptiert worden
wären), der die Übertragung gelegentlich als eine Art Weiterdichtung
versteht. Während Hafner dies jedoch als "bewusst verfremdende Setzungen"
goutiert und deutlich macht, dass es sich nicht um Unkenntnis oder Willkür,
sondern um eine verdeutlichend-verfremdende Übersetzungsstrategie
handelt, steht Schwagerle diesem Verfahren deutlich kritischer gegenüber, auch
wenn sie französischen Kritikern widerspricht, die Handke vorwerfen, er habe
Char enthistorisieren (und damit entpolitisieren) wollen.
Poesie
und Tatsachen - Miteinander oder Gegeneinander?
Etwas gewagt wirkt Schwagerles Versuch, Chars politischen
Impetus mit Handkes Jugoslawien-Büchern zu verknüpfen und ein Miteinander von
Poesie und Tatsachen als dessen Ideal auszugeben. Zumal sie bei Handke seit
2008 eine Abkehr von Char ausgemacht zu haben glaubt. Auch Leopold Federmair
versucht diese "Versöhnung" von Poesie und Tatsachenbericht anhand von Handkes
Rede zur Verleihung des Ehrendoktorats der Universität Klagenfurt in 2002 ("Wut
und Geheimnis") vorsichtig als eine Wende herauszuarbeiten. Begonnen
habe dies, so Federmair, 1993 mit "Mein Jahr in der Niemandsbucht", als sich der
Ich-Erzähler Gregor Keuschnig (den er in Bezug auf dieses Buch ein wenig
merkwürdig als Keuschnig II in Abgrenzung zur gleichnamigen Figur aus
"Die Stunde der wahren Empfindung" bezeichnet) immer mehr als Chronist sehe.
Federmair zitiert aus der fast zehn Jahre später gehaltenen Rede die Passage, in
der Handke sagt, im Alter gelte seine Sympathie den »Tatsachenberichten« und
der »kruden Historie«, während er früher die »Poesie« vorgezogen habe.
Liest man die Rede im
Zusammenhang, so ergibt sich ein leicht anderes Bild. Handke empfiehlt zunächst
die Lektüre von drei genuin literarischen Büchern von Kärntner Slowenen, die
sich mit dem politischen Widerstand gegen den Nazismus aus unterschiedlichen
Perspektiven beschäftigen. Bei dieser Lektüre der Bücher ergibt sich für Handke
bei aller literarischen Fiktionalität eine Art Zeugnis-Charakter und er
entdeckt: »Zuerst, als du jung warst, hast du die Poesie den Tatsachenberichten,
der kruden Historie vorgezogen. Und jetzt, als älterer Mensch, bist du versucht,
wieder die kruden Tatsachengeschichten, wie die der Kärntner Partisanen,
auszuspielen gegen das dichterische Sich-Ausdrücken.« Diese Stelle nimmt
Federmair zum Anlass für seine These. Handke will jedoch Poesie und
Tatsachengeschichte nur nicht mehr gegeneinander ausspielen und bilanziert
demzufolge: »Das ist genauso falsch. Beides gehört zusammen. Beides sollte und
muss zusammen gelesen werden.«
Also doch eine Kehre? Nein. Denn wenn Handke in seiner Büchnerpreisrede 1973 die
»begriffsauflösende« und »zukunftsmächtige Kraft« des
»poetischen Denkens« geradezu beschwört und 23 Jahre später im Dialog mit
sich selber in "Eine winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und
Drina oder Gerechtigkeit für Serbien" vom Poetischen als das »gerade
Gegenteil« vom »Nebulösen« spricht und dies mit dem »Anstoß zum
gemeinsamen Erinnern, als der einzigen Versöhnungsmöglichkeit für die zweite,
gemeinsame Kindheit« bestimmt, so sind damit gerade nicht die üblichen
Bedeutungen von "Tatsachen" oder "Fakten" gemeint, wie sie im Journalismus oder
der Geschichtsschreibung verstanden werden.
Journalismus-Utopie
Dies zeigt Hans Höller in
einem sehr schönen Essay anhand der
Erzählung "Die Kuckucke von Velika Hoča".
Parallel zum in dieser "Nachschrift" virulenten Humor, der sich zum Beispiel
darin zeigt, dass ausgerechnet der Autor des Theaterstückes "Das Spiel vom
Fragen" gleich am Anfang das Interview-Scheitern eingesteht (und am Ende es dann
doch zu einem solchen "Interview", freilich einem anderen, kommt), entwirft
Höller Handkes "Journalismus-Utopie". Dabei wird deutlich, dass der eher
ruhigere Ton in diesem Buch keinesfalls eine Annäherung auf die in den anderen
Büchern so gescholtenen Journalisten darstellt. Nach wie vor hat Handke (s)eine
eigene Vorstellung von Journalismus und Tatsachenberichten, die Höller aus der
Tradition unter anderem Heinrich Heines ableitet.
Guter Journalismus ist für
Handke, so Höller, genaue[s], aufmerksame[s] Erzählen der Alltäglichkeit.
Durch das Aufgeschriebene, die Nachschrift, erhält das Subjektive und
Vergängliche eines Augenblicks Dauer und bekommt dadurch eine Zukunft. Eng
korrespondiere dies mit Handkes Schreibideal, die Aufmerksamkeit für die
konkrete, alltägliche Lebenswelt des Hier und Heute, die Beteiligung des
wahrnehmenden Ich an bzw. in der Welt.
In diesem Moment (und erst dann!) bringt Handke, so die These, das Poetische und
das Politische zusammen. Das ist mehr als das Herunterleiern von
Allgemeinplätzen. Es ist mehr als das bloße Aufzählen von (oft genug ungeprüft
wiedergegebenen) "Fakten", die sogleich derart interpretiert werden bis sie die
eigene Gesinnung, das längst fertige (Vor-)Urteil, bestätigen. Was zählt ist die
»Augenzeugenschaft« und das, was man daraus macht. Dann "zeigen" sich die
Dinge im Wittgenstein'schen Sinn.
Bernhard Fetz nimmt in seinem Beitrag über die balkanische "Geographie der
Träume" in Bezug auf Peter Handkes
Erzählung "Die morawische Nacht"
diese Programmatik wieder zurück. Er sieht Handke in der Nachfolge Doderers als
jemand, der Historie in Erzählung…versinnlichen möchte; freilich
unideologisch. Zwar konstatiert Fetz, dass Handke andere Formen der
Wirklichkeitsanschauung praktiziere (er formuliert dies als eine speziell
österreichische Sichtweise und führt zahlreiche Kronzeugen hierfür an). Seine
These von der Revolutionierung hergebrachter Erfahrungs- und Subjektbegriffe
durch literarisch-essayistisch-journalistische Mischformen im allgemeinen
und in der "Morawischen Nacht" im besonderen, dürfte jedoch zu weit gehen, auch
wenn er dies aus der Erzählung mit einem Zitat glaubt abzuleiten zu können.
Literaturpolitik?
Und auch die Literaturpolitik, die er Handkes Jugoslawien-Büchern,
die er Essays nennt, erscheint zu beliebig: Sie seien literarisch und
politisch, an den Bruchlinien zwischen Journalistik und Literatur (er
nimmt hier abermals die "Morawische Nacht" ein). Die literarische
Uneindeutigkeit im Sinne Handkes ist ein politischer Standpunkt stellt Fetz
fest, was letztlich auf den banalen Schluss hinausläuft, dass irgendwie alles
politisch sei.
Der Autor macht aus Peter
Handke (bzw. seinen Protagonisten) einen Rückkehrer (Heimkehrer wäre das
treffendere Attribut gewesen) in der Tradition Hugo von Hoffmannsthals ("Briefe
des Zurückgekehrten"), der am Ende sein Märchenland (die
multikulturelle Ökumene "Jugoslawien" - Alexander Honold), was es so nie
gegeben hat, vermisst und berücksichtigt dabei leider Fabjan Hafners
Nachforschungen nicht. Gegen Ende räsoniert Fetz ein wenig gönnerhaft, dass
gerade die verstockte, hartnäckige, scheinbar wider jede politische Vernunft
sich stellende 'andere' Wahrnehmung Handkes "Jugoslawien"-Bücher so
aufregend mache. Und auch die durchaus im Kern zutreffende Bemerkung, in
der "Morawischen Nacht" werde die poetische Balkanisierung
als…gesamteuropäische Utopie betrieben ist bei genauer Kenntnis des Werkes
Handkes spätestens seit "Über die Dörfer" ein immer wiederkehrender Topos, wie
beispielsweise Leopold Federmair herausstellt, der in Handkes Prosa eine
Einheits- und Harmonie-Vision erkennt, die sich ein anderes, ein
friedfertiges, sanftes Europa jenseits institutioneller Zuordnungen wünscht.
Katharina Pektor untersucht die Entstehung der Erzählung "Der Chinese des
Schmerzes" (1983) und findet hierzu in den überlassenen Notizen, Manuskripten
und Korrekturfahnen etliche Details, die im umfangreichen Bildteil des Buches
begleitend nachzuschlagen sind. Dabei ergeben sich durchaus ergänzende
Erkenntnisse, die gelegentlich auch neue Interpretationsräume öffnen, die nicht
nur von philologischem bzw. literaturwissenschaftlichem Interesse sind.
Erzählen ist kein Nacherzählen
In Ihrem Aufsatz
entwickelt Pektor am Erzählgestus des "Chinesen des Schmerzes" fast en passant
eine Art poetologisches "Konzept" der Prosa von Peter Handke:
Aktualität und
Realismus manifestieren sich nicht in der "Geschichte" oder Handlung, sondern in
der Sprache und im Erzählen. Das heißt: Erkenntnis der Wirklichkeit kommt nicht
vom Erfassen der Dinge (der Natur, der Außenwelt) selbst, sondern im
Gewahrwerden der jeweils eigenen (subjektiven) Erfahrung der Dinge im objektiven
Medium der Sprache. Dem Dingen beim Erzählen gerecht zu werden, bedeutet in der
Folge auch nicht, sie beschreibend "nachzuahmen" […] oder "nachzuerzählen" […],
sondern die eigene (innere) unwillkürliche und vorerst formlose Wahrnehmung und
Empfindung der Dinge sprachlich (formal) möglichst genau zu rekonstruieren und
sie dabei zugleich zu abstrahieren, dass eine (trotzdem immer konkret bleibende)
Grunderfahrung darin deutlich wird.
Der Gegenstand, die
Beobachtung wird zum Auslöser eines Reflexionsprozesses und dabei im Erzählen
verfremdet, umgeformt, ja verbogen. Erzählung ist nicht bloß "Abbild" des
Geschehenen, sondern Sprachwerdung des Empfindens, die jedoch ständig befragt
werden kann und sogar muss (Erzählung ist demnach nie "vollkommen", es bleibt
Prozess; die Suche nach dem "richtigen Wort", dem richtigen Begreifen). Georg
Pichler zitiert Rolf Günter Renner (1985), der die Erinnerung "als eine Form
der poetischen Phantasie, welche die Außenbilder und die Innenbilder aneinander
vermittelt" bezeichnete. Pichler weiter: Das Schreiben muss aus
der Erinnerung vor sich gehen, aus der im doppelten Sinn zu verstehenden
geistigen Wiederholung der Welt, wobei das Zufällige der Welt nur dann
Zusammenhang und innere Logik erhält, wenn es durch ebendiesen Prozess der
Erinnerung gestaltet wird. Diese Erinnerung ist exakt das Gegenteil der
Nur-Rekonstruktion von faktentreuer Authentizität – sie ist Literatur.
Als Kontrast zu Pektors literaturwissenschaftlichem Ansatz kann man Thomas
Deichmanns eher journalistischen Aufsatz über die zahlreichen Reisen mit Peter
Handke (Reisen mit ihm sei erlebte Literatur) in das ehemalige
Jugoslawien seit 1996 lesen, in dem er unter anderem die Verarbeitung realer
Personen und Erlebnisse in den Erzählungen und Notaten Handkes sucht, findet und
(manchmal mit einem gewissen Gestus) "enthüllt" (etwa die Person des
"Waldläufers" in Handkes "Fahrt im Einbaum" – es ist der wegen Beihilfe zum Mord
verurteilte Novislav Djajić; beiden Reisenden aus mehreren Begegnungen bekannt).
Deichmann, der nicht unbedingt in jedem Punkt Handkes Stellungnahmen zum
Jugoslawien-Konflikt teilt, ist stark beeindruckt von dessen Sachkenntnis,
welches er aus dem detaillierten Studium mehrerer, internationaler Zeitungen und
eben den Anschauungen auf seinen Reisen gewinnt.
Neben dem arg "realitätsbezogenen" Zuordnen und Beobachten zitiert Deichmann am
Schluss seines Aufsatzes aus dem Roman "Der Bildverlust" die Stelle die fast
exemplarisch für die Handke-Rezeption insbesondere der (sogenannten)
Jugoslawien-Bücher ist und Pektors Ansatz fortzuschreiben scheint. Die Bankfrau
antwortet dem Autor, warum sie ihn »als Erzähler ihrer Reiseabenteuer«
ausgewählt habe: »Auch wenn Sie vielleicht ab und zu das eine oder das andere
in Ihren Büchern erfunden haben, und vielleicht sogar alles (das zu wissen
interessiert mich keinen Deut): Insgesamt haben Ihre Geschichten immer gestimmt
und bleiben insbesondere bis auf weiteres stimmig, unendlich stimmiger oder
realer als gleichwelche Tatsachenberichte, und waren und sind ebenso
unvergleichbar realer als jedes angeblich handgreifliche und reichbare
Realitätsprozedere.«
Die Notizbücher
Erste Resultate aus
Sichtungen und (vorläufige) Katalogisierungen der insgesamt 66 Notizbücher Peter
Handkes lassen sich im Text von Ulrich von Bülow nachlesen. Die Notizbücher
umfassen auf mehr als zehntausend beschriebenen Seiten (maximales Format ist
DIN-A6) den Zeitraum von November 1975 bis Juli 1990 (sie sind nicht lückenlos;
Handke hat einige Bücher verloren und/oder verschenkt).
Von Bülow erläutert, dass es sich keinesfalls um private Tagebücher im
klassischen Sinne handelt, sondern (hier zitiert er Handke selber) um
»Reportagen« von »Sprachreflexen«, die Sprachspiel-Charakter
besitzen und von »jeder Privatheit befreit und allgemein« sind. Die
genaue Lektüre zeigt manchmal die Arbeitsschritte an den einzelnen Büchern an
und dokumentiert deren Werkstattcharakter.
Etliche Eintragungen sind
zwar datiert (in den Veröffentlichungen wurden ein Datum nur sehr sporadisch an
das Ende gesetzt), aber losgelöst vom realen Tagesereignis. Aus den
Notizbüchern erschienen fünf Bücher: "Das Gewicht der Welt" (die Zeiträume von
November 1975-März 1977 umfassend; 1977 erschienen), "Die Geschichte des
Bleistifts" (1976-1980; 1982), "Phantasien der Wiederholung" (1981-1982; 1983),
"Am Felsfenster morgens" (1982-1987; 1998) und
Gestern unterwegs (November
1987-Juli 1990; 2005). Interessant der Hinweis, dass der Text in den Bänden
"Phantasien der Wiederholung" und "Am Felsfenster morgens" am stärken
komprimiert wurde, und zwar etwa im Verhältnis 4:1. Jetzt wird langsam
deutlich werden, welche Aufzeichnungen Handke nicht veröffentlichte. (Leopold
Federmair weist übrigens in seinem Beitrag darauf hin, dass in den
veröffentlichten Journal-Texten am Ende der einzelnen Einträge immer der Punkt
fehlt, so dass ein leiser Eindruck von Abgerissenheit und von Ungesagtem
entsteht.)
Von Bülow greift auch scheinbare Nebeneffekte dieser Journale auf: Es gibt
Zeichnungen (manche überwuchern sie dann die Texte, die dann sehr schwer lesbar
sind); besonders bewegend eine (in den Materialien gezeigte) Zeichnung von
Nicolas Born auf dem Sterbebett. Manchmal sind auch Gegenstände eingeklebt (zum
Beispiel Vogelfedern oder Kassenbons). Und mitunter gibt es sogar Eintragungen
anderer Personen und auch Handkes Tochter Amina (1969 geboren) verewigt sich mit
Schreibübungen und Zeichnungen.
Interessante
Vermutungen weiß der Autor Handkes Affinität zum Bleistift anzustellen (viel
substantieller als Michael Hansel in einem eher mittelmäßigen Aufsatz vor von
Bülows Text), der als eine Art Metapher der Zeit gesehen werden könnte
(zum Beispiel durch dessen begrenzte Lebensdauer), obwohl in den Journalen auch
Filz- und Kugelschreiber verwendet wurden. Der Bleistift spielt jedoch in
zweierlei Hinsicht für Handke die entscheidendere Rolle: Zunächst zwingt er zur
Langsamkeit (ein essentielles Anliegen Handkes) und dann ist er für Zeichnungen
prädestiniert. So wird der Bleistift das Medium, um körperliche
Wirklichkeiten mittels Zeichnung zu "lesen" und mit Anschauungen
verbunden werden.
Es gibt nicht wenige Leser, die Handkes Notate für die Perlen in dessen Werk
halten. Von Bülows Fazit, die Notizbücher seien Hilfsmittel einer auf das
Schreiben ausgerichteten, experimentierenden Lebensführung ist unbedingt
zuzustimmen. Sie dienten, so der Autor weiter, der Reflexion wie der
ästhetischen Selbsterziehung, als Laboratorien für Lesarten und Formulierungen,
als Ideen- und Bildspeicher und als Mittel, um jenen poetischen Wachzustand zu
erreichen, der für den Autor einem Zustand nahekommt, den er Glück nennt.
Vor diesem Hintergrund scheint es schwer vorstellbar, dass Handke das Notieren
sozusagen eingestellt haben und nach 1990 keine Notizbücher mehr existieren
sollten.
Raimunds "Rappelkopf" und Handkes Wilder Mann
Bernhard Doppler sucht und
findet in seinem Aufsatz Parallelen zwischen Ferdinand Raimunds "Rappelkopf" aus
"Der Alpenkönig und der Menschenfeind" und den Protagonisten (aber auch in
Handkes Person selber) insbesondere (aber nicht ausschließlich) in Handkes
Theaterstücken, wobei er ein Kontinuum von der "Publikumsbeschimpfung" (1967)
und dem "Wilden Mann" aus dem "Untertagblues"
(2003 herausarbeitet. Der Kritik wirft er vor, in den Wutausbrüchen in Peter
Handkes Werk die Abgrenzung zur Melancholie zu wenig herauszuarbeiten.
Doppler gibt auch einen
kurzen Überblick über das (jüngere) dramatische Werk Handkes (Stücke wie "Das
Spiel vom Fragen" oder "Zurüstungen für die Unsterblichkeit" nennt er
Zumutungen für jeden Theaterbetrieb) und der durchaus reservierten
Kritikermeinungen hierzu. Neben Nestroy und Tschechow sind die zahlreiche Bezüge
zu Ferdinand Raimund auffällig, wobei Doppler als Differenz zu Raimund die
Ironisierungen in den Figuren (und damit auch Handke selber) sieht, die immer
wieder einfließen (beispielsweise im "Spielverderber" im "Spiel vom Fragen", der
seinem Antipoden, dem "Mauerschauer" gelegentlich geradezu Vorlagen zur
Selbstironisierung zu geben scheint). So beuge Handke drohenden
Sakralisierungen vor (die ihm dennoch von der Kritik häufig unterstellt
werden), was vielleicht durch die bisweilen unernsten Inszenierungen (oft wurden
die Uraufführungen von Claus Peymann inszeniert) befördert wurde; letzteres
berücksichtigt Doppler nicht. (Und auch das Auftauchen von Raimund in der "Morawischen
Nacht" kommt nicht bei ihm vor.)
Dennoch ist dies ein sehr
interessanter Aufsatz, der zu dem verblüffenden Schluß kommt: Die Wut und der
Verfolgungswahn bei Raimunds Menschenhasser sitzen tiefer – gerade in allen
Anstrengungen der Harmlosigkeit – als bei Handkes Wilden Männern. Möglicherweise
sind die Rollen sogar umzukehren. Der Wilde Mann ist gar kein Spielverderber,
sondern bleibt der Mauerschauer…
Raimund Fellinger
berichtet über Entstehung von "Mein Jahr in der Niemandsbucht" (auch hierzu gibt
es im Fototeil Material) und "enthüllt", dass der Presse-Vorschautext des
Verlages zu diesem Buch fast zu einem Zerwürfnis mit Handke geführt hätte (er
war Handke zu bombastisch ausgefallen). Klaus Kastberger referiert über "Peter
Handke und das Salz" anhand der Erzählung "Kali – Eine Vorwintergeschichte".
Kastberger dokumentiert die Prospekte der Firma "Kali und Salz", mit denen sich
Handke informiert hat und zeigt damit, dass der Titel der Erzählung mit der
indischen Göttin "Kali" nichts zu tun hat. Karl Wagner versucht die heftige
Ablehnung Handkes zu Robert Musils "Mann ohne Eigenschaften" zu erklären,
entdeckt allerdings überraschenderweise durchaus eine vergleichbare Haltung
[in] der Kritik an den falschen Oppositionen von Verstand und Gefühl und an
der zum Denksystem und Aufklärungsfimmel pervertierten aufklärerischen
Vernunft um dann doch am Ende die unüberbrückbare Differenz festzustellen:
Der entscheidende Unterschied…besteht darin, dass Handke, hochgradig
selbstreflexiv, auf das Erzählen setzt während Musil eher der
Wissenschaftlichkeit verpflichtet scheint.
Etwas kryptisch, weil in
reichlich Germanisten-Jargon verpackt bleibt (leider) Alexander Hunolds Aufsatz
"Entzifferung der Ökumene", wobei die ursprüngliche Bedeutung des
Ökumene-Begriffs als gemeinsam gestaltete[r] Lebensraum und der
Gegensatz, die Diaspora als Vorgänge der räumlichen Zerstreuung zunächst
vielversprechend erscheint. Anhand der Übersetzung von Sophokles' "Ödipus auf
Kolonos" und Handkes Erzählungen "Die Lehre der St. Victoire" und "Die
Wiederholung" versucht Hunold sein Schreiben als eine genuin ortsverbundene
Entzifferung des Raums der Ökumene (siehe oben!) herauszustellen. So stehen
die in den Erzählungen genannten Orte immer pars pro toto, d. h. es
handelt sich nicht nur um die genannten Orte selber, sondern um sozusagen
repräsentative Orte; Orte der Literatur.
Goethe - Erst Negation, dann Schreib-Ahne
Auf zwei ausgezeichnete
Aufsätze, die neben von Bülows Bemerkungen über die Notizbücher zu Höhepunkten
in diesem Buch zählen, sei abschließend hingewiesen. Zum einen handelt es sich
um Georg Pichlers Arbeit über die Positionierung Handkes zu Goethe. Zunächst
stand Handke Goethe und seiner Ästhetik durchaus skeptisch gegenüber und
gerierte sich als dekonstruierender Sprachskeptiker, was durchaus die
Goethe-Rezeption inkludierte. Mitte der 1970er Jahre wandelte sich jedoch Handke
langsam und zunächst kaum merkbar zu einem Sucher nach einem harmonischen
Bezug zwischen Ich und der Welt (wobei dieser Impetus - Pichler erwähnt dies
- nicht ohne Häme bemerkt wurde). Die Erzählung "Die linkshändige Frau", kurz
vor einem Krankenhausaufenthalt des Autors 1976 fertiggestellt, macht Pichler
als Schwelle in Handkes Beziehung zu Goethe aus (nicht als "Kehre" -
Pichler verwendet bewusst Handkes Topos der Schwelle), der von der Form der
Negation nun der absolut positiv besetzte Schreib-Ahne werden sollte,
dessen poetologische Positionen Handke als Ausgangspunkt dienen, um darüber
hinauszugelangen, und auf den in zahlreichen Werken auf unterschiedliche Weise
angespielt wird. Handke nahm nun als erste Referenzgröße…nicht eben
bescheiden…bei Goethe Maß. (Inzwischen wurde diese Referenz von Handke
höchstens nur noch als Andeutung bemüht.)
Ausführlich zeigt Pichler anhand von
Wim Wenders Film "Falsche Bewegung",
zu der Handke das Drehbuch schrieb und der bereits 1975, also ein Jahr vor "Die
linkshändige Frau", in die Kinos kam, die Parallelen, aber auch die Differenzen
zu Goethes Wilhelm Meister-Romanen (besonders den "Lehrjahren") auf. Ganz
nebenbei gelingt es Pichler tatsächlich, beim Leser ein Verlangen auf ein
Wiedersehen dieses Films zu erzeugen.
Die Unterschiede zu
Goethe, die von Handke durchaus gesetzt sind und nicht auf Unkenntnis
resultieren, liegen auf zwei Ebenen. Zum einen verweist Pichler auf das
Problem des referenziellen Schreibens bei Handke. Wo Goethe sich noch
unmittelbar beispielsweise geologischen Phänomenen widmen konnte, ist Handkes
Geologenerzählung "Langsame Heimkehr" immer auch Referenztext. Zum anderen
verweigert sich Handke dem klassischen Bildungs- bzw. Entwicklungsroman (was
Pichler beispielsweise sehr schön an den Zufälligkeiten, welche den
Protagonisten im Laufe der Erzählung "zustoßen", zeigt. Bei Goethe werden sie
als Fügungen nachträglich mit Sinn unterlegt und Wilhelms Weg als
zweckbestimmt gezeigt, während sie bei Handke den Protagonisten die
Ereignisse eher treiben; es sich eher um Taumelnde handelt, deren Wege
tatsächlich zufällig sind.
Handke bleibt, so Pichler,
Romantiker; die Rolle des Klassikers ist (und bleibt) durch Goethe
belegt. Handkes Text thematisiert nicht den Eintritt eines jungen Menschen
ins gesellschaftliche Leben, sondern seinen Austritt aus ihm. Wobei nicht
ausgemacht ist, ob dies wünschenswert ist oder eher erzwungen, west doch in
vielen Erzählungen Handkes immer wieder neben der Tendenz zur Distanzierung von
anderen Menschen gleichzeitig auch der unterschwellige (!) Wunsch nach
Gemeinschaft mit (freilich nicht in einer primitiv-volkstümelnden Weise). Könnte
es nicht sein, dass der Austritt aus der Gesellschaft, den Handkes
Wilhelm vollzieht, Ergebnis einer gescheiterten Gemeinschaftserfahrung ist und
das dies die "falsche Bewegung" ist? Pichler verfolgt diese Spur in seinem sonst
sehr schönen Essay nicht.
"Zusammenhang, Verwandlung und Frage" - UND, ALS ODER
Leopold Federmairs
ausgezeichneter Aufsatz beschäftigt sich mit der Bedeutung der Konjunktionen
UND, ALS und ODER bei Peter Handke. Die drei Partikel werden mindestens
seit "Langsame Heimkehr" nicht nur besonders häufig gebraucht, sondern
gestisch hervorgehoben, was insbesondere für das UND gilt. Sie fungieren,
wie Federmair nachvollziehbar ausführt, als narrative Einheiten, die das
Erzählen, welches sonst droht, sich in einer "unklassischen" Fragmentarik
zu erschöpfen, zusammenhält. Die drei Wörtchen lassen sich an ästhetische
Konzepte Handkes anschließen, die mit den Schlagworten Zusammenhang, Verwandlung
und Frage benannt werden können.
Neben der eher schlichten
Funktion als Rhythmusgeber fungiert das emphatische UND (speziell in den
Journalen, die Federmair Aufzeichnungsbücher nennt) einerseits als ein
Ansatz zum Erzählen, meist im Vertrauen darauf, dass die Fragmentarik das
wahrnehmende Subjekt nicht zerstören wird. Andererseits kann es die
Ähnlichkeit zweier Elemente zeigen, aber ebenso das Nebeneinander von
Unterschiedlichem und das damit Besondere festhalten. Es werden treffende
Beispiele aufgeführt, wie das UND ein Miteinander von Phänomenen,
Ereignissen erzeugt, zum Beispiel der Journal-Eintrag: »Der Klang der
Maultrommel, und die zitternd sich öffnenden Flügel des Schmetterlings auf einem
sonnigen Waldweg.« (Handke weist durch die Parenthese »('und')« noch
auf dieses Verfahren hin; typisch für diese Form der Eintragungen). Durch das
UND wird aus den beiden, miteinander nicht (kausal) in Verbindung stehenden
Ereignissen sozusagen ein drittes herbeiphantasiert und ein damit ein neuer
Zusammenhang konstituiert. Die festgehaltene Ähnlichkeit wirkt dann im
Dienste einer grösseren Einheits- und Harmonie-Vision.
In anderen Fällen dient es
in als "Hervorbringer" von Ähnlichkeiten…, die der Autor-Betrachter implizit
dem Wahrgenommenen zuschreibt, damit durchaus einen Abbildungsanspruch erhebend.
Federmair bemerkt, dass Handke das derart Wahrgenommene oft auch gleich immer
in Frage stellt und durch andere Konzepte, etwas das des Fantasierens, ergänzt.
Dies geschieht nicht nur in den Journalen, sondern spätestens seit dem Drama
"Das Spiel vom Fragen" auch zunehmend in den Erzählungen und Theaterstücken
selber. Hier kommt dann auch das ODER zur Anwendung, welches Zweifel oder
mindestens Zögern ausdrücken soll. Diese Form der im laufenden Text vorgenommen
(Selbst-)Befragungen positioniert sich den immer schon Wissenden und mit dem
Wissen protzenden Schreibern bewusst antipodisch entgegen und ist für den durch
allerlei Behauptungsprosa konditionierten Leser zunächst durchaus
gewöhnungsbedürftig.
Federmair konstatiert
sogar die Fragesätze in Handkes Prosa als eine Triebkraft seines
Erzählens, das nicht am Leitfaden einer Geschichte voranschreitet, sondern an
dem der Zweifel und des Zögerns vor verschiedenen Möglichkeiten. Es sei ein
zunehmend unsicheres Erzählen, welches Handke in seinem Spätwerk vorführe
(wobei er dies nicht abwertend versteht). Ergänzend sei vielleicht erwähnt, dass
es sich dabei nicht (mehr) primär um einen sprachkritischen Gestus handelt,
sondern eher um eine Selbstvergewisserung, die mit der Befragung der eigenen
Wahrnehmung bzw. Wieder-Holung einhergeht.
Und das ALS ist bei Handke ein Signum der Verwandlung, die der geistigen
Tätigkeit des Fantasierens entspringt – der "Einbildungskraft", wie die Ästhetik
des 18. Jahrhundert es nannte. Es findet in Handkes "Märchen"-Prosa mehr
Anwendung als in den Journalen, aber die Erläuterungen Federmairs zeigen, dass
Zusammenhang, Verwandlung und Frage nicht einfach den einzelnen
Konjunktionen zuzuordnen, sondern das die Übergänge und Berührungen fließend
sind (somit durchaus "im Sinne" der Handkeschen Prosa).
Federmairs Aufsatz endet mit dem berühmten Novalis-Zitat, die die
Erzählpoetik Handkes auf bestechende Weise zu charakterisieren scheint:
"Indem ich dem gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnisvolles
Ansehn, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen
Schein gebe, so romantisiere ich es."
Ja, Peter Handke ist ein
Romantiker. Immer noch.
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Die Aufsätze in
diesem Band sind bis auf wenige Ausnahmen aufschlußreich und anregend und
weitgehend von wichtigtuerischem Germanistenton befreit. Die Verbindung mit den
zahlreichen Faksimiles aus Handkes "Vorlass" ist sehr gut gelungen und stellt
eine Bereicherung dar. Die Sichtungen der Materialien steht offensichtlich erst
am Anfang. Insofern stellt dieses Buch eine Art Zwischenstation dar. Dennoch
sollte es bei keinem ambitionierten Handke-Leser fehlen. Lothar Struck
Die kursiv gesetzten Passagen
sind Zitate aus dem besprochenen Buch; der jeweilige Aufsatz, aus dem das Zitat
stammt, ist erwähnt bzw. ergibt sich aus dem Geschriebenen. Die in französischen
Anführungszeichen (» bzw. «) gesetzten Passagen sind Zitate von Peter
Handke; sowohl fiktionale Texte als auch öffentliche Äusserungen oder aus
Interviews.
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Profile 16
Peter Handke
Freiheit des
Schreibens - Ordnung der Schrift
herausgegeben von Klaus Kastberger
Zsolnay
Flexibler Einband, 352 Seiten
21.50 € (D) / 37.50 sFR (CH) / 22.10 € (A)
ISBN 978-3-552-05476-9
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