Glanz & Elend Magazin für Literatur und Zeitkritik


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Die menschliche Komödie
als work in progress


Zum 5-jährigen Bestehen ist
ein großformatiger Broschurband
in limitierter Auflage von 1.000 Exemplaren
mit 176 Seiten erschienen, die es in sich haben.

 

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Ulrich Breth über die Metamorphosen des großen Rätselhaften mit 7 Songs aus der Tube

Glanz&Elend - Die Zeitschrift
Zum 5-jährigen Bestehen ist ein großformatiger Broschurband in limitierter Auflage von 1.000 Exemplaren mit 176 Seiten, die es in sich haben:

Die menschliche Komödie als work in progress

»Diese mühselige Arbeit an den Zügen des Menschlichen«
Zu diesem Thema haben wir Texte von Honoré de Balzac, Hannah Arendt, Fernando Pessoa, Nicolás Gómez Dávila, Stephane Mallarmé, Gert Neumann, Wassili Grossman, Dieter Leisegang, Peter Brook, Uve Schmidt, Erich Mühsam u.a., gesammelt und mit den besten Essays und Artikeln unserer Internet-Ausgabe ergänzt. Inhalt als PDF-Datei
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Eichelhagel im Tannendunkel

Lars von Trier bleibt auch mit »Antichrist« seiner Flucht-Linie treu,
schafft diesmal aber vor lauter Kunstreligion kein Meisterwerk


Von Peter V. Brinkemper

Ist schon alles gesagt,
über diesen Film? Ja und nein. »Antichrist« ist nicht das Meisterwerk, von dem die Kritiker uns auch in denjenigen Medien vorschwärmen, die womöglich den Film mitproduziert haben. Auch die haben nicht völlig Recht, die, wie Elfriede Jelinek durch ihre hymnische Analyse in »Cargo« (http://www.cargo-film.de/) auch endlich die Theater-Regie-Kooperation mit von Trier in eigener Sache herbeisehnen. »Antichrist« ist aber nicht ganz so schlimm, wie der Titel oder manche raunende Kritik wegen bestimmter kruder Einzelheiten vermuten lassen. »Antichrist« ist genau so wüst oder zahm, so misogyn oder philogyn, wie der Betrachter es nach seinen eigenen Maßstäben und Lektüretechniken wahrhaben will. Lars von Trier hat in diesem Werk weder jene stupende Radikalität von »Dogville«, noch die phantastische Imagination von »Europa« walten lassen, geschweige denn die improvisatorische Dogma-Frechheit der »Idioten« oder die gesellschaftliche Explosivität von Vinterbergs »Fest«. »Antichrist« zelebriert ein verquastes Mittelmaß zwischen diesen angeführten Polen, garniert mit einigen grauslichen symbolistisch-pornografischen Schockdetails, die für eine mangelnde Handlungsdramatik und wackelige Wendepunkte einstehen sollen, wo in Wahrheit dramaturgische Ratlosigkeit und Beliebigkeit herrschen.

Von Trier hat sich in einem verqueren Mischmasch verfangen, sozusagen in einem zahmen Mischwald der Gattungen, ein Hauch
»Blair Witch«, zwischen Farnlichtung, Tannendunkel und ein bisschen Rest-Eichelhagel. Und dort ist er am Mühlstein seines eigenen unentschiedenen Anspruchs in der Zeit-Gedenk-Hütte von Tarkowskijs neoromantischem »Nostalghia« hängen geblieben. Und selbst diese Reverenz an das Traum-Erinnerungs-Prospekt bei Tarkowskij, eine entrückte und berückende Vision eines bäuerlichen Anwesens innerhalb einer toskanischen Klosterkirchenruine, funktioniert bei von Trier als freigelegte, der religiösen Ummantelung entledigte Hütte nur zum Teil filmisch: als computergesteuerte Postkartenvision im Zirkel von Mutter Natur und zugleich als öde Realkulisse einer spätstudentischen Tramp-Zuflucht eines intellektuell und seelisch zerrissenen Paares, das sein Kind und ganz sicherlich auch seine gemeinsame Unbefangenheit (wenn es sie je besaß) verloren hat und damit sich schon kaum mehr irgendeinen seelen-dramatischen Zündstoff mitzuteilen in der Lage ist, der über eine trivialepische Melancholie und Endlos-Depression und über die vermeintliche Verschiedenheit in der gemeinsamen Einfalt hinaus ginge. Und in diesem Sinne sind auch der traditionell vorgepolte weibliche Wahnsinn (der empfindsam über sich und ihr durch dunkle Jahrhunderte verfolgtes Geschlecht nachsinnenden Frau) und die besserwisserische männliche Rationalität (des therapeutisch auf Erfolg getrimmten Mannes) so dünn gesät, wie das bisschen angedeutete Gras und Insekt auf dem Boden jener abgeschiedenen Gegend mit dem bezeichnenden Titel »Eden«. Viele berühmte Namen und Vergleiche sind bereits gefallen, allen voran Tarkowskij, dem der Film an seinem Ende ausdrücklich gewidmet ist. Aber das Problem bleibt: Lars von Trier zitiert zwar viele Themen und Stilelemente bekannter Bühnen- und Film-Autoren mit ihrem spät- und nachreligiösen Diskurs zwischen 1900 und 1980: das volle Spektrum der Psychologie, Pathos, Beziehungskrise, Ehedrama, Horrorfilm, Psychedelik und Naturmystik, ohne aber die thematische Konzentration und Zuspitzung der angepeilten Vorbilder zu erreichen. Das muss er ja auch nicht. Aber, warum werden sie dann bemüht? Als Trophäen, oder als Reliquien einer gelungenen Dekonstruktion? Oder einfach als Zeichen auf einer Flipchart-Skizze wie im Film?

Für August Strindberg oder Hjalmar Söderberg, Carl Theodor Dreyer und Ingmar Bergmann spricht zwar die Parallele
»Beziehungsdrama« und »Ehekrise« sowie »Sinnverlust«, aber die theaterpsychologisch konsequente Konstruktion der Charaktere und Dialoge in deren besten, wirklichkeitsnäher verstehbaren, statt spätmetaphysisch aufgeblähten Werken bleibt aus. Statt realistischer Agilität zwischen den Figuren muss bei von Trier metaphysische Rissigkeit gleich der ganzen Welt im Ausmaß von Sternbildern, tierischen Urgestalten und sündhaften Seinsbefindlichkeiten herhalten. Die typisierende Differenz zwischen der empfindsam-depressiven Frau und dem zunächst therapeutisch-optimistischen Mann schafft keine elektrisierende Spannung heterogener Welten, sondern eine müde Kopulation zwischen Stummheit und Rhetorik, Annäherung und Entfremdung, Kuschel-Geborgenheit und gewaltsamen Ausgesetztsein. Mit einer kunstvollen Spirale zwischen Eros und Thanatos, mit einem dynamischen Kampf der Geschlechter hat das wenig zu tun. Eher mit Jenseits-Stümperei und Diesseits-Stolperei in Konzept und Drehbuch.

Auch die Tarkowskij-Anleihen halten nicht, was sie versprechen, da die Rede der Personen nicht jene artifizielle Stilisierung als Gegenmittel zur Natur und als Brandsatz des angedeuteten Wahnsinns enthält, mit dem jeder eingebildete männliche Heilige und jede angeblich sündhafte Frau bei dem russischen Exil-Meisterregisseur ambivalent Hof halten und doch vergängliche Stalker füreinander und vor dem verborgenen Gott sind. Auch die Todes- und Horrorspur ist ein Dead-End, weil der anfänglich im traumhaft-kristallinen »Europa«-Filmstil inszenierte Verlust des Sohnes und die spätere Rekonstruktion seiner Fehlentwicklungen in Sachen Erziehung (die Vertauschung der Schuhe an den Füßen des Jungen durch die Mutter und die mangelnde Aufmerksamkeit durch den Vater) keineswegs die Intensität der Scheidungskind-und-Schauspieler-Tochter-Missbrauchs-Hysterie in »The Exorzist« (Teil 1 von William Friedkin, 1973), der fatal-infantilen Boshaftigkeit in »Omen« (die ältere Fassung von Richard Donner, 1976) oder der blühend paranoiden Familien-Schizophrenie im neonhellen »The Shining« (die Kubrick-Version, 1980) erreichen. Filmen, in denen die divergenten Familienpole im Kontext der 70er Jahre eine ganz andere innerpsychische und sozial-»hygienische« Fluchtlinienführung als bei von Trier erreichen: zwischen snobistisch gewordener Aufklärung, brillanter Bild-Stilistik und lustvoll-verspielter Regression des Kinos, die schwärzesten Rituale als konsumierbare Erfahrungen auf die Leinwand zu werfen, um eine pubertär-sehnsuchtsvolle Nacht-Vorstellung eines wunderbar kompakten und manifesten Bösen zu entwickeln und die ideologische Differenz der Geschlechter herauszumodellieren, die längst in der Tages-Welt der etablierten weißen Bürger soziologisch abhanden gekommen war, durch die emanzipatorische Verkopplung oder ideologische Verwischung von Intelligenz und Emotionalität, jenseits der überlieferten dumpfen Mann-Frau-Rollen.

Ein Teil der widersprüchlichen und etwas dümmlichen Anti-Dynamik im
»Antichrist« ist darauf zurückzuführen, dass der Film unter einer dogmatischen Kunstreligiosität in der Anlage der Handlung und in der Bildsprache leidet: die hervorragenden und allseits präsenten Schauspieler Willem Dafoe und Charlotte Gainsbourg (weit mehr als ein Ersatz für die barocke Eva Green) in ihrem Nah- und Fernverhalten werden einer widersprüchlichen Inszenierung unterworfen, zwischen relativ starrer Retro-Horror-und-Mystik-Ritualisierung und der stellenweise immer noch dokumentarisch-befreiten dynamischen Dogma-Handkamera mit wackeligen Plansequenzen und recht gewollten Avid-Computer-Schnitt-Rhythmen zum Ambient-Katastrophen-Sound, welcher der anfänglichen metaphysischen Larmoyanz der Händel-Arie aus »Rinaldo« ein erdiges Ereignisrelief verleihen soll. Zwar gelingen von Trier aufregend wilde und paradox poetische Momente zwischen Mensch und Tier, Baum und Körper, Himmel und Erde, Dachboden und Grab. Das Natur-Reich der exkommunizierten Frau unterhalb der Wahrnehmungsschwelle des rationalistischen Mannes wird ein Stück erschlossen. Die Höhle wird ausgegraben, aber dadurch auch beseitigt. Der Film beansprucht eine Art der negativen Territorialisierung, der destruktiven Inbesitznahme eines neuen Kontinentes, der längst nicht mehr unentdeckt ist, aber es bleibt beim Tappen ins Unbekannte. Der Phallozentrismus der Freudianischen Denkens wird, etwas platt, in eine Art Anti-Ödipus des weiblichen Mille-Plateaux-Wurzel-Knollen-Kollektiv-Körpers verwandelt (vgl. die entsprechenden Tricks im Film). In diesem Universum ist auch jede Form der Kastration erträglich, weil es immer wieder krude, blutige Wurmfortsätze des Lebendigen gibt. Der Plot ist auf das Scrap-Book einer schemenhaften Frau bezogen, deren ausführliche Sammlungen und Abhandlungen zur Hexenverfolgung in Wort und Bild in die Signatur der sich auflösenden Schrift im Stil von Cy Twombly übergehen (auch die Graphik des Filmtitels) und zugleich als visuelles Feld einer exzessiven naturhaften Selbstbefleckung als schuldbewusster Gestalt zwischen klassischer Nymphe und merkwürdig konturlos bleibendem maskulin-femininem Satyr am Ende münden. Dieser weibliche Pan, dieser alt-neue herm-aphroditische Schrecken der undomestizierten und auf ihre Weise vermännlichten Frau ist zugleich die Figur, die der Mann nicht zulassen kann. Und Lars von Trier? Dies hätte der entscheidende Punkt für einen wirklich gelungenen Film jenseits der verblassenden männlichen Ordnung werden können, auch als wahrhaft gruselige Kontrafaktur zum geläufigen Horrorstreifen mit seinen vielen Rollenklischees. Dennoch, »Antichrist« bleibt ein sehenswerter und diskussionswürdiger Film. Trotz seiner Kruditäten und der Erstarrung in der selbst-verordneten Kunstreligion in der Manier eines neo-satanischen 1900 plus 109.
 

Regie:
Lars von Trier
mit Charlotte Gainsbourg,
Willem Dafoe
Deutschland 2009
104 Minuten


 



 


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