Glanz & Elend Magazin für Literatur und Zeitkritik


Jetzt versandkostenfrei bestellen!


Die menschliche Komödie
als work in progress


Zum 5-jährigen Bestehen ist
ein großformatiger Broschurband
in limitierter Auflage von 1.000 Exemplaren
mit 176 Seiten erschienen, die es in sich haben.

 

Home     Das Beste     Literatur     Blutige Ernte     Sachbuch     Bilderbuch     Zeitkritik     Termine     Preisrätsel    Impressum     Mediadaten     Andere über uns

Bücher & Themen

Links
Bücher-Charts l Verlage A-Z
Medien- & Literatur l Museen im Internet

Rubriken
Belletristik - 50 Rezensionen
Romane, Erzählungen, Novellen & Lyrik
Quellen Biographien, Briefe & Tagebücher
Geschichte Epochen, Menschen, Phänomene
Politik Theorie, Praxis & Debatten
Ideen Philosophie & Religion
Kunst
Ausstellungen, Bild- & Fotobände
Tonträger Hörbücher & O-Töne
SF & Fantasy Elfen, Orcs & fremde Welten
Sprechblasen Comics mit Niveau
Autoren Porträts, Jahrestage & Nachrufe
Verlage Nachrichten, Geschichten & Klatsch
Film
Neu im Kino


Klassiker-Archiv
Übersicht
Shakespeare Heute, Shakespeare Stücke, Goethes Werther, Goethes Faust I, Eckermann, Schiller, Schopenhauer, Kant, von Knigge, Büchner, Marx, Nietzsche, Kafka, Schnitzler, Kraus, Mühsam, Simmel, Tucholsky
, Samuel Beckett

Honoré de Balzac
Berserker und Verschwender
Balzacs Vorrede zur Menschlichen Komödie
Die Neuausgabe seiner
»schönsten Romane und Erzählungen«, über eine ungewöhnliche Erregung seines Verlegers Daniel Keel und die grandiose Balzac-Biographie von Johannes Willms.
Leben und Werk
Essays und Zeugnisse mit einem Repertorium der wichtigsten Romanfiguren.
Hugo von Hofmannsthal über Balzac
»... die größte, substantiellste schöpferische Phantasie, die seit Shakespeare da war.«

Literatur in Bild & Ton
Literaturhistorische Videodokumente von Henry Miller, Jack Kerouac, Charles Bukowski, Dorothy Parker, Ray Bradbury & Alan Rickman liest Shakespeares Sonett 130

Thomas Bernhard

Eine kleine Materialsammlung
Man schaut und hört wie gebannt, und weiß doch nie, ob er einen gerade auf den Arm nimmt, oder es ernst meint mit seinen grandiosen Monologen über Gott und Welt.
Ja, der Bernhard hatte schon einen Humor, gelt?


Hörprobe









Die Fluchtbewegungen des Bob Dylan

»Oh my name it is nothin'/ My age it means less/ The country I come from/ Is called the Midwest.«
Ulrich Breth über die Metamorphosen des großen Rätselhaften mit 7 Songs aus der Tube

Glanz&Elend - Die Zeitschrift
Zum 5-jährigen Bestehen ist ein großformatiger Broschurband in limitierter Auflage von 1.000 Exemplaren mit 176 Seiten, die es in sich haben:

Die menschliche Komödie als work in progress

»Diese mühselige Arbeit an den Zügen des Menschlichen«
Zu diesem Thema haben wir Texte von Honoré de Balzac, Hannah Arendt, Fernando Pessoa, Nicolás Gómez Dávila, Stephane Mallarmé, Gert Neumann, Wassili Grossman, Dieter Leisegang, Peter Brook, Uve Schmidt, Erich Mühsam u.a., gesammelt und mit den besten Essays und Artikeln unserer Internet-Ausgabe ergänzt. Inhalt als PDF-Datei
Dazu erscheint als Erstveröffentlichung das interaktive Schauspiel »Dein Wille geschehe« von Christian Suhr & Herbert Debes
Leseprobe


Anzeige
Edition Glanz & Elend

Martin Brandes

Herr Wu lacht
Chinesische Geschichten
und der Unsinn des Reisens

Leseprobe


Neue Stimmen
Die Preisträger
Die Bandbreite der an die 50 eingegangenen Beiträge
reicht von der flüchtigen Skizze bis zur Magisterarbeit. 
Die prämierten Beiträge

Nachruf
Wie das Schachspiel seine Unschuld verlor
Zum Tod des ehemaligen Schachweltmeisters Bobby Fischer »Ich glaube nicht an Psychologie, ich glaube an gute Züge.«


Andere Seiten
Quality Report Magazin für Produktkultur
Elfriede Jelinek Elfriede Jelinek
Joe Bauers
Flaneursalon
Gregor Keuschnig
Begleitschreiben
Armin Abmeiers
Tolle Hefte
Curt Linzers
Zeitgenössische Malerei
Goedart Palms Virtuelle Texbaustelle
Reiner Stachs Franz Kafka
counterpunch
»We've got all the right enemies.«




  
Add to Technorati Favorites

Seitwert

 

»Opium für die Intellektuellen«

Friedhelm Lövenich zu Michail Ryklins »Kommunismus als Religion«

Der Kapitalismus platzt. Das hat wohl angesichts der herrschenden Finanzkrise mancher gedacht – oder gehofft: Einige besonders Hoffnungsfrohe hatten schon das ‘Jubilate’ angestimmt. Mit den explodierenden Kredit- und Börsenblasen und der einbrechenden Konjunktur bekommt nun erneut Marx Konjunktur, der solches prophezeit hat. Dass der Kapitalismus am Ende ist, das hat damals: vor achtzig Jahren in eben der Weltwirtschaftskrise, die zurzeit täglich zitiert wird, auch so mancher gedacht und sich spätestens dann Marx und dem Kommunismus zugewandt. Darunter waren auch westliche Intellektuelle, die nicht allzu lange nach der Oktoberrevolution die Sowjetunion besuchten, um sich ein Bild von den dortigen Zuständen zu machen und darüber zu berichten: sympathisierende Revolutionskorrespondenten, die bei ihrer Anreise an den Kommunismus als weltverändernde Kraft glaubten. Um beides: die gläubigen Intellektuellen und den Kommunismus als ihre Religion, kümmert sich das Buch von Ryklin.

Michail Ryklin, der 1948 in Sankt Petersburg geborene und zur Zeit in Berlin lebende Philosoph, hat bereits in mehreren Schriften die Verhältnisse im sowjetischen wie im aktuellen Russland zum Gegenstand gemacht; mit „Kommunismus als Religion“ legt er jetzt sein jüngstes Werk vor, das sich auf die Zeit zwischen den beiden Weltkriegen konzentriert. In drei Kapiteln thematisiert Ryklin hierin zunächst die religiöse Struktur des Kommunismus, danach die Haltung einzelner westlicher Autoren zur Sowjetunion; ein kurzer Epilog zum heutigen Russland nach dem Kommunismus schließt sein Buch ab.

Lenin ca. 1920
Den ‘Kommunismus als Religion’ zu interpretieren, ist kein einfaches Spiel mit Wörtern, denn Begriffskombinationen aus dem Bereich des Politischen und Religiösen zur Kennzeichnung derartiger Tendenzen und Strategien machen durchaus Sinn und sind auch schon frühzeitig benutzt worden; dass bereits der Marxismus eine heilsgeschichtliche Perspektive bietet und seine Attraktivität von dieser erhält, ist bekannt. Ryklin spricht daher nicht zu Unrecht von „säkularer Religion“ – ein Begriff von Raymond Aron – oder von der „Sakralisierung des Apparats und des Parteiführers“.

Paradoxerweise ist der ‘Kommunismus als Religion’, wie Ryklin zunächst zeigt, dabei abhängig von der Gottesleugnung als einer der philosophischen Grundlagen des Materialismus; Ryklin nennt dies, auf Nietzsche anspielend, „die Geburt der Religion aus dem Geiste des Atheismus“. Denn für den Bolschewismus sind Kommunismus und Religion absolut unvereinbar: Lenin betrachtet seine Art des Kommunismus als endgültige Religionsentgiftung, als gezielte Desillusionierung; für den Schöpfer des Leninismus gelten nicht nur christliche Politiker, sondern auch – oder sogar in stärkerem Maße – gläubige Kommunisten oder gar solche, die die kommunistische Utopie und die des Neuen Testaments miteinander verknüpfen, als politische Feinde.

Das gilt nicht nur für die Theorie: Bolschewismus ist seinem Verständnis nach Politik ohne Metaphysik, erst recht religiöse. Genau dies aber, so Ryklin, bereitet der Verhimmelung des Kommunismus den Boden; denn so tritt die Politik selbst an die Stelle dessen, was in der bisherigen Geschichte den Menschen Trost und Hoffnung geboten hatte: die versprochene Unsterblichkeit der Seele und damit ein Lebenssinn jenseits des einfachen körperlichen Überlebens bis zum Tod. Zwar fehlt hier die Sphäre der Transzendenz, die mit der Idee der Gottheit verbunden ist, und ist durch eine reine Immanenz: ein ‘innerweltliches’ Leben ohne Gott, ersetzt; dennoch operiert gerade die grundlegende Theorie des Bolschewismus: der Historische Materialismus, auf der Basis einer dem Christentum vergleichbaren heilsgeschichtlichen Dimension, die auf das Ende der Geschichte als diesseitiges Paradies zusteuert.

Stalin ca. 1942
Gerade aber dass er in dieser innerweltlichen Orientierung die Transzendenz: die Sphäre des Göttlichen, ablehnt, führt beim Bolschewismus dazu, dass er – anders als das Christentum – nicht mehr unterscheidet zwischen dem, was des Kaisers, und dem, was Gottes sei; stattdessen fallen ihm wie in der römischen Staatsreligion, aber auch im italienischen Faschismus und deutschen Nationalsozialismus Kaiser und Gott zusammen. Und zwar zwangsläufig, denn angesichts der Abwesenheit Gottes wird dessen Platz vom ‘Oberpriester’ als Führer selber eingenommen, der nun gottgleiche Verehrung ebenso beanspruchen kann wie Unfehlbarkeit.

Insbesondere dieser Alleinvertretungsanspruch, die Behauptung, auf alle Fragen eine richtige und nur diese Antwort geben zu können und die damit verbundene harsche Ablehnung aller anderen Theorien als ‘ideologisch’, erscheint Bertrand Russell, so zeigt Ryklin, als eines der markantesten Stigmata des Kommunismus, die seine selbsterklärte Wissenschaftlichkeit entzaubern und ihn als Religion enttarnen. Gerade weil er sich als ‘Wissenschaft’ geriert, verkrümmt sich der Kommunismus immer stärker zum bloßen Glauben, dessen Dogma gegen die angeblichen oder wirklichen Feinde mit Gewalt verteidigt wird.

Ryklin sieht nun im Kommunismus allerdings nicht, wie häufig betont, eine ‘Ersatzreligion’, die eine praktikable Alternative zum Christentum darstelle, das der in der Moderne sich vollziehenden Säkularisierung, der weberschen ‘Entzauberung der Welt’ zum Opfer gefallen sei; vielmehr stelle er selbst eine veritable Religion und nicht nur einen Ersatz dar, da das 20. Jahrhundert nur ‘Religionen’ ohne Jenseits hervorgebracht habe, denen die Gläubigen dennoch freudig gefolgt seien, da sie ebenso Sinn für sie bereitstellten wie die traditionellen Religionen früherer Zeiten.

Unter ‘Ersatzreligion’ scheint Ryklin, der dies nicht – was man sich gewünscht hätte – gründlicher entfaltet, eine Ideologie zu verstehen, die man aus Kompensationsgründen annimmt, um die Lücke der in ihrer Bedeutung zerfallenen ‘echten’ Religion zu füllen, also einen unmittelbaren Religionsersatz; dass diese neue Weltanschauung dann für jemanden eine ‘Ersatzreligion’ darstellt, beruht darauf, dass sie für ihn dieselbe Funktion übernimmt, die die ‘echte’ Religion früher ausfüllte, also – wie es systemtheoretisch heißt – funktional äquivalent ist.

Für Ryklins Bezeichnung des Kommunismus als Religion ist hingegen von Bedeutung, dass dieser sich – ähnlich wie auch der Nationalsozialismus – ausdrücklich jener Formen bedient, die die traditionelle Religion ausgezeichnet hatten. Interessant also ist der Religionsvorwurf gegenüber einem Weltbild weniger in Bezug auf das theoretische Gerüst als vielmehr auf die praktische Politik, die Tag für Tag betrieben wird und ‘innenpolitisch’ das Ziel verfolgt, die Massen zu ‘organisieren’, das heißt für das jeweilige politische Tagesziel anzuspornen und zugleich zu beruhigen: durch ‘revolutionäre Aktivität’ ruhigzustellen.

Diese emotionalisierte Inszenierung der Politik nimmt sich die religiösen Regieanweisungen zum Vorbild und praktiziert dieselben Riten und Zeremonien wie die weihrauchschwenkende Gottesverkündigung. Ironischerweise – so ist man versucht zu sagen, aber die Sowjetführer waren frei von jeglicher Selbstironie – wandeln sich deshalb ‘aus Gründen der Propaganda und Agitation’ viele typisch kirchliche Werbe- und Dekorationsformen in solche des Bolschewismus.

Die Religion der Immanenz bekämpft zwar die Religion der Transzendenz, setzt aber alle ihre Kunstgriffe und Winkelzüge selber ein: Aus den Evangelien und Hirtenbriefen werden die heiligen Texte der marxistischen Klassiker und die vergötterten Schriften der jeweiligen Partei- und Staatsführer, aus dem Katechismus wird die Lehrmeinung der Partei, aus prominenten Bibelzitaten werden Parolen; Kirchen verwandeln sich in Versammlungshäuser, Statuen der Heiligen in solche der Sowjethelden und -führer, die Grabeskirche ins Lenin-Mausoleum; christlichen Riten werden zu bolschewistischen Zeremonien gewendet, kirchliche Feiertage zu kommunistischen Festtagen, die Missionierung heidnischer Völker zum ‘Hinaustragen der Weltrevolution in alle Länder’; die Klerikersprache erneuert sich als Hermetik der Parteilinie, das Dogma als Parteidoktrin, in Altarbildern und auf Spruchtafeln aufgezeichnete moralische Sinnsprüche als Wandzeitungen und Propagandaplakate mit bolschewistischen Losungen und Erfolgsmeldungen; der Papst wird wiedergeboren als Parteiführer, die kirchliche Führungsclique als sowjetische Nomenklatura der Kader, das kirchliche Konzil als Kommunistische Internationale, die Heilige Inquisition als Politische Polizei; die ‘Sünde gegen Gott’ lebt wieder auf als ‘ideologisches Verbrechen’, die Häresie als Abweichlertum, der  Scheiterhaufen als Genickschuss, Christus als Lenin: der zur Einbalsamierung gesalbte, ewig lebende formalingetränkte Leichnam, das Objekt der Anbetung – und was dergleichen mehr ist.

So wird – das ist die Hauptthese von Ryklins Buch – die theologische Religion zur politischen, der kirchliche ‘pomp and circumstance’ zum sowjetischen; das „Opium des Volkes“, das nach Marx die Religion darstellt, bleibt, nur soll sich das Volk jetzt nicht mehr am fernen Jenseits, sondern am zukünftigen Diesseits träumend berauschen. Als Kritik oder als Interpretationsmodell hat dann allerdings Ryklins Bezeichnung des ‘Kommunismus als Religion’ wenig Kraft, da sie ihn nicht von anderen politischen Religionen unterscheidet; er selbst stellt ihn ausdrücklich neben Faschismus und Nationalsozialismus.

Zudem erhebt sich die Frage, ob sich die Übernahme derjenigen Tricks und Kniffe der Politik, die die Religion ‘erfunden’ hat, nicht auch bei anderen Politikformen als den erwähnten findet: Sind die der existierenden Demokratien wirklich so grundlegend anders, oder finden sich nicht auch hier vergleichbare, wenn auch vielleicht nicht so extensiv und theatralisch inszenierte ‘events’ und Phänomene?

Der Kommunismus, so argumentiert Ryklin mit Raymond Aron, ist auch deshalb eine Religion, weil er das leistet, was eine Religion zu leisten hat: Millionen Menschen einen Grund zum Glauben und damit einen Lebenssinn zu vermitteln, der sie sogar zum höchsten Opfer, dem ihres eigenen Lebens, zu befähigen weiß. Das klingt überzeugend, wird aber eben auch von anderen Theorien und Weltanschauungen als dem Kommunismus geleistet; insofern wären alle Ideengebäude im Sinn dieses Kriteriums ‘Religionen’, weil sie Sinn spenden – genaugenommen sogar eine Philosophie, die ‘Sinn’ ablehnt.

Schließlich ist es doch gerade dieses ‘religiöse’ Element: die lebensweltliche Sinngebung, das die Wirksamkeit und Attraktivität von Weltanschauungen garantiert; ohne ein Fundament in den Gefühlen ihrer Anhänger hätte eine politische Überzeugung vermutlich keine Jünger, selbst wenn mancher von ihnen behauptet, er habe sich allein aus Vernunftgründen für sie entschieden. Das sieht natürlich auch Ryklin: Basis der Gefolgschaft für den Kommunismus ist für ihn nicht die wissenschaftliche Überzeugungskraft der marxistischen Lehre, sondern die Passion: der Hass auf den Kapitalismus und seine soziale Ungerechtigkeit sowie die Hoffnung, diesen durch den Kommunismus zu überwinden.

In den massenwirksamen Riten und Zeremonien zeigt sich eine weitere Ähnlichkeit zwischen Religion und Bolschewismus, die Ryklin anführt: In beiden werde dasselbe geopfert, nämlich das Individuum; die KP, der Ryklin eine militärische Organisation von Beginn an attestiert, habe die Menschen allein als „Material“ betrachtet, aus dem eine glückstrahlende Zukunft und ein neuer Mensch zu formen sei. Im Interesse dieses Zieles sei sie bereit gewesen, selbst das über Bord zu werfen, was die gefühlshafte Bindung an den Kommunismus eigentlich ausmacht: das Beharren auf Moral in Politik und Geschichte; die Kommunisten, so Ryklin, „wollten im Menschen selbst die Basis allen Zusammenlebens ausmerzen: das moralische Prinzip“, das – ausgerechnet im Interesse einer höheren Sittlichkeit – durch das von der KP und der Politischen Polizei geförderte Denunziantentum zerstört würde.

Die Bolschewiki zerstörten die Moral um der Moral willen, so wie die Handlungsweise der Kirche in der Geschichte ihrer eigenen Theologie und deren moralischem Anspruch widerspricht. Sie konnten sich offenbar, so Ryklin, einen politischen Gegner nur als Feind vorstellen, der bedingungslos, unversöhnlich und mit allen Mitteln zu bekämpfen war, legalen wie illegalen, moralischen wie unmoralischen – wobei es in ihrem Weltbild auf ihrer Seite keine Unmoral geben konnte, da sie sich selbst ja stets auf der Seite des Fortschritts und Humanismus stehen sahen. Ryklin nennt dies treffend den „Parteimanichäismus“: Die Welt für Bolschewisten ist schwarz und weiß, Terror bei dieser Weltsicht nahezu unvermeidlich, ja logisch und geboten.

Warum also zeigten sich aufgeklärte Intellektuelle aus dem europäischen Westen so angetan von der Sowjetunion?

Umso interessanter ist die Frage danach, warum aufgeklärte linke religionskritische Intellektuelle aus dem europäischen Westen sich so angetan zeigten von einer politischen Kultur, die zwar die utopischen christlichen Inhalte durch utopische kommunistische ersetzt hatte, dies aber eben auch in äußerst peinlicher Art und Weise in der Gestaltung der alltäglichen politischen Praxis selbst nachvollzog – vom Terror ganz zu schweigen; genau das, was die Linksintellektuellen an der religiösen Praxis angriffen, schien sie an der bolschewistischen zu bestricken.

Leider erfüllt sich das vom Verlag im Werbetext gegebene Versprechen, dass es die „wichtigste Aufgabe des Buches“ sei, die Gründe der Faszination der Westler durch die Oktoberrevolution zu erklären, nicht: Ryklin bemüht sich, deren Aufnahme und Verarbeitung ihrer sowjetischen Erfahrungen zu zeigen, macht aber wenig Angaben zu den Gründen ihrer – wenigstens ursprünglichen – Begeisterung und ihres Glaubens an die Religion des Bolschewismus.

Einer dieser Gründe findet sich in den sozialen Verwerfungen der Zwanziger Jahre in Europa: Die Mittelschichten hatten in der Weimarer Republik durch die Weltwirtschaftskrise eine massenhafte starke Verarmung zu beklagen; für viele ihrer Mitglieder in Deutschland, besonders für die Intellektuellen, drängte sich jetzt die Entscheidung zwischen Kommunisten und Nationalsozialisten auf. Die jüdischen unter ihnen besaßen hier überhaupt keine Wahl: Sie orientierten sich häufig an den Worten der Genossen Lenin und Stalin und flüchteten nach 1933 in die Sowjetunion, wo viele von ihnen in den Lagern einen Tod fanden, dem sie durch die Flucht vor den KZs zu entkommen geglaubt hatten.

Hinzu tritt, wie Arthur Koestler attestierte, als Motiv der „Selbsthass des Bürgertums“, der durch die sich stetig verschlechternde wirtschaftliche Lage der kleinbürgerlichen Intellektuellen noch verschlimmert wurde; so erscheint der Kommunismus als doppelter Ausweg: Wie das Bekenntnis zum Proletariat zur Heilung der seelischen Wunde beitrug, die durch den Verstoß aus der bisherigen Schicht aufgesprungen war, so verhalf es auch zu neuer Lebensenergie durch den Einsatz für eine Gesellschaftsform, die diejenige abschaffen wollte, die die Misere verursacht hatte.

Der sowjetische Kommunismus, so Ryklin, war in den Zwanziger und Dreißiger Jahren so attraktiv für westliche Intellektuelle, weil die Oktoberrevolution von ihnen: den bürgerlichen Bürgerlichkeitshassern, als Zerstörung des Bürgerlichen aufgefasst wurde – so wie die Französische Revolution einmal das Feudale überworfen hatte; dabei gingen sie: die Intelligenten und Gebildeten, die jeden ideologischen Unsinn des Kapitalismus sofort durchschauten, der Propaganda der Bolschewiki tüchtig auf den Leim.

Frühere westliche Berichterstatter, die die Oktoberrevolution miterlebten, hatten, so Ryklin, oftmals sogar den Terror gerechtfertigt; auch „die in die Sowjetunion Verliebten“ hätten mit ihren Lobeshymnen mittelbar die stalinistische Politik des Terrors unterstützt und seien somit daran ebenso mitschuldig geworden wie rechtskonservative Denker der Weimarer Republik an den Konzentrationslagern; einige hätten die Ausrottung der politischen Gegner in Russland auch aktiv unterstützt, wie zum Beispiel George Bernard Shaw.

Selbst der später so kritische Arthur Koestler hält fest, dass er zu Beginn seines Engagements für die KP der Überzeugung war, dass die Sowjetunion sich im „Zustand der Gnade“ befand. Daher diagnostiziert Ryklin mit Jacques Derrida, dem das Buch auch gewidmet ist, ein Moment der religiösen Ergebenheit gegenüber der bolschewistischen Politik bei den Intellektuellen, die eine neue, wie Gide es nannte, ‘Wahlheimat’ suchten, einen Ort, an den sie ihr linkes Herz tragen konnten, das im sich rasch amerikanisierenden Westeuropa immer schmerzhafter schlug. Bei seiner Rückkehr ins Herkunftsland hatte dann mancher wie Nicos Kazantzakis, der Autor des ‘Alexis Sorbas’, einen Blick auf Westeuropa gewonnen, dem dieses als Zentrum der Dekadenz erschien.

Die Russische Revolution wurde bei ihrer Einreise von den Revolutionstouristen aller Herren Länder meist nicht als eine nationale aufgefasst, sondern als der Beginn der internationalen, ja universellen, die endlich die Herren aller Länder hinwegschwemmen würde. Was hier geschah, so die Gäste, war nur die Ouvertüre für die weltweite Revolutionsoper, deren – meist, aber nicht immer – begeisterte Kritik sie zu schreiben nun beabsichtigten. Ihre Pilgerreise verfolgte das Ziel, die historische Veränderung ‘live’ beobachten zu können, und das auch noch mit Sympathie für die Akteure; überzeugt von den ‘historischen Leistungen Sowjetrusslands’ reisten die Sympathisanten mit großer Naivität ins heilige Land der Revolution; nahmen sie die Sache jedoch selbst in Augenschein, waren die meisten von ihnen in mancher Hinsicht ent–täuscht.

Die Reaktion auf die Erfahrungen in der Sowjetunion untersucht Ryklin an den Berichten Bertrand Russells, Walter Benjamins, André Gides, Arthur Koestlers, Lion Feuchtwangers und Bertolt Brechts. Die besprochenen Autoren haben zwischen den Kriegen zu verschiedenen Zeiten die Sowjetunion besucht und dabei unterschiedliche Epochen in der Entwicklung der sowjetischen Gesellschaft erlebt, woraus sich natürlich auch zum Teil widersprechende Einstellungen und Schlussfolgerungen ergeben. Von den hier untersuchten Autoren schreiben Russell, Koestler und Gide stark kritisch über das Ziel ihrer Wallfahrt; Brecht hingegen verhält sich laut Ryklin naiv-apologetisch, Feuchtwanger verklärend zustimmungsvoll und Benjamin sympathisierend-befremdet – was es zu bedeuten hat, dass es gerade die deutschen Autoren sind, die sich weniger kritisch zeigen, wird nicht erläutert.

Brecht ließ sich, so Ryklin, anders als die allermeisten westlichen Adoranten nicht einmal von den Moskauer Schauprozessen noch vom Hitler-Stalin-Pakt, der vielen anderen kommunistischen Ehemaligen den Rest gab, in seiner Verehrung der Sowjetunion beeindrucken. Bertrand Russell hingegen, der vom britischen Empirismus und Pragmatismus beleckte Skeptiker, verschloss trotz seiner Sympathie für den Kommunismus nicht die Augen vor dem Missraten des sowjetischen Abenteuers: Schon 1920 attestierte er dem Bolschewismus, als kommunistisches Experiment gescheitert zu sein und allein noch die Karte der Macht und der damit verbundenen Unterdrückung gegen das eigene Volk zu spielen.

Ryklin stellt fest, dass diese Russland-Enthusiasmierten augenscheinlich in der Sowjetunion selbst wenig empirische Erkenntnisse gesammelt hatten, begünstigt häufig durch ihre Unkenntnis des Russischen, die den Kontakt zum ‘einfachen Volk’ unterband; anders als diejenigen, die sich während und nach ihrem Besuch ernüchtert zwar nicht unbedingt vom Kommunismus, wohl aber von der Sowjetunion abwandten, machten sie nur, wie Ryklin es ausdrückt, „unzureichende sinnliche Erfahrung mit der neuen Staatsmacht“. Denn ihm zufolge, „gab (es) ... nichts, was die Heilung vom kommunistischen Glauben nachhaltiger beförderte, als der harte sowjetische Alltag und die Omnipräsenz der politischen Polizei“.

An manchen Stellen lässt Ryklin zwischen den Zeilen einen antikommunistischen und nicht nur antibolschewistischen Wind wehen – eine Unterscheidung, die vielleicht im Zuge des ‘Zerfalls des Kommunismus’ verlorengegangen ist; möglicherweise hat man sich in den ehemaligen Ostblock-Staaten mit dem schlechten historischen Resultat des Kommunismus auch des theoretischen Desiderats entledigt und damit an Differenzierungskraft verloren. Es ist durchgängig im ganzen Buch oft nicht klar, ob Ryklin einen Unterschied zwischen Kommunismus und Bolschewismus macht: Zwar betont er den Unterschied zwischen den Idealen des Kommunismus und ihrer schlechten Realisierung im Bolschewismus, unterstellt aber an anderen Stellen dem Kommunismus generell eine totalitäre Tendenz.

Zur Klärung erscheint eine Stelle hilfreich, wo Ryklin mit Raymond Aron vermerkt, dass das 20. Jahrhundert allein „transzendenzlose, ‘uneigentliche’“ Religionen hervorgebracht hätte, deren prominenteste eben der Kommunismus sei; da dieser aber als Theorie nun einmal aus dem 19. Jahrhundert stammt, scheint sich Ryklin, wenn er den Kommunismus-Begriff verwendet, in der Regel auf den Bolschewismus zu beziehen bzw. auf die sowjetische, leninistische Spielart des ‘Kommunismus’, die mit dem ursprünglichen Marxismus – ein Begriff, den Ryklin selten verwendet – nur noch wenig mehr als den Namen gemein hat.

Über den Zweck dieses Buches, über das vom Autor damit verbundene Anliegen lässt sich nur spekulieren; Ryklin selbst sagt nichts darüber, ein Vorwort fehlt. Als literatur- oder geschichtswissenschaftliche Darstellung der ‘Rezeption der sowjetischen Gesellschaft durch westliche sympathisierende Beobachter’ ist das Buch nicht ausführlich genug: Dazu hätten mehr Personen und diese ausführlicher behandelt werden müssen. Auch Schilderungen des historischen Verlaufs der behandelten Epoche finden sich bereits zuhauf und ebenso umfassender wie tiefgehender. Als Vortrag über das Thema ‘Kommunismus als Religion’ ist es nicht neu – was es allerdings auch nicht vorgibt. Eine Analyse, warum das sowjetische Experiment gescheitert ist, enthält es ebenfalls nicht, außer dem auch nicht gerade ausgefallenen Hinweis darauf, dass man mit Terror von oben keinen ‘neuen Menschen’ schaffen kann (178f.).

Möglicherweise hat Ryklin dieses Buch, das in Russland noch nicht erschienen ist, geschrieben, nicht um uns etwas über Russland beizubringen, sondern Russland über sich selbst: um die dort vorhandene Nostalgie, die Sehnsucht nach der ‘Größe’ der alten Sowjetunion und die damit eng verbundene Illusion über deren Wesen zu unterlaufen und zu konterkarieren. Diese Phantasmen werden seit einiger Zeit von der herrschenden Politik in Russland – vermutlich ganz bewusst in einer Einheitsfront mit der orthodoxen Kirche – zur Wiederherstellung eines starken Nationalismus und einer damit verbundenen Großmachtpolitik instrumentalisiert, was nicht nur dem putinkritischen Ryklin, der selber so seine Erfahrungen mit der russischen Staatsmacht zu machen hatte, als der falsche Weg erscheint.

Russland hat mit der ‘Vergangenheitsbewältigung’, mit der wissenschaftlichen Aufarbeitung der Verbrechen vor allem der Stalinzeit anscheinend in der Öffentlichkeit noch nicht begonnen; stattdessen herrschen bei diesem Thema wie in der deutschen Nachkriegszeit politische Kämpfe, ideologische Auseinandersetzungen und nationalistische Ressentiments vor. Vielleicht zitiert bzw. referiert Ryklin deshalb recht häufig Stellen aus den Büchern der untersuchten Autoren, die die schreckliche Situation der Meinungsunterdrückung, der Parteidiktatur und des Terrors in der Sowjetunion behandeln.

Ryklin, das Mitglied der Moskauer Akademie der Wissenschaften, stellt im abschließenden dritten Kapitel der russischen Gesellschaft von heute ein Armutszeugnis aus: Was die Sowjetunion an ihrem Ende noch zu bieten hatte, fiel unter die Aasgeier, von denen sich jeder aus dem Kadaver sein Stück Besitz oder Macht herausbiss, frei von Moral und Gewissen. Gerade zu diesem frühkapitalistischen Raubtiergebaren, so Ryklin, habe diese „‘Raffkes’“ der transzendenzlose Atheismus und das unmoralische und unsolidarische Denunziantentum befähigt, aus dem nach kommunistischer Doktrin doch eigentlich der neue, anti-kapitalistische Mensch hätte hervorgehen müssen; zudem scheint es sich um eine Gesellschaft zu handeln, die sich in zunehmendem Maße brutalisiert, da ihr Handlungsmotive wie Rache und Vergeltung plausibler erscheinen als vom Wunsch nach sozialer Gerechtigkeit inspirierte Moralvorstellungen.

Die heutigen jungen Russen verstehen, wie es scheint, den ursprünglichen Sinn der kommunistischen Hoffnung: die Utopie einer moralischen, sozial gerechten Gesellschaft, nicht einmal mehr – was sie wohl mit ihren Altersgenossen im Westen verbindet. Ihre Kenntnisse über die Person und das Werk Lenins sind, wie eine Umfrage ergab, jämmerlich; Lenin wird wie ein toter Hund behandelt, den vor dem Verwesen nur das streng gehütete Geheimnis der Einbalsamierung seiner Leiche im Mausoleum rettet.

Anders verhält sich die russische Gesellschaft hingegen in Bezug auf Stalin, der immer stärker zur Weihefigur Russlands aufgebaut und seiner Verbrechen entkleidet wird: Sie werden geleugnet oder relativiert, zum Teil sogar gerechtfertigt – und dies nicht von Altkommunisten, sondern von orthodoxen Priestern. Stalin wird so zum Heiligen, zum uneingestandenen Vorbild der heutigen russischen Politik; Ryklin attestiert Putin, eine Art Nachfolger Stalins sein zu wollen: Auch er ignoriere einfach die Verfassung, die er zwar in Sonntagsreden feiere, im politischen Alltagsgeschäft jedoch umgehe, wenn es ihm notwendig erscheine. Ideologisch davon begeisterte westliche Besucher sind nicht in Sicht. ©  Friedhelm Lövenich
 

Michail Ryklin
Kommunismus als Religion.
Die Intellektuellen und die Oktoberrevolution
Aus dem Russischen übersetzt von Dirk und Elena Uffelmann
Verlag der Weltreligionen im Insel Verlag (im Suhrkamp Verlag), Frankfurt am Main
ISBN-10: 3458710108, ISBN-13: 978-3458710103
192 Seiten, Gebunden, Euro 17,80

Leseprobe


 


Glanz & Elend
- Magazin für Literatur und Zeitkritik

Literatur     Blutige Ernte     Sachbuch     Bilderbuch     Zeitkritik     Termine     Filme     Preisrätsel     Das Beste     Impressum     Mediadaten