Glanz & Elend Magazin für Literatur und Zeitkritik


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Die menschliche Komödie
als work in progress


Zum 5-jährigen Bestehen ist
ein großformatiger Broschurband
in limitierter Auflage von 1.000 Exemplaren
mit 176 Seiten erschienen, die es in sich haben.

 

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Glanz&Elend - Die Zeitschrift
Zum 5-jährigen Bestehen ist ein großformatiger Broschurband in limitierter Auflage von 1.000 Exemplaren mit 176 Seiten, die es in sich haben:

Die menschliche Komödie als work in progress

»Diese mühselige Arbeit an den Zügen des Menschlichen«
Zu diesem Thema haben wir Texte von Honoré de Balzac, Hannah Arendt, Fernando Pessoa, Nicolás Gómez Dávila, Stephane Mallarmé, Gert Neumann, Wassili Grossman, Dieter Leisegang, Peter Brook, Uve Schmidt, Erich Mühsam u.a., gesammelt und mit den besten Essays und Artikeln unserer Internet-Ausgabe ergänzt. Inhalt als PDF-Datei
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Wenn die Tage zappeln

Lothar Struck über Martin von Arndts lesenswerten neuen Roman »Der Tod ist ein Postmann mit Hut«

An jedem ersten Mittwoch im Monat erhält Julio C. Rampf ein Einschreiben. Die Zustellung ist inzwischen längst ritualisiert: das tragbare Terminal mit dem Stift, der aussieht wie ein krumm geschlagener Zimmermannsnagel, die gewagte…und doch für zu leicht befundene Unterschrift Julios, der Zeigefinger des Postboten, der flüchtig an seine Kopfbedeckung, einen Tirolerhut fährt, der Wachholderschnaps im Stamperl, das erneute leichte Berühren des Hutes mit dem Zeigefinger und schliesslich die Drehung auf der Schwelle beim Verlassen der Wohnung. Und auch der Inhalt dieses anonymen Einschreibens ist stets gleich: ein einmal gefaltete[s] leere[s] Blatt.
Julio ist 40, Deutscher und lebt in Innsbruck mehr schlecht als recht als Gitarrenmusiker. Paintner, der Musikproduzent mit den schlechten Witzen, nahm ihn trotz oder vielleicht gerade wegen seiner roten, verschorften Hände für seine skurrilen Projekte, wie zum Beispiel Klassiker der Unterhaltungsmusik für chinesische Schnellimbisse zu bearbeiten. Nach mehr als 20 Jahren wurde Julio von seiner Frau Ines verlassen, was ihn deprimiert und verstört. Und dann auf einmal diese Einschreiben. Anfangs noch als einen harmlosen Irrtum betrachtet, der sich schnell durch den "richtigen" Versand aufklären würde, beginnt Julio die Impertinenz dieser anonymen Post zu beunruhigen aber auch zu faszinieren. Und so nebenbei verändert sie sein Leben.
Der Ich-Erzähler Julio hat bei oberflächlicher Betrachtung zunächst durchaus etwas von einer prekär-modernen Version eines Prinz Leonce oder Oblomows. Er verbringt auch schon einmal seine Tage im Bett und zelebriert seine Langeweile. Wiederkehrend und unversehens, fast anfallartig seine Mutlosigkeit. Sie überkommt ihn beim Schuheputzen, bei häuslichen Kleinreparaturen. Alles wird schwarz, alles wird schwer, unerträglich schwer, zu schwer für mich, unerträglich für mich…ich halte dieses Leben, mein Leben schlechthin, nicht mehr aus. Nach landläufiger Diktion würde man ihn als depressiv einstufen – und auch wieder nicht, denn er stemmt sich sehr wohl gegen dieses Gehenlassen und beginnt ein "Nächtebuch" zu schreiben, zaghaft, mit müden Gedanken. Er versucht, die Zeit urbar zu machen und irgendwann dreht sich die Welt nur noch um diese Zeilen

Der zappelnde Tag
Martin von Arndt widersteht der Versuchung, über den Umweg des "Nächtebuchs" seinen Protagonisten vor- und damit gleichzeitig auszustellen. So entgeht er der Gefahr, Julio als exotischen Sonderling einzuplüschen (gewisse Parallelen zu den melancholischen Voyeuren eines Wilhelm Genazino sind allerdings vorhanden) oder einfach nur als eigenbrötlerischen Faulpelz mit Messi-Qualitäten zu denunzieren. Charakterisiert wird die Hauptfigur indirekt durch dessen scharfe Wahrnehmung, die manchmal jäh aufblitzt. Da starren dann die Berge zurück, ein Tag zappelt wieder, es war so kalt, dass selbst de[m] Zug fröstelte, der Sommer begann den Frühling aufzufressen oder die Fliegen unter der Decke bilden Insektensütterlin.  
Die Lebenserschöpfung wird unprätentiös erzählt und nicht nur behauptet. Sie wird durch Ines' Verlassen nicht direkt ausgelöst, aber potenziert. Nur ein paar Monate nach der Beerdigung von Julios Mutter (in feinen, kurzen Szenen wird das fragile Mutter/Sohn-Verhältnis erzählt) trennte sie sich von ihm endgültig – inklusive Scheidungsurkunde in mehreren Kopien. Seitdem zählt er die Tage, wann sie zuletzt mit Rosenwasser die Blumen besprühte und behandelt ihre zurückgebliebenen Gegenstände wie Fetische. Residuen eines Lebens, welches ansonsten in zwei schwere[n] schwarze[n] Müllsäcken "ausgemistet" wurde. Ines war die erste Frau in meinem Leben, die mich nicht nach meinem Vater beurteilt hat. Julios Vater, der sich in der Lebensmitte, auf dem Höhepunkt seiner Karriere erschossen hatte (seitdem ist Karriere Un-Wort und Un-Möglichkeit zugleich), machte den damals 16jährigen mit einem Schlag für die Mädchen "interessant".

Aber Ines war anders. Nicht wie die Freundinnen vorher, die ihre Küsse nicht ohne Gegenleistung erbringen wollten (um Informationen über den Tod des Vaters zu erhalten). Im blonden Flaum auf ihren Armen verfingen sich die Sonnenstrahlen; sie duftete nach Kakao. Auch nach dem Musikstudium bestritt Ines mit ihrem Laborantinnengehalt weitgehend den Lebensunterhalt der beiden. Der inzwischen entstandene Teufelskreis aus mangelndem Ehrgeiz Julios (gepaart mit eventuell ungenügendem Talent) und hieraus fast zwangsläufig ausbleibendem Erfolg (pekuniär wie künstlerisch) führte immer mehr zu Spannungen. Während Julio nicht erwachsen werden kann (oder will), entwächst Ines dem Mikrokosmos ihres Mannes. Und sie geht zu "ihrem" Juwelier. Aber mit Ines "verliert" Julio nicht einfach "seine" Frau, sondern den Menschen, der ihm Nabelschnur zur Welt war und wenn er von Ines und seinem Leben mit ihr erzählt, gelingt ein wunderbar melancholischer Ton (mit oft sehr schönen Bildern) jenseits aller Trennungsschmerzklischees, Jammereien oder vorwurfsvollem Nachkarten (und auch dann noch, wenn von Ines' Idiosynkrasien die Rede ist, die sie zwischenzeitlich zu einem Therapeuten führten).

Verdächtige und Nachforschungen
Als die Einschreiben regelmässig eintreffen, macht Julio eine Liste von verdächtigen Personen, die für einen solchen Streich infrage kämen und ist überrascht, dass er nur auf drei Namen kommt (Ines streicht er sofort wieder). Er sucht diese Personen auf. Der Hausbesorger ist unbekannt verzogen. Hardy, Julios Intimfeind, der ihm schon immer auf dem Schulweg auflauerte, ist dement und dämmert in einem Heim vor sich hin. Ines' ehemaligen Therapeuten, damals ihr Verehrer mit eindeutigen Angeboten, sucht er unter dem Vorwand einer Mausphobie auf um dann schnell festzustellen, dass dieser Mann ebenfalls als Täter ausscheidet.   

Nachforschungen bei der Post scheitern bereits an der Bürokratie der Behörde: Der offizielle Weg war eine Sackgasse. Einer der Sätze in diesem Buch mit gewollt doppeltem Boden: Beschreibung einer tatsächlichen Situation aber eben auch Allegorie. Schließlich sucht Julio die Polizei auf. Aber die Angelegenheit wird nicht verfolgt: von einem leeren Blatt gehe kein Bedrohungspotential aus. Der Polizist rät ihm mit einem Pensionisten, dem Steinbichler Koloman, der auch noch in der Nachbarschaft wohnt, Kontakt aufzunehmen. Der Steinbichler sei Spezialist gewesen für "ungewöhnliche Fälle" und habe Zeit und vielleicht Interesse.

Julio sucht Koloman, der den Spitznamen Grantler hat und dessen Frau ihn gerüchteweise genau deswegen verlassen haben soll, auf. Ein Hüne, ein Vier-Zentner-Mann mit zwei schweren mütterliche[n] Brüste[n]…die in einem überreifen Bauch mündeten, dem das Atmen hörbar schwer fällt und dessen Cocker Spaniel "Tadzio" (sic!) auf Julios Bein fixiert ist. Koloman wird ein bisschen wie eine brummend-austriakische Colombo-Persiflage skizziert (er trägt fast immer das gleiche Hemd und fährt ein schrecklich altes Auto) und erinnert optisch tatsächlich zunächst an die Karikaturen von Manfred Deix (insbesondere am Stammtisch mit den Ehemaligen, den der Pensionär eigentlich meidet). Aber Koloman ist ein Leser: "Vom Alkohol bin ich runter. Von Büchern noch nicht" und es zeigt sich, wie schnell Äußerlichkeiten nebensächlich werden.
Der Pensionist ist dankbar um die Abwechslung, die der Fall in sein Leben bringt und für Julio entwickeln sich die Ereignisse um die Einschreibebriefe immer mehr zum Lebensmotor. Da spielt es auch keine Rolle, dass alle kriminaltechnischen Methoden (Fingerabdrücke, Spuren- und Abdrucksuche auf dem Schreiben, Suche nach Geheimtinte, Geschmacks- und Geruchsproben) nicht weiterführen. Koloman setzt noch einen Freund auf das zu erwartende Postamt an (es gibt einen Turnus bei den Abgabestädten) – aber der scheitert letztlich auch.

"Tät dir vielleicht auch mal ganz gut"
Diese beiden Versehrten finden über diesen Fall zueinander und erkennen, so unterschiedlich Alter, Lebenslauf, Herkunft und Körperfülle auch sein mögen, Sympathie und Respekt füreinander. Es entwickelt sich eine herzliche aber unspektakulär-lakonische Freundschaft; man kocht und musiziert miteinander. Julio will mit ihm sogar auf Tournee gehen (hierfür sagt er Paintners Pläne ab); der Dicke spielt Posaune. Sein Lieblingsstück ist "Eleanor Rigby" von den Beatles (eines der "18 Kostbarkeiten" Julios; einer Art persönlicher musikalischer Bestenliste). Und Koloman zeigt ihm Akte und Vernehmungsprotokoll seines letzten Falles, der ungelöst blieb (was gehörig an seinem Ego kratzt).
Von Arndt breitet in drei Phasen dieses Verhörprotokoll als Binnenerzählung aus. Es wird in Form einer Tonbandtranskription (die Fragen der Polizei bleiben ausgespart; man muss sie anhand der Antworten rekapitulieren) die Geschichte einer zufälligen Straßenbekanntschaft zwischen Gregor B. und Anna aus der Sicht Gregors entwickelt. Gregor B. zieht mit Anna, die enorme Mengen Alkohol konsumiert und sich überall und im Laufe des Abends immer stärker verfolgt fühlt in einer wahren Odyssee durch Bars und Restaurants. Irgendwann betreten beide Annas Wohnung (oder das, was man dafür hält). Es kommt zu einem schrecklichen Verbrechen. Gregor wird ebenfalls schwer verletzt. Die Tat kann ihm genauso wenig nachgewiesen werden, wie die Theorie, Gregor habe sich zur Verschleierung seine die Verletzungen selbst zugefügt oder einfach Selbstmord begehen wollen.
Koloman überlässt Julio dieses Verhörprotokoll mit der seltsamen Aussage "Tät dir vielleicht auch mal ganz gut" und er sehe gewisse Ähnlichkeiten zwischen dem Tatzeugen und das nicht nur, weil Gregor ein Deutscher und wegen einer Frau nach Innsbruck gekommen war. Schliesslich hatte bei Julio die Neugier gesiegt und er begann zu lesen. Danach wird zwischen den beiden der Fall nicht mehr angesprochen. Der Wert der scheinbar willkürlich in den Roman eingebrachten Szenerie erschließt sich dem Leser zunächst in der Kontrastierung zur Julio-Geschichte. Koloman demonstriert durch die Übergabe dieses Protokolls seine Freundschaft dem jungen Musiker gegenüber. Für Julio ist die Lektüre nicht nur ein interessanter Einblick in einen fortgeschrittenen Verfolgungswahn, sondern auch (und vielleicht vor allem) der Anfang von dem, was man früher einmal "Seelenbildung" nannte (bevor dieser Begriff von esoterischen Kitschkolumnisten usurpiert wurde).

Koloman, der Mann mit dem manchmal strengen Geruch, der plötzlich neue Schuhe in der Wohnung einläuft, ist krank. Die Symptome werden schlimmer, die Frequenz der Morphiumpflaster nimmt zu und die Tournee rückt in weite Ferne. Aus dem Krankenhaus entlässt er sich selber. Als Koloman…das Wasser endlich zum Herzen gestiegen war, hatte das Gras auf den innerstädtischen Rasenflächen …längst aufgegeben, war grau, hatte sich niedergelegt. […] Die Wespen wurden vor der Zeit böse. Und die Menschen waren es und blieben es.
Julios zwischen dem Gefühl, ein Versager zu sein und dem befreienden Gedanken, den Einschreiben nicht mehr ausgeliefert zu sein. Die Möglichkeit eines "Lebens" spielt sich plötzlich zwischen den Einschreiben ab; ein Leben, das sich mit Sinn erfüllen lässt. Die Briefe werden zu Motivationsschreiben; die Bedrohung hat sich (in Zuversicht?) verwandelt. Und Julio mit Tadzio auf der Strasse hinein ins Verheißungsvolle. Da ist man geneigt von einem Entwicklungsroman zu sprechen, ihn mindestens zu ersehnen.
Beim Hören von James' "Getting away with it" der schönste Satz des Buches, vom Grantler geschrieben, in seiner scheinbaren Nebensächlichkeit doch ins Mark treffend: Gerade habe ich beim Fenster rausgeschaut. Ich glaube, es wird ein guter Tag, obwohl ich ihn überhaupt nicht leiden mag.

Intensität und Ironie
Von Arndt erschafft Bilder von großer Intensität und Schönheit. Um das gelegentlich drohende Pathos zu bannen, ist der Roman (mit Ausnahme der Verhörprotokolle) von einem feinen, kunstvollen Ironiefaden durchzogen. Julios Befindlichkeiten sind bar jeder Larmoyanz; die Figur des Koloman wird in heiterer Gravität erzählt (und ohne billige Klischees was den vermeintlichen österreichischen Provinzialismus angeht). Ein glatter, idyllischer Schluß gibt es in diesem Roman, der fast wie eine oppulente Novelle (die allerdings nicht linear erzählt wird) erscheint, nicht. Vieles bleibt (absichtsvoll) schwebend und man ist verblüfft, wie beim zweiten Lesen plötzlich immer weiter neue Facetten (und neue Intertextualitäten) aufscheinen.
Die jeweilige Stimmung der Protagonisten, die von Arndt durch Setzung von Musik (sei es zufällig aus dem Radio, in der Kneipe oder als aufgelegtes Musikstück) verstärkt (oder auch konterkariert), sind in der "Playlist" (die ominösen "18 Kostbarkeiten") nachvollziehbar. Hier kann man in die Atmosphäre der Protagonisten noch einmal abtauchen; ein Einfall, der tatsächlich verfängt.

Wie schon in ego shooter, der brillanten Erzählung über den Proficomputerspieler Kovács, der Weltverzweifelte und gleichzeitig so Bedürftige, zeigt von Arndt auch hier einen Angehörigen einer Generation, die dem Leben nichts mehr abzuringen brauchte, weil schon alles da war – außer das, was sie am meisten ersehnten: Menschlichkeit, Geborgenheit, Miteinander – und das im Lichte des so vergötterten (und gepflegten) Individualismus, der nur zu gerne mit "Glück" verwechselt wird. "Ah, look at all the lonely people", die erste Zeile von "Eleanor Rigby", auch das Motto des Buches: Wenn die Verheißung zum Fluch geworden ist. Die vorgefundene und vorgegebene Welt ist seelen- und lieblos, ja kalt, wenn man nicht im Konsum oder der vordergründigen Erlebnisbefriedigung die Erfüllung sieht.

Der Ausbruch aus der "selbstverschuldeten" Isolation, die nicht in eine Anpassung an das bestehende münden soll und Kovács vermutlich nicht gelingt, wird für Julio mindestens als Möglichkeit vage angedeutet. So könnte es gehen, wenn sich die immer wieder aufzeigende Resignation zur "köstlichen, unbegreiflichen Demut" (Roberto Bolaño) entwickelt. Und so vermittelt dieses Buch – so ganz ohne Soziologenslang, existentialistische Unterfütterung oder pädagogischem Impetus – als reine Erzählung vor allem eines: Hoffnung. Oder genauer: die Hoffnung auf eine Hoffnung. Lothar Struck  
 

Martin von Arndt
Der Tod ist ein Postmann mit Hut
Roman
Klöpfer & Meyer
2009, 206 Seiten, geb. mit Schutzumschlag
€ [D] 17,90 / [A] 18,40 / sfr 31,50
ISBN 978-3-940086-37-2 7

Die Playlist


 


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